Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2015
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Einführung in den Themenschwerpunkt Dekategorisierung
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Markus Dederich
Seit den 1990er Jahren gibt es eine immer wieder aufflammende Diskussion über die „Dekategorisierung“, die hauptsächlich im Kontext der Inklusionsdebatte geführt wird. Dekategorisierung meint im Kern die Forderung, zukünftig in einer sich inklusiv verstehenden Pädagogik auf bestimmte abstrakt-generalisierende Begrifflichkeiten zu verzichten.
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98 VHN, 84. Jg., S. 98 -99 (2015) DOI 10.2378/ vhn2015.art11d © Ernst Reinhardt Verlag Einführung in den Themenschwerpunkt Dekategorisierung Markus Dederich Universität zu Köln FACH B E ITR AG TH EME NSTR ANG Dekategorisierung Seit den 1990er Jahren gibt es eine immer wieder aufflammende Diskussion über die „Dekategorisierung“, die hauptsächlich im Kontext der Inklusionsdebatte geführt wird. Dekategorisierung meint im Kern die Forderung, zukünftig in einer sich inklusiv verstehenden Pädagogik auf bestimmte abstrakt-generalisierende Begrifflichkeiten zu verzichten. Diese Forderung erstreckt sich nicht nur auf die Kategorie ‚Behinderung‘, sondern auch auf Bezeichnungen wie ‚sonderpädagogischer Förderbedarf ‘. Lässt man den bisherigen Diskurs Revue passieren, zeigt sich, dass die Forderung nach Dekategorisierung im Kern (sozial-)ethisch begründet ist. Kategoriale Bezeichnungen werden kritisiert, weil sie diskriminierend sind, zu Stigmatisierung führen und sich nachteilig auf die kategorisierten Individuen auswirken. Diskriminierung wird hier nicht im ursprünglichen Sinn der deskriptiven Markierung von Differenzen verwendet, sondern im Sinne der negativen Bewertung von Personen aufgrund bestimmter Merkmale oder Eigenschaften, mit der herabwürdigende, benachteiligende oder ausgrenzende Handlungsweisen bzw. institutionalisierte Praktiken verbunden sind. Dieser Aspekt der Kritik der Kategorisierung wird sicherlich auch von den Kritikern der Forderung nach Dekategorisierung geteilt. Kontrovers jedoch sind die Schlussfolgerungen, die aus der Problematisierung der Kategorie ‚Behinderung‘ gezogen werden. In ihrer radikalsten Form münden diese in die Forderung nach einer Selbstauflösung der Sonderpädagogik als eigenständigem disziplinärem und professionellem Subsystem der Pädagogik. Gefordert wird eine nicht-kategoriale allgemeine Pädagogik, die aufgrund einer fundierenden Wertschätzung von Vielfalt alle Menschen individualisierend betrachtet, ohne dabei wertende Unterschiede zu machen. In der Rückschau zeigt sich, dass die Debatte teilweise hitzig und mitunter auch polarisierend geführt wurde, ohne dass substanziell neue Argumente und Gesichtspunkte ins Spiel gebracht worden wären. Dabei ist eine ganze Reihe von Fragen noch ungeklärt. Das sind beispielsweise die folgenden: Wie, wenn überhaupt, ist eine Pädagogik möglich, die Unterschiede wahrnimmt und wertschätzt, ohne dass spezifische und als pädagogisch bedeutsam eingestufte körperliche, sozial-emotionale, sozio-ökonomische, kulturelle und andere Merkmale eines Individuums sprachlich benannt werden? Kann es sich unter wissenschaftlichen und ethischen Gesichtspunkten als notwendig und legitim erweisen, individuelle Problemlagen zu typisieren und folglich verallgemeinernde und gruppenbildende Bezeichnungen zu verwenden? Kann man gesellschaftliche Verhältnisse, die sich für bestimmte Menschen negativ auswirken, kritisch und auf Veränderungsnotwendigkeiten hin analysieren, ohne dabei solche Bezeichnungen zu verwenden? Welche identitätspolitischen Effekte hätte die Dekategorisierung für Menschen in prekären Lebenslagen und marginalisierte Gruppen? VHN 2 | 2015 99 MARKUS DEDERICH Einführung in den Themenschwerpunkt Dekategorisierung FACH B E ITR AG Dies sind einige der Fragen, die die VHN dazu bewogen haben, sich in einem Themenschwerpunkt erneut mit der „Dekategorisierung“ zu befassen. Neben dem ersten Beitrag von Hans Wocken in diesem Heft sind Beiträge von Ursula Stinkes zu ethischen Aspekten der (De-) Kategorisierung, von Andreas Hinz und Andrea Köpfer zu Ideen zu einer nonkategorialen Organisation von Unterstützungssystemen und von Markus Dederich zu einer philosophischen Kritik der Dekategorisierung geplant. Anschrift des Autors Prof. Dr. Markus Dederich Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Department Heilpädagogik und Rehabilitation Frangheimstraße 4 D-50931 Köln Tel. +49 (0) 2 21 4 70 19 65 markus.dederich@uni-koeln.de
