eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 84/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2015
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Dekategorisierung: Eine Einladung zur kategorialen Bescheidenheit

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2015
Hans Wocken
Soziale Kategorien und inklusive Pädagogik stehen in einem spannungsreichen Verhältnis, in zweifacher Hinsicht: Kategorien abstrahieren von allem Individuellen und trennen durch Unterscheidung die Menschen voneinander. Inklusive Pädagogik will dagegen die Personen in ihrer Einmaligkeit berücksichtigen und die Verschiedenen zur Gemeinsamkeit und Solidarität anstiften. Die Abhandlung stellt diesen Konflikt aus sozialpsycho-logischer Sicht dar und gibt Anregungen zur Herstellung von kategorialer Bescheidenheit.
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100 VHN, 84. Jg., S. 100 -112 (2015) DOI 10.2378/ vhn2015.art12d © Ernst Reinhardt Verlag Dekategorisierung: Eine Einladung zur kategorialen Bescheidenheit Sozialpsychologische Grundlagen und inklusionspädagogische Konsequenzen Hans Wocken Universität Hamburg Zusammenfassung: Soziale Kategorien und inklusive Pädagogik stehen in einem spannungsreichen Verhältnis, in zweifacher Hinsicht: Kategorien abstrahieren von allem Individuellen und trennen durch Unterscheidung die Menschen voneinander. Inklusive Pädagogik will dagegen die Personen in ihrer Einmaligkeit berücksichtigen und die Verschiedenen zur Gemeinsamkeit und Solidarität anstiften. Die Abhandlung stellt diesen Konflikt aus sozialpsychologischer Sicht dar und gibt Anregungen zur Herstellung von kategorialer Bescheidenheit. Schlüsselbegriffe: Dekategorisierung, inklusive Pädagogik, Salienz, Differenzierung Decategorization: An Invitation to Categorical Modesty. Social-psychological Basics and the Consequences for the Inclusive Education Summary: Social categories and inclusive education stay, in two respects, in a tense interaction: Categories abstract from individuality and separate people by distinction. Inclusive education, however, intends to consider people in their uniqueness and wants to incite different people to mutual solidarity. The following article presents this conflict from the social-psychological perspective and makes suggestions for establishing categorical modesty. Keywords: Decategorization, inclusive education, salience, differentiation FACH B E ITR AG TH EME NSTR ANG Dekategorisierung 1 Problemstellung Auf dem Schulhof sind zwei Buben, nennen wir sie Mehmet und Erich, in einen heftigen Streit verwickelt. Als die Pausenaufsicht die beiden Streithähne trennt, ruft Erich im Weggehen Mehmet noch einmal nach: „Du bist ja behindert! “ In der folgenden Unterrichtsstunde beschwert sich Mehmet, Erich habe ihn beleidigt und „behindert“ genannt. Der Lehrer tadelt das Verhalten von Erich als eine ungehörige Diskriminierung. Bei der anschließenden Mathematikarbeit erhält Mehmet aufgrund einer ärztlich attestierten Lernschwäche eine zusätzliche Bearbeitungszeit als Nachteilsausgleich. Am Nachmittag wertet der Klassenlehrer voraufgegangene diagnostische Untersuchungen aus und bescheinigt Mehmet schließlich in einem sonderpädagogischen Gutachten eine manifeste „Lernbehinderung“. Mehmet verbleibt trotz der diagnostizierten Behinderung an der allgemeinen Schule und erhält nun zwei Stunden in der Woche sonderpädagogische Förderung. Der konstruierte Fall wirft viele Fragen auf: Dürfen Schulen und Lehrer Schüler „behindert“ nennen, die Schüler aber nicht? Ist das Etikett Behinderung ein beschämendes Stigma oder ein Rechtstitel und damit ein Garant für besondere VHN 2 | 2015 101 HANS WOCKEN Dekategorisierung: Einladung zur kategorialen Bescheidenheit FACH B E ITR AG Privilegien? Diese und ähnliche Fragen werden im wissenschaftlichen Diskurs unter dem Stichwort Dekategorisierung erörtert, und zwar kontrovers. Der folgende Beitrag positioniert sich deutlich pro Dekategorisierung, aber in einer differenzierten und theoretisch fundierten Weise. Zunächst werden im Folgenden die sozialpsychologischen Grundlagen entfaltet, sodann darauf aufbauend theoriebasierte Konsequenzen für eine inklusive Pädagogik aufgezeigt. Abschließend erfolgen Präzisierungen, was aus inklusiver Sicht unter Dekategorisierung zu verstehen ist und was nicht 1 . 2 Sozialpsychologische Grundlagen Die Forderung der Dekategorisierung wurde im wissenschaftlichen Diskurs bislang vornehmlich mit der Vermeidung von Stigmatisierungen begründet (Wocken 1996 b). Die theoretische Fundierung der Dekategorisierung durch die Stigmatheorie ist unvermindert valide, sie wird weiterhin bekräftigt, aber hier nicht erneut aufgegriffen und entfaltet. Stattdessen soll das Projekt einer Dekategorisierung in dieser Abhandlung sozialpsychologisch untermauert werden. Die Begriffe Kategorisieren, Stereotype und Diskriminierung sind ureigene Forschungsgegenstände der Sozialpsychologie, deshalb ist es auch ratsam, die einschlägige Fachwissenschaft zu Rate zu ziehen (Frey/ Irle 2002; Förster 2008; Petersen/ Six 2008). 2.1 Die Theorie des realistischen Gruppenkonflikts: Das Interdependenztheorem Die Sozialpsychologie geht von der Grundannahme aus, dass das Verhalten zwischen sozialen Gruppen weniger von psychologischen Merkmalen der einzelnen Personen abhängt, sondern vorrangig durch die strukturellen Eigenschaften von Gruppensituationen bedingt ist. Am Beginn der Erforschung von Intergruppenprozessen stehen die berühmten und bahnbrechenden Ferienlagerexperimente des türkischen Sozialpsychologen Muzaffer Sherif (vgl. Mummendey/ Otten 2002; Kessler/ Mummendey 2007). Anfang der 50er Jahre luden Sherif und seine Mitarbeiter 11bis 14-jährige Jugendliche der weißen Mittelschicht zu Sommerlagern ein. Das Experiment verlief jeweils in drei Phasen: 1. Phase „Gruppenbildung“: Die 20 bis 24 Teilnehmer eines Ferienlagers, die sich vorher nicht kannten, wurden zu Beginn zufällig in zwei gleich große Gruppen eingeteilt. Die Vergleichbarkeit der Gruppen wurde anhand verschiedener Merkmale (Religion, Schulnoten, Intelligenz, Einkommensstatus der Eltern) nochmals überprüft und bestätigt. Die Gruppen waren in voneinander getrennten Zelten untergebracht und hatten in den ersten Tagen keinerlei Kontakt miteinander; sie unternahmen getrennt voneinander Ausflüge und bearbeiteten in den Gruppen gemeinsame Aufgaben wie die Zubereitung von Mahlzeiten oder das Anlegen einer Badestelle. Infolge dieser Aktivitäten entstanden in beiden Gruppen in kurzer Zeit typische Gruppenstrukturen mit eigenen Normen, Ritualen und Rollenverteilungen. Beide Gruppen entwickelten jeweils ein Wir-Gefühl. Die neuen Gruppenidentitäten wurden auch durch Symbole (Wimpel, Trikots u. Ä.) und eigene Gruppennamen wie „Adler“ und „Klapperschlangen“ öffentlich gemacht. 2. Phase „Gruppenkonkurrenz“: In der zweiten Phase wurden Turniere veranstaltet, in denen die beiden Gruppen gegeneinander antraten. Die Sieger wurden mit attraktiven Preisen belohnt, die Verlierer gingen leer aus. Infolge der mehrtägigen Wettkämpfe brachen offene Feindseligkeiten zwischen den Gruppen aus. Die Gruppen beschimpften sich, reagierten misstrauisch und aggressiv aufeinander, mieden möglichst Kontakte miteinander und verbrannten die gegnerischen Flaggen; ja, es kam VHN 2 | 2015 102 HANS WOCKEN Dekategorisierung: Einladung zur kategorialen Bescheidenheit FACH B E ITR AG sogar zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern der zwei Gruppen. 3. Phase „Gruppenkooperation“: In der dritten Phase ging es darum, ob das feindselige Verhalten zwischen den Gruppen wieder aufgehoben und in freundliche Intergruppenbeziehungen verwandelt werden könnte. Zunächst schauten sich beide Gruppen gemeinsam Filme an oder trafen sich zu gemeinsamen Mahlzeiten. Diese gemeinsamen Aktivitäten blieben erfolglos, sie bauten weder die abgrenzenden Vorurteile noch die Feindseligkeiten zwischen den Gruppen ab. Sodann wurden beide Gruppen mit Problemen konfrontiert, deren Bewältigung im Interesse beider Gruppen lag und nur von beiden gemeinsam erreicht werden konnte. So blieb zum Beispiel ein Lkw, der regelmäßig die Lebensmittel zu dem Feriencamp transportierte, auf dem Zufahrtsweg im Schlamm stecken. Nur durch den gebündelten Einsatz aller Kräfte von beiden Gruppen war es möglich, „die Karre wieder aus dem Dreck zu ziehen“ und die Lebensmittelversorgung sicherzustellen. Der wiederholte Einsatz übergeordneter Ziele und Aufgaben, die nur gemeinsam erfolgreich bewältigt werden konnten, führte schließlich zu einer Reduktion des Gruppenkonflikts. Die offenen Feindseligkeiten verschwanden, es zeigten sich sogar Tendenzen zur Bildung von Freundschaften und Solidarität über die Gruppengrenzen hinweg. Aufbauend auf den Erfahrungen aus den Feriencamps entwickelte Sherif seine „Theorie des realistischen Gruppenkonflikts“. Die grundlegende Annahme dieser Theorie besagt, dass Intergruppeneinstellungen und -verhalten nicht durch individuelle Persönlichkeitsmerkmale der Gruppenmitglieder zu erklären sind, sondern dass es vor allem die Art der Beziehungsstrukturen und Interaktionsprozesse ist, die das Verhalten ihrer Mitglieder beeinflusst. Eine erste wichtige Erkenntnis aus den Feriencampexperimenten soll als „Interdependenztheorem“ formuliert werden. Das Theorem der Interdependenz. Die Art der Beziehungen zwischen Gruppen wird dadurch bestimmt, wie die Gruppen voneinander abhängig sind. Es gibt zwei Formen von Interdependenzverhältnissen. Eine negative Interdependenz liegt immer dann vor, wenn die Gruppen in einem Wettbewerbs- oder Konkurrenzverhältnis zueinander stehen. Aus einem Wettbewerb zwischen Gruppen kann die eine Gruppe nur dann einen Vorteil für sich erreichen, wenn gleichzeitig die andere Gruppe einen Nachteil hinnehmen muss. Der Sieg einer Gruppe geht auf Kosten der Niederlage der anderen Gruppe, es gibt keine Gewinner ohne komplementär dazu Verlierer. Wettbewerb erzeugt Feindschaft zwischen den Gruppen und verstärkt Freundschaft in den Gruppen. Unter der negativen Interdependenzbedingung nehmen die Kohäsion und die Solidarität innerhalb der Gruppen zu, die Vorurteile und negativen Einstellungen zwischen den Gruppen potenzieren sich dagegen. Die wahrgenommene Konkurrenz schweißt die Eigengruppe stärker zusammen und die Identifikation mit ihr nimmt zu; gleichzeitig wächst die Distanz zur Fremdgruppe. Eine positive Interdependenz liegt vor, wenn keine der beiden Gruppen ein Ziel alleine erreichen kann, sondern beide Gruppen ein gemeinsames Ziel verfolgen und durch kooperative Anstrengungen anstreben. Bei positiver Interdependenz werden die Vorurteile und Diskriminierungen zwischen den Gruppen geringer und weichen harmonischen Intergruppenbeziehungen. Die weitreichende pädagogische Relevanz des Interdependenztheorems liegt auf der Hand: Kooperation mindert soziale Distanz und soziale Konflikte, Konkurrenz fördert soziale Distanz und soziale Konflikte. Ein recht gutes Beispiel für die verschiedenen Interdependenzbeziehungen liefert die Politik. Eine Regierungskoalition besteht aus verschiedenen, konkurrierenden Parteien. Will die Ko- VHN 2 | 2015 103 HANS WOCKEN Dekategorisierung: Einladung zur kategorialen Bescheidenheit FACH B E ITR AG alition eine gute Regierungsarbeit abliefern, sind beide Parteien gehalten, manche programmatischen Unterschiede zurückzustellen, gemeinsame Ziele zu vereinbaren und während längerer Zeit an einem Strick zu ziehen; ohne Zusammenraufen und Zusammenarbeit ist kein Erfolg zu haben (positive Interdependenz: Kooperation). Wenn am Ende einer Legislaturperiode sich dann der nächste Wahlkampf ankündigt, geht die Produktivität der Regierungstätigkeit merklich dem Ende entgegen und der Koalitionsfriede steht auf der Kippe. Aus den Koalitionären werden wieder Konkurrenten, die in heißen Wahlschlachten sich um die Gunst der Wähler streiten und den Gegner mit harten Bandagen attackieren. Der Wahlkampf spaltet Parteien und Wahlvolk in feindliche „Lager“. Ein Wahlsieg der einen Partei bedeutet zugleich eine Wahlniederlage der anderen Partei (negative Interdependenz: Konkurrenz). 2.2 Die Theorie der sozialen Identität: Der Ingroup-Outgroup-Bias Die Ergebnisse der Ferienlagerexperimente wurden von zahlreichen Studien repliziert, sodass von einem sehr stabilen Befund ausgegangen werden kann. Der polnische Sozialpsychologe Henri Tajfel (vgl. Frey/ Irle 2002; Petersen/ Six 2008) hat die „Theorie des realistischen Gruppenkonflikts“ aufgegriffen und wesentlich ausdifferenziert. Seine „Theorie der sozialen Identität“ wird als der wichtigste Beitrag der europäischen Sozialpsychologie zum Fachgebiet angesehen. Tajfel und Mitarbeiter untersuchten die Frage, ob der Wettstreit um knappe Güter eine notwendige Bedingung für Intergruppenkonflikte ist, mit dem „Minimal Group Paradigma“. Die Versuchsteilnehmer wurden völlig willkürlich, etwa per Los, einer der beiden Gruppen zugeordnet. Die Versuchspersonen kannten weder die Mitglieder der eigenen Gruppe noch die der fremden Gruppe persönlich. Im Experiment wurden die Versuchspersonen gebeten, Geldbeträge an eine unbekannte Person aus der eigenen Gruppe und an eine unbekannte Person aus der anderen Gruppe aufzuteilen. Die Versuchspersonen kannten von den Geldempfängern aus beiden Gruppen nichts außer ihre Gruppenzugehörigkeit. Die Gruppe existierte nur im Kopf der Teilnehmer, daher die Bezeichnung des Untersuchungsdesigns als „minimale Gruppe“. Die Ergebnisse ließen zunächst eine gewisse Fairness bei der Verteilung der Gelder erkennen; das gesamte zu verteilende Geld wurde niemals einseitig verteilt und nur den Mitgliedern einer Gruppe gegeben. Gleichwohl neigten die Versuchspersonen dazu, den Personen aus der eigenen Gruppe systematisch einen höheren Geldbetrag zuzuweisen. Über die deutliche Eigengruppenpräferenz hinaus war ferner erstaunlich, dass es den Versuchspersonen sehr wichtig war, durch die Aufteilung der Gelder eine maximale Differenz zwischen den Gruppen zu erzielen und dadurch die Eigengruppe deutlich von der Fremdgruppe positiv abzuheben. Die Ergebnisse dieses Minimal-Group-Experiments wurden weltweit in zahlreichen Untersuchungen bestätigt. Die wichtigste Erkenntnis ist diese: Ein Wettstreit um knappe Güter ist keine notwendige Bedingung für die Entstehung von Intergruppenkonflikten, wie die „Theorie des realistischen Gruppenkonflikts“ noch annahm. Allein die kategoriale Zuweisung in verschiedene Gruppen kann eine systematische Abwertung von Fremdgruppen und diskriminierendes Verhalten ihnen gegenüber auslösen - für das anstehende Dekategorisierungsproblem ein höchst bedeutsamer Befund. Die Erkenntnisse aus den experimentellen Untersuchungen zum Minimal-Gruppen-Paradigma sollen in einem weiteren sozialpsychologischen „Gesetz“ gebündelt werden. Der Ingroup-Outgroup-Bias: Sobald Menschen kategorial in verschiedene Gruppen aufgeteilt werden, entwickeln sie ein Zugehörig- VHN 2 | 2015 104 HANS WOCKEN Dekategorisierung: Einladung zur kategorialen Bescheidenheit FACH B E ITR AG keitsgefühl zur eigenen Gruppe; in allen Gruppen entsteht ein „Wir-Gefühl“. Parallel zum Aufbau einer eigenen Gruppenidentität entwickelt sich ein „Ihr-Gefühl“, das die eigene Gruppe von anderen Gruppen emotional abgrenzt. Die Gruppenmitglieder identifizieren sich jeweils mit den grundlegenden Normen, Meinungen und Einstellungen der eigenen Gruppe und verhalten sich nach innen und nach außen solidarisch. Die eigene Gruppe wird mit guten Eigenschaften ausgestattet und tendenziell positiv überschätzt. Bei dem Vergleich mit den „anderen“ werden der Fremdgruppe tendenziell weniger vorteilhafte Eigenschaften zugeschrieben. Die soziale Wahrnehmung unterliegt fortan einer grundlegenden Verzerrung, einem Bias: Die Ähnlichkeiten innerhalb von Kategorien werden ebenso hervorgehoben wie die Unterschiede zwischen Kategorien. „Wir“ sind recht ähnlich und alle gut, „die anderen“ sind ganz anders als wir und auch weniger wertvoll. Der als Folge sozialer Kategorisierung auftretende Bias wird also auf vier Ebenen wirksam: 1. Perzeption: Die Unterschiede zwischen Mitgliedern derselben Kategorie werden minimiert, die Unterschiede zwischen den Gruppen werden maximiert. Die Akzentuierung der Ähnlichkeiten in der Eigengruppe sowie gleichzeitig der Unterschiede zur Fremdgruppe stellt eine Verzerrung der sozialen Wahrnehmung dar. 2. Kognition: Das Gedächtnis verfährt selektiv und speichert unter der sozialen Kategorie vorwiegend kategorienkonforme Informationen ab. Über die Eigengruppe werden positive Informationen gesammelt und über die Fremdgruppe eher negative Informationen. Die Kategorisierung erzeugt Stereotype. Alle Vorstellungen von uns und den anderen werden im Gedächtnis als soziale Stereotype gespeichert, die fortan unser Erleben, unsere Erwartungen, unsere Wahrnehmungen und unser Verhalten leiten. 3. Emotionen: Die Eigengruppe wird emotional mit positiven Affekten und Einstellungen besetzt, der Fremdgruppe werden kontrastierend negative Gefühle und distanzierende Einstellungen entgegengebracht. 4. Verhalten: Die Eigengruppenpräferenz äußert sich auch im Sozialverhalten, die Mitglieder der Eigengruppe dürfen Hilfsbereitschaft erwarten, die der Fremdgruppe eher nicht. Wenn die Stereotype sich mit Emotionen paaren und als Vorurteile etablieren, ist die Grundlage für feindseliges und diskriminierendes Verhalten gelegt. Die Theorie der sozialen Identität von Tajfel und Tuner (vgl. Petersen 2008; Wenzel/ Waldzus 2008) sei mit der gebotenen Knappheit skizziert. Menschen haben ein grundlegendes Bedürfnis nach einem positiven Selbstkonzept, das sich aus den beiden Komponenten persönliche Identität („ich bin ich“; Summe persönlicher Fähigkeiten und Eigenschaften) und soziale Identität („ich gehöre zu dieser Gruppe“; Summe der Werte und Eigenschaften aller Gruppen, denen eine Person angehört) zusammensetzt. Die soziale Identität resultiert daraus, welchen sozialen Gruppen die Menschen angehören, welchen Status und welches Image diese sozialen Gruppen haben und welche persönliche Bedeutung der Mitgliedschaft beigemessen wird. Die Bewertung einer Gruppenmitgliedschaft ergibt sich aus dem sozialen Vergleich der Eigengruppe mit anderen relevanten Gruppen. „Das Bedürfnis nach einer positiven sozialen Identität wird befriedigt, wenn das Ergebnis eines sozialen Vergleichs eindeutig zugunsten der Eigengruppe ausfällt und sich die Eigengruppe beim Vergleich positiv von den Fremdgruppen abhebt.“ (Kessler/ Mummendey 2007, 501) Die Aufwertung der Eigengruppe und die diskriminierende Abwertung der Fremdgruppe sind somit ein Mittel, eine Überlegenheit und „positive Distinktheit“ der Eigengruppe zu erreichen und damit das Bedürfnis nach einer positiven sozialen Identität zu befriedigen. VHN 2 | 2015 105 HANS WOCKEN Dekategorisierung: Einladung zur kategorialen Bescheidenheit FACH B E ITR AG Ein Beispiel: Nach der Papstwahl 2005 titelte die BILD-Zeitung: „Wir sind Papst! “ Weil der höchste Repräsentant einer angesehenen Gruppe „einer von uns“ ist, gehören die ganze Nation und wir alle zur Gewinnergruppe, und das stabilisiert unser labiles Ego und wertet unser kränkelndes Selbst auf. Wir baden gleichsam im Ruhme eines Gruppenmitglieds und sonnen uns in seinem Glanz. Wenn andererseits „unser“ geliebter Fußballverein sich als der große Loser entpuppt und zum Gespött der Nation geworden ist, dann holen wir die Vereinsfahne vom Balkon und verstecken alles, was an die Mitgliedschaft erinnert und uns verraten könnte: „Wir gehören nicht dazu! “ Das Vereins-T-Shirt holen wir erst wieder hervor, wenn der Verein aufgestiegen ist und wir uns mit dem T-Shirt sehen lassen können. 2.3 Die Selbstkategorisierungstheorie: Die Salienz sozialer Kategorien Die „Theorie der Selbstkategorisierung“ bildet zusammen mit der „Theorie der sozialen Identität“ den sogenannten „social identity approach“ (Wenzel/ Waldzus 2008). Aus der komplexen Theorie wird hier nur ein Aspekt ausgewählt, der für das anstehende Dekategorisierungsproblem von Bedeutung ist, nämlich das Konstrukt der Salienz (Blanz 1999). Wenn wir einer fremden Person begegnen, könnten wir diese Person nach vielfältigen Merkmalen kategorisieren: Geschlecht, Alter, Kleidung, Rasse, Gewicht. Das Konstrukt behandelt nun die Frage, welches von vielen möglichen Merkmalen für eine Kategorisierung ausgewählt wird. Salient bedeutet: auffallend, hervorstechend, ins Auge springend. Wenn bei der sozialen Wahrnehmung ein bestimmtes Merkmal im Vordergrund steht und in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt, dann ist dieses Merkmal salient. Die Theorie der Selbstkategorisierung geht von der Hypothese aus, dass die soziale Kategorisierung in Eigengruppe versus Fremdgruppe von zwei Salienz-Bedingungen bestimmt wird: Erstens von der kognitiven Zugänglichkeit (Akzessibilität) der sozialen Kategorie für die wahrnehmende Person und zweitens von der Passung (Fit) zwischen den Eigenschaften der wahrgenommenen Person und den Charakteristika des sozialen Stereotyps. Für die Dekategorisierungsfrage ist besonders die Zugänglichkeit einer sozialen Kategorie von Relevanz. Es gibt Personenmerkmale, die man kaum übersehen kann und die sich der sozialen Wahrnehmung förmlich aufdrängen. Zu den hochsalienten Kategorien gehören insbesondere Geschlecht und Rasse. Beispiele für niedrigsaliente Kategorien sind etwa Homosexualität oder Analphabetismus. Es ist eher unwahrscheinlich, dass Homosexuelle leicht identifiziert und damit als solche kategorisiert werden können. Nur dann, wenn sie sich öffentlich outen, ist das Merkmal zugänglich und damit hochsalient. Tabelle 1 enthält einige subjektive Einschätzungen des Verfassers von ausgewählten Beeinträchtigungen und Behinderungen. Ob Menschen mit Beeinträchtigungen und Störungen Hohe Salienz Mittlere Salienz Niedrige Salienz Körperbehinderungen Gehörlose mit Gebärden Blinde mit Armbinde und Langstock Autismus Stottern Analphabetismus Lernbehinderungen Verhaltensstörungen Dyskalkulie ADHS Tab. 1 Einschätzung der Salienz von Beeinträchtigungen und Störungen VHN 2 | 2015 106 HANS WOCKEN Dekategorisierung: Einladung zur kategorialen Bescheidenheit FACH B E ITR AG auffallen und damit die Kategorie Behinderung salient wird, hängt wesentlich mit der Wahrnehmbarkeit der Störungen durch unsere Sinne zusammen. Lernstörungen etwa kann man genauso wenig mit dem bloßen Auge erkennen wie eine ADHS. Ein Stotterer fällt nur dann auf, wenn er spricht und wir es hören können. Ein Rollstuhlfahrer hat kaum eine Chance, seine Körperbehinderung zu verbergen. Menschen mit Sehschädigungen werden erst dann eindeutig identifizierbar, wenn sie sich mit dem Langstock einen Weg ertasten oder wenn sie sich explizit mit einer Blindenbinde ausweisen. Menschen mit Hörschädigungen, die zu einer lautsprachlichen Kommunikation fähig sind und keine Gebärden benutzen, bleiben zumeist unerkannt und werden aufgrund der niedrigen Salienz folglich nicht spontan in die Kategorie „hörbehindert“ eingeordnet. Wenn man das Anderssein nicht sehen, hören, riechen, schmecken oder fühlen kann, ist es empirisch nicht evident und nicht zugänglich. Das Konstrukt Salienz ist von außerordentlicher Bedeutung für die Dekategorisierungsfrage. Zwischen der Salienz einer Beeinträchtigung und der Möglichkeit einer Dekategorisierung besteht ein linearer Bedingungszusammenhang. Je niedriger die Salienz einer Beeinträchtigung ist, desto größer sind die Chancen einer Dekategorisierung. In dem Maße, in dem die Salienz einer Störungskategorie ansteigt, schwinden auch die Möglichkeiten einer Dekategorisierung. Hochsaliente Störungskategorien liegen offen zutage, sind umstandslos zugänglich und widersetzen sich jeglichem Versuch einer Dekategorisierung. Wer in hochsalienten Fällen auf Dekategorisierung pocht, setzt sich einem verständnislosen Kopfschütteln aus. Wir machen uns einfach lächerlich, wenn wir uns aus Gründen der political correctness zieren, einen Rollstuhlfahrer auch „körperbehindert“ zu nennen. Wir machen uns lächerlich, wenn wir Menschen in Gebärdensprache kommunizieren sehen, uns aber krampfhaft die soziale Kategorisierung „Gehörlose“ verkneifen. In den USA wird die Weigerung, farbige Menschen auch Rassen zuzuordnen, als colour-blindness bespöttelt. Erheblich anders liegen die Dinge bei niedrigsalienten Beeinträchtigungen. Wie hinlänglich begründet, führt die soziale Kategorie „Behinderung“ zur Unterscheidung und Abgrenzung der „Behinderten“ von den „Normalen“ und macht damit den Weg frei für Vorurteile und diskriminierendes Verhalten. Die kompromisslose Forderung einer Kategorisierung aller Störungen und Behinderungen muss dieses Risiko einkalkulieren und ist in der Pflicht, die pädagogische Notwendigkeit einer Kategorisierung stichhaltig zu begründen und darzulegen, dass der pädagogische Nutzen die möglichen negativen Folgen bei Weitem übersteigt. Ein völliger Verzicht auf Kategorien, die von Kritikern angesonnene „totale“ Dekategorisierung, ist aus zweierlei Gründen nicht möglich. Erstens aus Gründen einer rationalen, gerechten und legitimierten Verteilung von Ressourcen. Viele sogenannte positive Diskriminierungen (Persönliches Budget, Nachteilsausgleich, Förderstunden) sind unauflöslich an eine amtliche Diagnose von Behinderungen gebunden. Aber selbst dann, wenn es dieses sog. Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma nicht gäbe, wären die Freiheitsgrade für Dekategorisierungen keineswegs grenzenlos, sondern unüberwindbar durch die Salienzstärke einer sozialen Kategorie definiert. Die niedrigsalienten Störungskategorien eröffnen der inklusiven Pädagogik Freiräume für einen Etikettierungsverzicht, die hochsalienten Störungskategorien setzen zugleich deutliche und unüberschreitbare Grenzen. Dekategorisierung heißt nicht Nonkategorisierung! Eine „totale“ Dekategorisierung ist weder erkenntnistheoretisch noch sozialpsychologisch möglich und machbar. Die Unterstellung der Dekategorisierungskritik, es ginge bei VHN 2 | 2015 107 HANS WOCKEN Dekategorisierung: Einladung zur kategorialen Bescheidenheit FACH B E ITR AG der Dekategorisierung um „Unsichtbarmachung“ von Behinderungen und um „Begriffsentsorgung“ (Ahrbeck 2011; Geyer 2014) ist ein künstlicher Popanz, den es real gar nicht geben kann. Die Interpretation von Dekategorisierung als Kategorienblindheit oder soziales Versteckspiel beruht auf einem sozialpsychologisch uninformierten Missverständnis. 3 Vorschläge zur kategorialen Abrüstung Soziale Kategorien sind ohne alle Frage nützlich und unentbehrlich, zugleich sind sie aber mit ungewollten Nebenwirkungen verknüpft. Sie ebnen über Stereotypen- und Vorurteilsbildung auch den Weg für Diskriminierungen. Schon die bloße Kategorisierung ist gemäß der Theorie der sozialen Identität eine hinreichende Bedingung für kompetitives und diskriminierendes Intergruppenverhalten. Die Kategorien machen die Unterschiede. Aus Unterschieden werden Abgrenzungen, aus Abgrenzungen dann Abwertungen, aus Abwertungen werden Gegensätze und aus Gegensätzen schließlich Feindschaften. Was kann und soll eine inklusive Pädagogik unternehmen, um diese ungewollten negativen Nebenwirkungen sozialer Kategorisierung wenigstens abzumildern und einzugrenzen (Otten/ Matschke 2008; Mummendey/ Otten 2002)? 3.1 Dialektik von Kategorisierung und Personalisierung Die Behindertenpädagogik verfügt über ein hoch differenziertes Begriffssystem, das verschiedene Förderschwerpunkte kategorial unterscheidet. Das Erfordernis einer kategorial organisierten Behindertenpädagogik wird unter anderem damit begründet, dass nur ein ausdifferenziertes behinderungsspezifisches Kategoriensystem auch in Theorie und Praxis angemessene Antworten auf höchst unterschiedliche Ausgangs- und Bedarfslagen der Klientelen geben kann. Kategoriale Differenzierungen gelten als notwendig und hilfreich, um „passgenaue Interventionen für einen im hohen Maße individualisierten Unterricht theoretisch zu fundieren“ (Dederich 2014, 52f ). Das Ansinnen der Dekategorisierung sieht sich dementsprechend mit dem harschen Vorwurf einer pädagogischen Vernachlässigung und Missachtung besonderer Förderbedürfnisse konfrontiert: „Wenn Behinderung durch Begriffsentsorgung unsichtbar gemacht wird, bleiben behinderte Kinder mit ihren speziellen Bedürfnissen auf der Strecke. Die Qualität der pädagogischen Arbeit sinkt.“ (Ahrbeck 2011) Im Folgenden soll durch ein dialektisches Modell deutlich werden, dass Kategorisierung durchaus eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für eine „passgenaue“ Pädagogik ist, sondern um den komplementären Aspekt der Personalisierung ergänzt werden muss. Zur Darstellung des dialektischen Modells wird wiederum die Methode des Wertequadrats genutzt (Wocken 2013). Ein anschauliches Beispiel mag in die pädagogische Aufgabenstellung einführen. Eine Grundschullehrerin hat in ihrer recht heterogenen Lerngruppe auch ein autistisches Kind. Ein Kind mit Autismus braucht fraglos mannigfache besondere und andere Maßnahmen als die meisten Kinder in der Klasse. Die Lehrerin, die keinerlei Kenntnisse über Autismus hat, könnte nun versuchen, das autistische Kind in vielfältigen Lebens- und Lernsituationen persönlich kennenzulernen, um ihr pädagogisches Handeln entsprechend zu individualisieren und anzupassen. Ein solches Vorgehen, das ohne kategoriale Vorgaben auszukommen sucht, wäre nicht allein recht aufwendig, sondern auch riskant fehleranfällig und erfolgsunsicher. Erheblich ökonomischer und sicherlich auch optimaler wäre es, wenn die Lehrerin sich durch das Studium eines Fachbuches oder den Besuch einer einschlägigen VHN 2 | 2015 108 HANS WOCKEN Dekategorisierung: Einladung zur kategorialen Bescheidenheit FACH B E ITR AG Fortbildung ein hinlängliches Orientierungs- und Handlungswissen erwirbt und solchermaßen vorinformiert dann offen auf das Kind zugeht. Das bedeutet: Kategoriale pädagogische Konzepte sind arbeitserleichternd, nützlich und hilfreich; nicht zuletzt können sie manche Umwege und Irrwege verhindern und die Qualität der pädagogischen Arbeit absichern. Aber kategoriale Konzepte sind nicht schon die „passgenaue“ Individualisierung selbst, sondern lediglich ein brauchbarer Startpunkt und eine allgemeine Vorlage. Kategoriale pädagogische Konzepte sind gleichsam pädagogische Hypothesen, die erste Wegweisungen und Orientierungen geben, aber im Angesicht konkreter Kinder überprüft und an sie adaptiert werden müssen. Behinderungskategorien führen keineswegs per se und automatisch schon zu einer Individualisierung des diagnostischen und pädagogischen Handelns, sondern genau im Gegenteil zu einer deindividualisierenden Typisierung und Pauschalisierung. Jegliche Kategorisierung ist immer auch mit einer Depersonalisierung oder Deindividualisierung verbunden. Kategorien abstrahieren von individuellen Besonderheiten und heben nur die gemeinsamen, verallgemeinerbaren Merkmale hervor. Abstraktion und Generalisierung - das ist die Funktion und die Leistung aller Kategorien, also genau das Gegenteil einer individuellen Wahrnehmung. Bei kategorisierten Menschen verschwindet die ureigene Individualität hinter zugeschriebenen Merkmalen der Kategorie. „Man“ ist Angehöriger dieser Gruppe, ist Mitglied einer bekannten Kaste, fällt in eine bestimmte Schublade, wird einer bestimmten „Sorte Mensch“ zugerechnet. Kategorien interessieren sich nicht für den einzelnen Fall, den je einzigartigen Menschen. Kategorien behaupten vielmehr eine relative Gleichheit innerhalb einer sozialen Gruppe. Wegen dieser Homogenitätsannahme liefern Kategorien gleichsam eine Steilvorlage für eine stereotype Unterrichtung, die alle Kinder über einen Kamm schert, für ein frontales Lernen im gleichen Schritt und Tritt, für homogene Lerngruppen und auch für ein „begabungsgerechtes“, gegliedertes Schulwesen. Kurzum: Pädagogik, die lediglich auf Kategorien fußt, ist eine unspezifische Breitband-Behandlung. Eine individualisierende Pädagogik muss dagegen die kategoriale Schublade transzendieren, sich auf den Weg zu dem je einzelnen Schüler machen und mit ihm einen persönlichen Dialog führen. Erst wenn Schüler die Maske der Kategorie ablegen dürfen, zeigen sie ihr wahres Antlitz als ein einzigartiges Individuum. Kategorisierung bedarf daher einer Ergänzung, die in dem dialektischen Modell als Personalisierung oder Individuierung bezeichnet ist. Personalisierung bedeutet laut Duden „auf eine einzelne Person ausrichten“. Das meint: Die Kategorie wird aufgeweicht, dekonturiert, individuell eingefärbt, bekommt eine persönliche Note. So wie Kategorisierung in extremer Form in Gleichschaltung und Gleichmacherei der Schüler ausarten kann, so kann allerdings auch Personalisierung übertrieben werden. Eine extreme Individualisierung würde die sozialen Bedürfnisse der Schüler missachten, die Einführung in eine gemeinsame Kultur Kategorisierung Personalisierung Nonpersonalisierung Nonkategorisierung = UND = Balance = ZUVIEL = Übertreibung = GEGENEINANDER = Konflikt Abb. 1 Dialektisches Modell von Kategorisierung und Personalisierung VHN 2 | 2015 109 HANS WOCKEN Dekategorisierung: Einladung zur kategorialen Bescheidenheit FACH B E ITR AG unterlaufen, die stetige Pflege gemeinsamer Lernsituationen vernachlässigen und zu einer Atomisierung der Klasse und völligen Vereinzelung der Kinder führen. Kategorisierung und Personalisierung gehören also unverbrüchlich zusammen. Nur dann, wenn Kategorisierung und Personalisierung in einer wechselseitigen Austauschbeziehung stehen und in ein ausbalanciertes Verhältnis gebracht werden, ist wirklich eine „passgenaue“ Pädagogik zu erwarten, die jedem individuellen Kind gerecht wird. Pädagogisches Denken und Handeln muss sich unentwegt zwischen gruppenbezogenen Kategorien und fallbezogenen Dekonstruktionen hin und her bewegen und in einem kontinuierlichen Prozess zwischen komplexitätsreduzierenden Kategorien und rekategorisierenden Individuierungen „oszillieren“ (Dederich 2014, 52). Aus dem Modell lässt sich eine allgemeine Handlungsempfehlung ableiten: Behandle einen Schüler nicht als Vertreter einer sozialen Kategorie oder Behinderungskategorie („Typ“), sondern als einzigartige Person. 3.2 Kontakte zwischen sozialen Gruppen Intergruppenkonflikte und soziale Diskriminierung basieren immer auf der Einteilung in „Wir“ (Eigengruppe) und „Ihr“ (Fremdgruppe). Eine notwendige Bedingung für Intergruppenkonflikte ist eine vorausgehende soziale Kategorisierung nach einem salienten Merkmal, das eine Feststellung von Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen Gruppen erlaubt und dann zum Ausgangspunkt für Gleich- und Ungleichbehandlung wird. Der social identity approach hat verschiedene Interventionsstrategien für die Prävention und Reduzierung von sozialer Diskriminierung entwickelt: Dekategorisierung, Rekategorisierung und das Modell der wechselseitigen Differenzierung. Das gemeinsame Merkmal der drei Strategien besteht darin, die Salienz der gruppenbildenden Kategorie zu minimieren. Durch eine Schwächung der Salienz wird eine soziale Kategorisierung in Eigen- und Fremdgruppe erschwert und damit der Diskriminierung die Basis entzogen (Otten/ Matschke 2008). 3.2.1 Dekategorisierung Dekategorisierung im sozialpsychologischen Verständnis bedeutet eine „Verringerung der Salienz von Eigengruppe und Fremdgruppe, um interpersonellen Kontakt herzustellen“ (Kessler/ Mummendey 2007, 523). Dekategoriale Interventionen versuchen, interpersonelle Kontakte und intensive persönliche Begegnungen zwischen den Mitgliedern beider Gruppen anzuregen. Die Menschen sollen sich als Individuen im Sinne der persönlichen Identität begegnen und nicht als Gruppenmitglieder im Sinne ihrer sozialen Identität. Der dekategorisierte Kontakt baut Stereotype und Vorurteile ab, weil die Mitglieder der ehemaligen Fremdgruppe nun differenzierter wahrgenommen werden und die Gruppenmitgliedschaft weniger relevant ist. Intensive und nachhaltige dekategoriale Interaktionen lassen sich nur in inklusiven Settings realisieren. Im Klassenzimmer sollte weitestmöglich auf kategoriale Gruppennamen („Inklusionskinder“ und „Regelkinder“) verzichtet werden; selbstredend verbietet sich auch eine kategoriale Sitzordnung, bei der die behinderten Kinder sich regelhaft an einem Gruppentisch zusammenfinden. 3.2.2 Rekategorisierung Auch die Rekategorisierungsstrategie ist bemüht, die Salienz der kategorialen Einteilung in Eigen- und Fremdgruppe zu mindern oder aufzuheben. Die problematische Unterscheidung zwischen den beiden Gruppen wird nun durch eine Neukategorisierung auf einer übergeordneten Begriffsebene ersetzt. Eine gemeinsame Kategorisierung als „Deutsche“ lässt die diskri- VHN 2 | 2015 110 HANS WOCKEN Dekategorisierung: Einladung zur kategorialen Bescheidenheit FACH B E ITR AG minierende Differenzierung in „Ossis“ und „Wessis“ in den Hintergrund treten und damit weniger salient werden. Rekategorisierung vermindert also die Relevanz der trennenden Kategorie und erhöht die Salienz einer gemeinsamen Eigengruppe, mit der sich beide Gruppen identifizieren können. Wenn die Fußballnationalmannschaft spielt, dann verlieren die bisherigen Vereinszugehörigkeiten ihre Bedeutung. Die Fans gegnerischer Fußballvereine zelebrieren sich in einem Meer von Schwarz-Rot-Gold nun als eine gemeinsame Entität „Wir“ und liegen sich bei einem Sieg in den Armen, so als wären sie schon immer „ziemlich beste Freunde“ gewesen. In inklusiven Schulen und Klassenzimmern sollte die Rekategorisierung eine selbstverständliche Methode sein: „Wir sind alle Kinder der Glühwürmchenklasse! “ Im gegliederten Schulwesen ist eine Anwendung dieser Methode schwer vorstellbar, weil etwa gelegentliche kooperative Veranstaltungen verschiedener Schulen die Akzentuierung der Unterschiede zwischen den Schulformen nicht aufheben, sondern nicht selten sogar sichtbar hervorheben und damit verstärken. 3.2.3 Wechselseitige Differenzierung Dekategorisierung und Rekategorisierung haben gemeinsam, dass die kategoriale Unterscheidung in Eigengruppe und Fremdgruppe aufgegeben werden soll, entweder zugunsten einer persönlichen Sichtweise der Interaktionspartner (Dekategorisierung) oder aber zugunsten einer hierarchisch höheren Kategorisierung als „Gemeinsame Eigengruppe“ (Rekategorisierung). Weil aber nicht selten Gruppen ihre bisherige Identität nicht aufgeben, sondern behalten wollen, wurde das Modell der wechselseitigen Differenzierung entwickelt. Die Gruppen nehmen in diesem Modell Intergruppenvergleiche in mehreren Dimensionen vor, sodass mal die eine Gruppe, ein andermal die andere Gruppe im Vorteil ist und beide durch eine Mehrzahl von Vergleichen anteilig profitieren können. Die Jungen nehmen etwa für sich in Anspruch, dass sie besser mit dem Computer umgehen können; die Mädchen halten dagegen und beanspruchen für sich bessere sprachliche Kompetenzen. Die deutschen Kinder sind stolz auf ihre besseren Schulleistungen, die Migrantenkinder können durch die Beherrschung mehrerer Sprachen beeindrucken. Körperbehinderte Kinder sind den fitten Kindern in allen sportlichen Belangen unterlegen, manche körperbehinderten Kinder erweisen sich aber als kluge Schachspieler und sehr geduldige Gesprächspartner. Die Interaktionspartner behalten also ihre ursprüngliche Gruppenidentität bei, sie gestehen aber sich und den anderen die Möglichkeit einer wechselseitigen Überlegenheit zu und bilden damit multiple Identitäten aus, zwischen denen sie je nach Situation switchen können. Die Möglichkeiten, dieses Modell der wechselseitigen Differenzierung anzuwenden, dürften im inklusionspädagogischen Bereich nicht übermäßig groß sein. Gleichwohl ist es lohnend, in der inklusiven Pädagogik derartige Chancen zu suchen und nach dem Motto zu verfahren: „Jeder kann etwas! “ Bei einer prävalenten Ressourcenorientierung sollten sich bei jedem Kind mit Behinderung Stärken auffinden und vorzeigbare Leistungen finden lassen, die den kategorialen Graben zwischen den Gruppen ein wenig zuschütten und nicht weiter vertiefen. Weitere sozialpsychologisch inspirierte Konzepte und Ansätze (Kontakthypothese, Kooperative Methoden, Empathie-Training, Korrektur von Stereotypen durch Schemarevision u. a.) können an dieser Stelle nicht mehr ausgeführt werden. 4 Schluss Soziale Kategorien sind ambivalent. Auf der einen Seite sind sie unentbehrliche und unverzichtbare Helfer, um sich in der komplexen sozialen Welt zurechtzufinden und sie gut zu VHN 2 | 2015 111 HANS WOCKEN Dekategorisierung: Einladung zur kategorialen Bescheidenheit FACH B E ITR AG bewältigen. Sie sind sogar unausweichlich: Man kann nicht nicht kategorisieren! Auf der anderen Seite ist Kategorisieren auch mit unerwünschten und ungewollten Nebenwirkungen verbunden. Kategorien begünstigen eine stereotype Informationsverarbeitung, leisten der Vorurteilsbildung Vorschub und sind die Basis für diskriminierendes Verhalten. Der Sozialpsychologe Förster beschreibt die anstehende Aufgabe mit großen Worten: „Wir müssen Diskriminierung bekämpfen! Diskriminierung richtet gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Schaden an, sie ist die Basis für aggressive Konflikte, sie schürt Kriege und führt zu persönlichem und gesellschaftlichem Leid.“ (Förster 2008, 274) Soziale Kategorien und Inklusion ziehen nicht am gleichen Strang. Kategorien unterscheiden, trennen, grenzen ab, spalten, verfeinden; sie haben im Keim ein antiinklusives Potenzial. Inklusion will in mancher Hinsicht das Gegenteil von sozialer Kategorisierung: Persönliches und empathisches Verstehen, emotionales Wohlwollen und vertraute Nähe, tolerantes und ersprießliches Zusammenleben, unverbrüchliche menschliche Solidarität, kooperative Aufgabenbewältigung und nicht zuletzt ein friedliches Zusammenleben von Menschen, die nun einmal sehr unterschiedlich sind. Das zentrale Anliegen von Inklusion, die Gemeinsamkeit der Verschiedenen, wird von sozialer Kategorisierung nicht nur nicht unterstützt, sondern in mancher Hinsicht konterkariert und sabotiert. Soziale Kategorien können einen Scherbenhaufen anrichten, den Inklusion dann zusammenkehren und wieder kitten muss. Kategorisieren und Inklusion sind ungleiche Geschwister, die in mancher Hinsicht nicht zueinander passen und doch miteinander auskommen müssen. Inklusion strebt Gemeinsamkeit an, auch Gemeinsamkeit der Ungleichen. Kategorien bewirken dagegen - unbewusst und ungewollt - Trennung und Spaltung. Deshalb muss alle Kategorisierung von Störungen und Beeinträchtigungen sich die kritische Anfrage gefallen lassen, ob eine förmliche Diagnose, die aktenkundige Dokumentation und eine persönliche Zuschreibung an konkrete Individuen wirklich notwendig und hilfreich sind. Und deshalb bedarf alle Kategorisierung der pädagogischen Zähmung durch Dekonstruktion, Dekategorisierung und Kooperation. Kategorisieren ist insbesondere kein Ersatz für Personalisieren und Individuieren. Soziale Kategorien interessieren sich nicht für Persönliches und Eigentümliches. Kategoriale pädagogische Konzepte sind daher völlig unsensibel für alles Einmalige und Einzigartige. Kategoriale Konzepte sind nützliche Arbeitshypothesen, die immer wieder aufs Neue durch die je einzelnen Individuen verifiziert und an sie angepasst werden müssen. Inklusive Pädagogik muss sich (auch) dem einzelnen Menschen hinter den kategorialen Schablonen zuwenden und (auch) dem Eigen-Sein zum Recht verhelfen. In allen pädagogischen Prozessen sind Individualisieren und Kategorisieren komplementäre Vorgänge; allein eine ausgewogene Balance von Kategorisieren und Personalisieren kann eine gute Passung pädagogischen Handelns gewährleisten. Kategoriale Pädagogik ist Gleichheitspädagogik. Wer Zusammenhalt, Gemeinsamkeit und Solidarität pädagogisch fördern will, sollte mit Kategorisierungen sehr zurückhaltend umgehen und wo immer möglich auf sie verzichten. Die Erziehung zum Wir braucht Dekategorisierung. Wer Inklusion will, muss die Kategorien vor der Klassentür stehen lassen. Anmerkung 1 Eine Auseinandersetzung mit der Dekategorisierungsdebatte (Wocken 1996 a; Ahrbeck 2011; Dederich 2014) kann an dieser Stelle nicht erfolgen und ist in ausführlicher Form für einen Buch-Artikel vorgesehen. VHN 2 | 2015 112 HANS WOCKEN Dekategorisierung: Einladung zur kategorialen Bescheidenheit FACH B E ITR AG Literatur Ahrbeck, B. (2011): Das Gleiche ist nicht für alle gleich gut. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 286 vom 8. Dezember, 8 Blanz, M. (1999): Wahrnehmung von Personen als Gruppenmitglieder. Untersuchungen zur Salienz sozialer Kategorien. Münster: Waxmann Dederich, M. (2014): Intersektionalität und Behinderung. Ein Problemaufriss. In: Behinderte Menschen 37, 47 -53 Förster, J. (2008): Kleine Einführung in das Schubladendenken. Über Nutzen und Nachteil des Vorurteils. München: Goldmann Frey, D.; Irle, M. (Hrsg.) (2002): Theorien der Sozialpsychologie. Band II: Gruppen-, Interaktions- und Lerntheorien. 2. Aufl. Bern: Huber Geyer, C. (2014): Unglaubliche Gleichmacherei. In: www.faz.net, 21. 7. 2014 Kessler, T.; Mummendey, A. (2007): Vorurteile und Beziehungen zwischen sozialen Gruppen. In: Jonas, J.; Stoebe, W.; Hewstone, N. (Hrsg.): Sozialpsychologie. Eine Einführung. 5. Aufl. Heidelberg: Springer, 488 -531 Mummendey, A.; Otten, S. (2002): Theorien intergruppalen Verhaltens. In: Frey, D.; Irle, M. (Hrsg.): Theorien der Sozialpsychologie. Bd. II: Gruppen-, Interaktions- und Lerntheorien. 2. Aufl. Bern: Huber, 95 -119 Otten, S.; Matschke, C. (2008): Dekategorisierung, Rekategorisierung und das Modell wechselseitiger Differenzierung. In: Petersen, L.-E.; Six, B. (Hrsg.): Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung. Theorien, Befunde und Interventionen. Weinheim: Beltz, 292 -300 Petersen, L.-E. (2008): Die Theorie der sozialen Identität. In: Petersen, L.-E.; Six, B. (Hrsg.): Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung. Theorien, Befunde und Interventionen. Weinheim: Beltz, 223 -230 Petersen, L.-E.; Six, B. (Hrsg.) (2008): Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung. Theorien, Befunde und Interventionen. Weinheim: Beltz Wenzel, M.; Waldzus, S. (2008): Die Theorie der Selbstkategorisierung. In: Petersen, L.-E.; Six, B. (Hrsg.): Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung. Theorien, Befunde und Interventionen. Weinheim: Beltz, 231 -240 Wocken, H. (1996 a): Das Ende der kategorialen Behindertenpädagogik. In: Sonderpädagogik 26, 57 -62 Wocken, H. (1996 b): Sonderpädagogischer Förderbedarf als systemischer Begriff. In: Sonderpädagogik 26, 34 -38 Wocken, H. (2013): Inklusion als Balance. Eine theoretische Skizze zu Grundstrukturen der inklusiven Pädagogik. In: Wocken, H. : Zum Haus der inklusiven Schule. Ansichten - Zugänge - Wege. Hamburg: Feldhaus , 171 -198 Anschrift des Autors Prof. em. Dr. Hans Wocken Frühlingstr. 13 D-90522 Oberasbach hans-wocken@t-online.de