Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Das Provokative Essay: Inklusive Regionen
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Barbara Gasteiger-Klicpera
David Wohlhart
Um die schrittweise Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Bildungssystem zu ermöglichen, wird das Konzept der Inklusiven Regionen vorgestellt. Ziel ist die Etablierung inklusiver Modellregionen, in denen die inklusive Qualität an allen Schulen deutlich erhöht und damit die Notwendigkeit von segregierten Einrichtungen aufgehoben wird. Eine Schlüsselrolle im Bildungssystem übernehmen regionale Inklusionszentren, denen eine zentrale Koordinations- und Steuerungsfunktion zukommt. Die Entwicklung soll Hand in Hand gehen mit anderen Reformbemühungen im Bildungssystem, sodass Synergien möglich werden und alle Bildungseinrichtungen, auch Gymnasien und berufsbildende Schulen, an ihrer inklusiven Qualität arbeiten können. Zentrale Aspekte des Entwicklungskonzeptes sind Barrierefreiheit und Zugänglichkeit zu allen Unterrichtsmaterialien, auch für Schüler/innen mit Sinnesbehinderungen, sowie Einbezug aller Eltern. Inhaltlich stehen die Berücksichtigung von Individualisierung mit einem Schwerpunkt auf Prävention, Diagnostik sowie Einzelförderung im Mittelpunkt. Notwendig für die Etablierung des Konzeptes sind eine umfassende Fort- und Weiterbildung aller Pädagog/innen und schließlich eine Evaluierung und Qualitätsentwicklung durch eine externe wissenschaftliche Begleitung.
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185 VHN, 84. Jg., S. 185 -191 (2015) DOI 10.2378/ vhn2015.art23d © Ernst Reinhardt Verlag Inklusive Regionen Ein Konzept zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Bildungssystem 1 Barbara Gasteiger-Klicpera Universität Graz David Wohlhart Kirchliche Pädagogische Hochschule Graz Zusammenfassung: Um die schrittweise Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Bildungssystem zu ermöglichen, wird das Konzept der Inklusiven Regionen vorgestellt. Ziel ist die Etablierung inklusiver Modellregionen, in denen die inklusive Qualität an allen Schulen deutlich erhöht und damit die Notwendigkeit von segregierten Einrichtungen aufgehoben wird. Eine Schlüsselrolle im Bildungssystem übernehmen regionale Inklusionszentren, denen eine zentrale Koordinations- und Steuerungsfunktion zukommt. Die Entwicklung soll Hand in Hand gehen mit anderen Reformbemühungen im Bildungssystem, sodass Synergien möglich werden und alle Bildungseinrichtungen, auch Gymnasien und berufsbildende Schulen, an ihrer inklusiven Qualität arbeiten können. Zentrale Aspekte des Entwicklungskonzeptes sind Barrierefreiheit und Zugänglichkeit zu allen Unterrichtsmaterialien, auch für Schüler/ innen mit Sinnesbehinderungen, sowie Einbezug aller Eltern. Inhaltlich stehen die Berücksichtigung von Individualisierung mit einem Schwerpunkt auf Prävention, Diagnostik sowie Einzelförderung im Mittelpunkt. Notwendig für die Etablierung des Konzeptes sind eine umfassende Fort- und Weiterbildung aller Pädagog/ innen und schließlich eine Evaluierung und Qualitätsentwicklung durch eine externe wissenschaftliche Begleitung. Schlüsselbegriffe: Inklusives Bildungssystem, regionale Inklusionszentren, Barrierefreiheit, individualisierte Förderung, Prävention Inclusive Regions: A Concept for the Implementation of the UN Convention on the Rights of Persons With Disabilities Summary: To ensure the progressive implementation of the UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities in the educational system, the concept of Inclusive Regions is presented. The aim is to establish inclusive model regions, where the inclusive quality of all schools is increased. Consequently, the necessity of segregated institutions is decreased. Regional inclusive centers are playing a key role in this process exerting coordination and monitoring functions. This development goes hand in hand with other reform efforts within the educational system. Synergies are only possible if all educational institutions, including high schools and vocational schools, work on their educational quality. Central aspects of this developmental concept are accessibility and usability of all educational materials, especially for students with sensory disabilities, as well as including parents in the whole process. Core dimensions are individualization as well as preventive diagnostic and personalized training. To establish this concept, professional education and further training of all teachers are important. Finally, a sound evaluation and quality development by an external scientific monitoring group is necessary. Keywords: Inclusive educational system, regional inclusive centres, accessibility, individual support, prevention DAS PROVOK ATIVE ESSAY VHN 3 | 2015 186 BARBARA GASTEIGER-KLICPERA, DAVID WOHLHART Inklusive Regionen DAS PROVOK ATIVE ESSAY Einleitung Das Ziel der Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems ist aufs engste mit den aktuellen Reformanliegen zur Entwicklung der Qualität des Lernens im Sinne der Individualisierung und Kompetenzorientierung verbunden. Es ist daher kein isoliertes sonderpädagogisches Anliegen, sondern zielt auf die Qualitätsentwicklung des Schulsystems insgesamt. Ein Bildungssystem, das Heterogenität sozialer Gruppen nicht nur zulässt, sondern als grundlegende Gegebenheit begreift, das Kooperation und Teamarbeit fördert, ein Bildungssystem, in dem individuell unterschiedliche Entwicklungen zum jeweiligen durch Begabungen und Interessen abgesteckten Leistungshorizont nicht nur möglich, sondern erwünscht sind, steht im Schnittpunkt vieler Entwicklungslinien. So treffen in diesem Brennpunkt so unterschiedliche Anliegen wie die Notwendigkeit der Integration von Menschen mit Migrationshintergrund, die Förderung von hochbegabten Kindern und Jugendlichen, Maßnahmen zur Vermeidung des Schulabbruchs, die Entwicklung und nachhaltige Sicherung von Schlüsselkompetenzen, die Förderung lebenslangen Lernens und die Anliegen der Inklusion zusammen und ergänzen einander. Erhöhte Autonomie, Schulentwicklungs- und Qualitätssicherungsprogramme kommen der Realisierung eines inklusiven Bildungssystems zugute. Selbst der bildungspolitische Paradigmenwechsel hin zu einer Outcome-orientierten Steuerung, der vorerst in der Implementierung der österreichischen Bildungsstandards seinen Ausdruck findet, weist mit dem Schwerpunkt einer nachhaltigen Entwicklung von Kompetenzen den Weg in Richtung einer Individualisierung und Personalisierung des Bildungsprozesses. Zielsetzung Die Umsetzung der UN-Konvention in Österreich hat ein inklusives Bildungssystem zum Ziel, in dem alle Kinder und Jugendlichen gemeinsam auf individuelle Weise lernen dürfen und die dafür notwendige Unterstützung erhalten. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die gesetzlichen Grundlagen für die Inklusion auf alle Bildungseinrichtungen, Schularten und Schulformen ausgeweitet und die systemischen Bedingungen und die Individualisierungs- und Förderkompetenzen der allgemeinen Schulen deutlich erweitert werden, während bestehende Sonderschulen schrittweise in inklusive Bildungseinrichtungen umgewandelt werden. Zudem müssen die Organisationsformen und Rahmenbedingungen der inklusiven Bildungseinrichtungen so erweitert werden, dass auch die Bewältigung von Krisensituationen ohne Ausschluss möglich wird. Ein zentrales Anliegen ist die Bündelung verfügbarer Ressourcen in einem durchgängigen Kontinuum, das bedarfsgerecht und frühzeitig inklusionsfördernde Maßnahmen bereitstellt. Das Kontinuum umfasst systemische Maßnahmen an Bildungseinrichtungen, niederschwellige Zugänge zu Förderung, einen neu zu schaffenden Schwerpunkt „Prävention“, der dazu beitragen wird, Lern- und Entwicklungsschwierigkeiten sowie Krisensituationen ohne Ausschluss zu bewältigen, sowie garantierte kompetente Begleitung und Unterstützung für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen. Diese erweiterten Kompetenzen der allgemeinen Schule erfordern einen Ausbau der Unterstützung durch regionale Inklusionszentren, die selbst keine Schulen sind. Ihre rechtliche, personelle und materielle Ausstattung ermöglicht eine dynamische Ressourcenverteilung, Evaluierung und prozessstandardisierte Steuerung der inklusiven Maßnahmen an allgemeinen Schulen. Für die Gewährleistung der erforderlichen individuellen Hilfen sind angemessene Vorkehrungen zu treffen, unter anderem die Auswei- VHN 3 | 2015 187 BARBARA GASTEIGER-KLICPERA, DAVID WOHLHART Inklusive Regionen DAS PROVOK ATIVE ESSAY tung von persönlichen Assistenzen, die Anerkennung der österreichischen Gebärdensprache und der Brailleschrift als unterrichtliche Kommunikationsmittel, der Einbezug von Dolmetschern sowie die Bereitstellung zugänglicher Lehr- und Lernmedien. Entscheidend für das Gelingen ist die Erweiterung der Individualisierungskompetenzen von Pädagog/ innen durch Maßnahmen der Fort- und Weiterbildung, vor allem aber durch die Neuorientierung der Grundausbildung aller Pädagog/ innen im Hinblick auf inklusive Pädagogik, Selbstkompetenz, Differenzfähigkeit, professionelle Teamarbeit, Beratung, Individualisierung, Diagnose und Förderung sowie die Öffnung pädagogischer Ausbildungen für Menschen mit Behinderungen. Die stufenweise Einrichtung inklusiver Regionen steht am Beginn eines Implementierungsprozesses, der im Jahr 2015 beginnt und an dessen Ende im Jahr 2020 die inklusive Kompetenz des allgemeinen Schulsystems bundesweit so erweitert wurde, dass eine Aufnahme von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in Sondereinrichtungen nicht mehr erforderlich ist und damit die UN-Behindertenrechtskonvention im Bildungssystem als implementiert gelten kann. Inklusive Regionen Die Realisierung eines inklusiven Bildungssystems kann am besten auf der Basis regionaler Konzepte in Angriff genommen werden. Eine pädagogische und organisatorische Weiterentwicklung ausschließlich an der Basis, also an Einzelinstitutionen, würde zu kurz greifen, weil es nicht möglich und sinnvoll ist, alle Kompetenzen für personalisiertes und adaptives Lernen sowie für jede Form der Förderung an jeder Einrichtung anzusiedeln. Eine ausschließliche Änderung von Bundes- und Landesgesetzen ohne regionale Initiativen hätte sehr wahrscheinlich zu geringe Auswirkungen auf das Bildungssystem. Eine inklusive Region ist eine Region, die das Ziel verfolgt, in ihrem Einflussbereich die UN- Behindertenrechtskonvention, insbesondere den Artikel 24 „Bildung“ vollständig umzusetzen. Im Zentrum steht das Anliegen, in einem definierten Zeitraum die Qualität der Bildungseinrichtungen in der Region hinsichtlich inklusiver Bildung so anzuheben, dass Sondereinrichtungen wie Sonderschulen oder Sonderkindergärten nicht mehr gebraucht werden. Der Begriff „Region“ lässt deren geografische Ausdehnung zunächst offen. Eine inklusive Region umfasst im Allgemeinen einige Schulbezirke. Die über die Bezirksebene hinausgehende Erstreckung ist darin begründet, dass in diesen Regionen die wichtigsten professionellen Kompetenzen für die Entwicklung eines inklusiven Bildungssystems und für die individuelle Förderung vertreten sein sollen. Die Einrichtung der inklusiven Regionen folgt einem vorgegebenen abgestuften Zeitplan. Zunächst ist die Entwicklung von inklusiven Modellregionen vorgesehen, die es ermöglichen, von günstigen Bedingungen ausgehend die unten genannten Strukturen beispielhaft auszubauen. Die Erfahrungen aus diesen Modellregionen werden gesammelt, systematisiert und zu einem Entwicklungskonzept verdichtet, das für weitere inklusive Regionen in ganz Österreich Anwendung finden soll. Die Länder beauftragen in Absprache mit dem Bund ein Konsortium mit der Entwicklung eines regionalen Aktionsplans. Das Konsortium soll so zusammengesetzt werden, dass sich regionale Akteur/ innen und Interessensgruppen im Bereich inklusiver Bildung vertreten fühlen und dadurch Ownership in der Region entsteht. Dies betrifft ohne Anspruch auf Vollständigkeit institutionelle Akteur/ innen wie Zentren für Inklusion und Sonderpädagogik, VHN 3 | 2015 188 BARBARA GASTEIGER-KLICPERA, DAVID WOHLHART Inklusive Regionen DAS PROVOK ATIVE ESSAY Bezirksschulrät/ innen, inklusive Schulen, Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen, Erhalter von Bildungseinrichtungen, aber auch NGOs. Besonders ist darauf zu achten, Menschen mit Behinderungen oder ihre Vertreter/ innen, die auch die Eltern sein können, in diesen Entwicklungsprozess mit einzubeziehen. Das Konsortium erstellt einen regionalen Aktionsplan für die Etablierung eines inklusiven Bildungssystems in seinem Wirkungsbereich. Dieser Aktionsplan umfasst alle Bildungseinrichtungen von Kindergärten über Schulen bis zur beruflichen Bildung. Er beschreibt einen schrittweisen Ausbau der inklusiven Kompetenz in einem Projektzeitraum von drei Jahren. Für die Erreichung dieser Ziele werden im Aktionsplan Indikatoren definiert. Die wesentlichen Indikatoren sind dabei die Reduktion von Segregation und die Hebung der Qualität inklusiver Bildung. Letztere wird gemessen an der Qualität individueller Förderung, der inklusiven Qualität gemeinsamer Bildungsangebote, der systemischen Qualität inklusiver Bildungseinrichtungen und der Qualität der internen und externen Unterstützung. Diese neu entwickelten Aktionspläne werden in ersten Modellregionen umgesetzt. Im Folgenden werden einige Strukturelemente inklusiver Regionen skizziert, die im regionalen Aktionsplan zu berücksichtigen sind. Unterstützungssysteme Das Ziel, dass alle Kinder und Jugendlichen mit und ohne Behinderung in eine gemeinsame inklusive Bildungseinrichtung gehen, ist nur zu erreichen, wenn diese Bildungseinrichtung dafür kompetent ist. Die Schule muss dafür speziell ausgebildete Pädagog/ innen beschäftigen, durch Fort- und Weiterbildung weitere Kompetenzen erwerben, vor allem aber auch externe Hilfestellung bekommen. Eine gute inklusive Bildungseinrichtung braucht eine stabile Ausstattung mit Pädagog- / innen, die kompetent auf individualisierte Weise erziehen und unterrichten können und die bereit sind, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten ständig zu erweitern, sowie eine Leitung, die Inklusion fördert. So kann der pädagogische Alltag auch für eine sehr heterogene Zielgruppe gestaltet werden. Darüber hinaus müssen Bildungseinrichtungen auf externe Unterstützungssysteme zugreifen können, wenn es Aufgaben gibt, für die die Mittel vor Ort nicht ausreichen. Regionale Inklusionszentren Eine inklusive Region benötigt eine treibende, steuernde und unterstützende zentrale Einrichtung, deren Aufgabe es ist, die Leistungsfähigkeit des regionalen Bildungssystems im Hinblick auf inklusive Pädagogik so weit zu steigern, dass Formen der äußeren Differenzierung nicht mehr notwendig sind, und diese Leistungsfähigkeit im laufenden Betrieb zu sichern. Ein Inklusionszentrum arbeitet als Drehscheibe und Vernetzungsagentur für alle bisher vorhandenen Unterstützungssysteme sowie alle Bildungseinrichtungen. Das Zentrum verfügt über einen Expert/ innenstab an Pädagog/ innen, die zumindest die Förderbereiche Lernen, Sprache, Verhalten, Sinnes- und Körperbehinderungen sowie geistige Behinderung abdecken mit Beratungs- und Entwicklungskompetenz für inklusive Bildungseinrichtungen, sowie über eine entsprechende Leitungsstruktur. Dem Zentrum obliegt die Koordination von Fördermaßnahmen sowie von inklusiven Entwicklungsaufgaben an den Bildungseinrichtungen im Einzugsgebiet. Das Team des Zentrums berät Bildungseinrichtungen, Eltern und Betroffene und stellt, wenn nötig, personelle und materielle Ressourcen zur Verfügung. VHN 3 | 2015 189 BARBARA GASTEIGER-KLICPERA, DAVID WOHLHART Inklusive Regionen DAS PROVOK ATIVE ESSAY Institutionelle Weiterentwicklung zu inklusiven Bildungseinrichtungen Inklusive Pädagogik ist Bildung ohne Aussonderung in einer äußeren Differenzierung, ohne Überstellung von Kindern und Jugendlichen in Sondereinrichtungen, ohne dauerhafte Trennung von Gruppen innerhalb einer Bildungseinrichtung, aber auch ohne Ausschluss vom gemeinsamen Bildungsprozess in seiner sozialen oder fachlichen Dimension. Durch gezieltes Management und Institutionsentwicklung in Zusammenarbeit mit dem Inklusionszentrum muss sichergestellt werden, dass sich alle Bildungseinrichtungen, einschließlich der Verwaltung, der Eltern und der Kinder und Jugendlichen, selbst für die inklusive Bildung zuständig fühlen und somit gemeinsam an Problemlösungen und Weiterentwicklungen arbeiten. Für die Teilhabe am Bildungsprozess benötigen Kinder und Jugendliche mit Behinderungen auf unterschiedliche Weise Unterstützung. Diese individuelle Unterstützung muss in Zusammenarbeit mit dem Inklusionszentrum festgelegt, implementiert und in regelmäßigen Abständen adaptiert werden. Wenn erforderlich, sollen zur Gewährleistung der Unterstützung unter gleichzeitiger Wahrnehmung vollinhaltlicher Teilnahme am Bildungsprozess auch persönliche Assistent/ innen eingesetzt werden. Personalisiertes Lernen ermöglicht allen, durch gezielte Förderung Rückstände aufzuholen und Lernniveaus anzuheben. Voraussetzung für gezielte Förderung sind eine exakte Diagnose, passende Förderkonzepte sowie deren kompetente Durchführung und Evaluation. Besonders effizient ist Förderung, wenn Probleme rasch erkannt werden. Dies gilt insbesondere bei akut auftretenden Krisen; hier ist durch ein effizientes Krisenmanagement rasch und unbürokratisch Unterstützung zu gewährleisten. Im regionalen Aktionsplan müssen konkrete Maßnahmen zur Hebung der systemischen, der unterrichtlichen und der Förderqualität der Bildungseinrichtungen im Einzugsbereich ausgewiesen und mit Indikatoren versehen werden. Bedarfsgerechte Förderung Die Etikettierung von Kindern und Jugendlichen als „behindert“ oder „Schüler/ innen mit SPF“ wird einer inklusiven Pädagogik nicht gerecht. An der zentralen pädagogischen Gegebenheit, der Lernleistung bzw. dem Lernerfolg, lässt sich diese Kategorisierung nicht festmachen. Einerseits sind die Leistungen z. B. von körper- und sinnesbehinderten Kindern oft herausragend, andererseits gibt es nicht behinderte Kinder und Jugendliche, die aufgrund volitionaler oder emotionaler Gegebenheiten ihre Leistungspotenziale nicht ausschöpfen. Das Ausweisen einer Behinderung im Hinblick auf Lernen, wie dies z. B. in der Definition des SPF geschieht, ist im Gegensatz zur Feststellung von Fördernotwendigkeiten kaum jemals pädagogisch erforderlich, hingegen häufig ein Grund für Aussonderung. Die inklusive Pädagogik nimmt die Unterschiedlichkeit und Individualität einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen ernst, wie heterogen sie auch sein mag. Im Kontext der Inklusiven Pädagogik gilt es daher, ein Förder- und Unterstützungskontinuum zu etablieren, in dem jede und jeder die materiellen und personellen Hilfestellungen und Förderungen bekommt, die zur vollen Teilnahme am Bildungsprozess erforderlich sind. Dieses Kontinuum sieht eine in drei Stufen an Intensität zunehmende Betreuung und Förderung vor. Diese drei Stufen sind als konzeptuelle Orientierung gedacht, flexibel handhabbar und nicht etikettierend. n Individuelle Förderung: Eine inklusive Bildungseinrichtung sorgt dafür, dass Kinder und Jugendliche auf ihrem jeweiligen Ni- VHN 3 | 2015 190 BARBARA GASTEIGER-KLICPERA, DAVID WOHLHART Inklusive Regionen DAS PROVOK ATIVE ESSAY veau am gemeinsamen Lernprozess teilhaben können. Sie weist ein Netz von Fördermaßnahmen auf, die in einem Förderkonzept zusammengefasst sind. Diese Fördermaßnahmen beziehen sich auf Lernrückstände und individuelle Problemsituationen. Die Inanspruchnahme dieser Fördermaßnahmen erfolgt in Abklärung mit den Erziehungsberechtigten. n Präventive Förderung: Wenn eine Gefährdung im Hinblick auf den Bildungsprozess festgestellt wird, der nicht mit individuellen Fördermaßnahmen begegnet werden kann, muss möglichst rasch gehandelt werden. Der Zugang zu gezielter Förderung muss daher niederschwellig gehalten werden. Inklusive Bildungseinrichtungen müssen vor Ort über diagnostische Kompetenzen und geeignete Diagnoseverfahren verfügen, um solche Gefährdungen festzustellen. In Zusammenarbeit mit dem Inklusionszentrum ist dann ein Förderplan zu erstellen, der kurzfristig in intensiver Weise für eine vereinbarte Zeit implementiert wird. Die Förderung wird von kompetenten Personen durchgeführt; der Erfolg wird in Zusammenarbeit mit dem Inklusionszentrum evaluiert. n Kontinuierliche Begleitung und Unterstützung: Diese Stufe können Kinder und Jugendliche mit oder ohne Behinderung in Anspruch nehmen, die eine längerfristige Begleitung und Unterstützung für die Teilhabe am pädagogischen Prozess benötigen. Die Feststellung dieses Förderbedarfs erfolgt auf der Basis einer umfangreichen Diagnose, dafür erforderliche Ressourcen werden über das Inklusionszentrum dauerhaft bereitgestellt. Im jährlichen Abstand erfolgt eine Überprüfung der Förderziele und des Umsetzungsprozesses. Der regionale Aktionsplan weist aus, auf welche Weise die drei skizzierten Ebenen von Förderung in den Bildungseinrichtungen etabliert und dauerhaft wahrgenommen werden und wie damit Förderung bedarfsgerecht eingesetzt wird. Barrierefreiheit Ein inklusives Bildungssystem zeichnet sich unter anderem durch Barrierefreiheit aus. Der Besuch einer Bildungseinrichtung darf nicht an baulichen Barrieren oder ungenügender Ausstattung scheitern. Barrierefreiheit erschöpft sich aber nicht in baulichen Maßnahmen. Barrierefreiheit in allen in der UN-Behindertenrechtskonvention genannten Dimensionen meint im Bildungskontext auch den Zugang zu Bildungsinhalten in allen Formen, in denen sie dargeboten werden, also zur Unterrichtssprache, zu Bildungsmedien und Unterlagen. Im regionalen Aktionsplan ist zu verdeutlichen, auf welche Weise die Zugänglichkeit für Bildungseinrichtungen und den Bildungsprozess hergestellt und nachhaltig gesichert wird. Aus- und Weiterbildung von Pädagog/ innen Inklusive Bildung benötigt kompetente Pädagog/ innen. Dies bedeutet, dass in der Ausbildung aller Pädagog/ innen eine Basiskompetenz für die inklusive Pädagogik grundgelegt bzw. für im Dienst stehende Pädagog/ innen durch Weiterbildung gesichert werden muss. Dieser inklusionspädagogische Kern umfasst zumindest eine Pädagogik für heterogene Gruppen, den Aufbau sozialen Zusammenhalts, geeignete lerndiagnostische Kompetenzen, Individualisierung und Personalisierung von Lernprozessen, individuelle Lernförderung, alternative Kommunikation, Orientierung im Feld der För-derung, Teamarbeit sowie Grundlagen inklusiver Schulentwicklung. Darüber hinaus werden Expert/ innen für systemische inklusive Schulentwicklung sowie Expert/ innen für Diagnose und Förderung in den Bereichen Lernen, Sprache, sozial-emotionale Entwicklung, Sinnes- und Körperbehinderungen und geistige Behinderung benötigt. Je nach regionalen Gegebenheiten werden auch VHN 3 | 2015 191 BARBARA GASTEIGER-KLICPERA, DAVID WOHLHART Inklusive Regionen DAS PROVOK ATIVE ESSAY kategorial ausgebildete Spezialist/ innen für körper- und sinnesbehinderte Kinder und Jugendliche erforderlich sein. Persönliche Assistent/ innen, die Kinder und Jugendliche im Sinne ihrer Selbstbestimmung in Bildungseinrichtungen begleiten und sie dort in Lernprozessen unterstützen, benötigen ebenfalls eine pädagogische Ausbildung, die sie befähigt, die erforderliche Unterstützung in das jeweilige Lernszenario mit der Ausrichtung auf bestmögliche Teilhabe einzupassen. Für die Kommunikation mit körper- und sinnesbehinderten Kindern sind weitere Fachkräfte erforderlich, die auf ausreichendem Niveau kommunizieren können, um Fortschritte im Bildungsprozess zu ermöglichen, und die ausreichende pädagogische Basiskompetenzen besitzen, um diese Kommunikationsformen auf inklusive Weise in Lernprozesse zu integrieren. Im regionalen Aktionsplan ist ein Personalentwicklungsplan vorzusehen, der in Kooperation mit Pädagogischen Hochschulen bzw. Universitäten oder anderen Bildungseinrichtungen sicherstellt, dass alle Pädagog/ innen schrittweise über Basiskenntnisse in inklusiver Pädagogik verfügen und dass über Maßnahmen der gezielten Neuanstellung, durch Kooperationsabkommen und/ oder Weiterbildung die erforderliche Expertise in der Region verfügbar gemacht wird. Forschende Begleitung der Umsetzung Die Umsetzung der inklusiven Regionen erfordert eine wissenschafts- und forschungsgestützte Begleitung. Um die Evaluation möglichst wenig von politischen und institutionellen Interessenslagen beeinflussbar zu halten, empfiehlt es sich, die Leitung der wissenschaftlichen Begleitung an eine anerkannte Forschungsinstitution unter internationaler Beteiligung zu vergeben. Zur langfristigen Erweiterung von Forschungskompetenz im Feld der inklusiven Pädagogik sollte diese Begleitung von einschlägigen Forschungsbzw. Doktoratsstipendien sowie durch Mittel der Forschungsförderung flankiert werden. In regionalen Aktionsplänen ist auszuführen, auf welche Weise im Rahmen der Projektlaufzeit in der Region Forschungs- und Entwicklungskompetenz zur Verfügung steht und wie diese über die Projektlaufzeit hinaus langfristig gesichert werden kann. Anmerkung 1 Dieses Arbeitspapier basiert auf den Überlegungen einer Redaktionsgruppe und wurde im Rahmen mehrerer runder Tische mit über 200 Teilnehmer/ innen diskutiert. Ihnen allen danken wir für ihre Kommentare und Anregungen, insbesondere Maria Handl-Stelzhammer, M. A., Mag. Jürgen Horschinegg, Robert Novakovits, Mag. Dominica Raditsch, Mag. Christine Seifner, Dr. Rüdiger Teutsch und Dr. Dagmar Zöhrer. Anschrift der Autorin und des Autors Prof. Dr. Barbara Gasteiger-Klicpera Karl-Franzens-Universität Graz Institut für Erziehungs- und Bildungswissenschaft Arbeitsbereich für Integrationspädagogik und Heilpädagogische Psychologie Merangasse 70/ II A-8010 Graz barbara.gasteiger@uni-graz.at David Wohlhart Kirchliche Pädagogische Hochschule Graz Lange Gasse 2 A-8010 Graz david.wohlhart@kphgraz.at
