Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2015
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Schulische Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht
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Markus Gebhardt
Jörg-Henrik Heine
Christine Sälzer
In einem gelungenen gemeinsamen Unterricht mit Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden auch Schülerinnen und Schüler ohne Behinderung optimal gefördert. Jedoch ist fraglich, ob der gemeinsame Unterricht in Deutschland optimal umgesetzt wird. Aus diesem Grund untersucht der Artikel Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in Integrationsklassen und Regelklassen im Rahmen der zusätzlichen Erhebung neunter Schulklassen von PISA 2012. Die Ergebnisse zeigen ein uneinheitliches Bild. Integrationsklassen unterscheiden sich von Regelklassen hinsichtlich des mittleren sozioökonomischen Status, der schulischen Kompetenzen und des Schulklimas nicht wesentlich, allerdings weichen einzelne Klassen von diesem Befund ab.
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246 VHN, 84. Jg., S. 246 -258 (2015) DOI 10.2378/ vhn2015.art28d © Ernst Reinhardt Verlag Schulische Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht Markus Gebhardt, Jörg-Henrik Heine, Christine Sälzer TU München, School of Education Zusammenfassung: In einem gelungenen gemeinsamen Unterricht mit Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden auch Schülerinnen und Schüler ohne Behinderung optimal gefördert. Jedoch ist fraglich, ob der gemeinsame Unterricht in Deutschland optimal umgesetzt wird. Aus diesem Grund untersucht der Artikel Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf in Integrationsklassen und Regelklassen im Rahmen der zusätzlichen Erhebung neunter Schulklassen von PISA 2012. Die Ergebnisse zeigen ein uneinheitliches Bild. Integrationsklassen unterscheiden sich von Regelklassen hinsichtlich des mittleren sozioökonomischen Status, der schulischen Kompetenzen und des Schulklimas nicht wesentlich, allerdings weichen einzelne Klassen von diesem Befund ab. Schlüsselbegriffe: PISA, Integration, Kompetenzen, Lehrer-Schüler-Beziehung Achievement of Students Without Special Educational Needs in Inclusive Education Summary: In a successful inclusive classroom setting, both students with and without special educational needs should benefit. However, it is questionable at this point whether inclusive education is implemented optimally in Germany. For this reason, the article tested the competencies of students without special educational needs in inclusive classes and regular classes in an additional survey of grade-nine classroom in PISA 2012. The results show a mixed picture. Inclusive classes do not differ substantially from regular classes in terms of the socioeconomic status, achievement and school climate, however some of the classes differ from this finding. Keywords: PISA, inclusion, achievement, teacher-student relationship FACH B E ITR AG 1 Problemstellung Die Umsetzung des gemeinsamen Unterrichts von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) und Schülerinnen und Schülern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf nimmt in der Bundesrepublik Deutschland seit Jahren zu. So stieg nach der Schulstatistik der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland (KMK) die Quote der integrativ beschulten Schülerinnen und Schüler mit SPF von 12 Prozent im Schuljahr 1999/ 2000 auf 25 Prozent im Schuljahr 2011/ 12 an. Zwar sind die Rahmenbedingungen und Modelle in den einzelnen Bundesländern unterschiedlich, jedoch ist in allen Bundesländern an allen Schularten ein gemeinsamer Unterricht grundsätzlich möglich. In der Forschung zum Thema ist es derzeit Konsens, dass der gemeinsame Unterricht im Vergleich zur separaten Beschulung in einer Förderschule positive Auswirkungen auf die VHN 3 | 2015 247 MARKUS GEBHARDT, JÖRG-HENRIK HEINE, CHRISTINE SÄLZER Schüler/ innen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht FACH B E ITR AG schulischen Leistungen von Schülerinnen und Schülern mit SPF hat (Baker u. a. 1995; Carlberg/ Kavale 1980; Haeberlin u. a. 1991; Kocaj u. a. 2014 ; Lindsay 2007; Merz 1982; Sermier Dessemontet u. a. 2011; Wang/ Baker 1985). Aber auch für Schülerinnen und Schüler ohne SPF sollte der gemeinsame Unterricht positive Lernentwicklungen begünstigen, denn das Ziel dieses Unterrichts ist es, durch innere Differenzierung und einen hohen Anteil an selbstgesteuertem und kooperativem Lernen allen Schülerinnen und Schülern individuelle Fortschritte zu ermöglichen (Heimlich 2007). Trotz dieser Definition geben Eltern und Lehrkräfte bei Befragungen nach den Auswirkungen des gemeinsamen Unterrichts auf Schülerinnen und Schüler ohne Behinderung eher vorsichtige Antworten. Beispielsweise beantworteten in der Schweizer Untersuchung von Kunz u. a. (2010) Eltern und Lehrer die Frage nach den Vorteilen und der Qualität für die Kinder ohne Behinderung beim gemeinsamen Unterricht nahe dem theoretischen Mittelwert. Sowohl die Eltern als auch die Lehrer stehen dem gemeinsamen Unterricht im Schnitt neutral gegenüber. Positiver beantworteten Grundschullehrkräfte die Frage nach der Qualität des gemeinsamen Unterrichts in einer österreichischen Untersuchung (Gebhardt u. a. 2014 b). Dieses Ergebnis begründeten die Autoren der Studie mit der höheren Erfahrung mit Integration in Österreich im Vergleich zu den Untersuchungen in den anderen Ländern. Erfahrung mit Integration wird als eine der wichtigsten positiven Einflussgrößen zur Einstellung gegenüber der Integration gesehen (Avramidis/ Norwich 2002; Dyson 2010). Die Art des sonderpädagogischen Förderbedarfs des integrierten Schülers hat jedoch auch einen entscheidenden Einfluss (Gebhardt u. a. 2011). So wurde die Integration von Schülerinnen und Schülern mit einer körperlichen Behinderung insgesamt sehr positiv gesehen, und auch die Antworten bezüglich der Integration von Schülerinnen und Schülern mit einem SPF im Bereich Lernen oder geistiger Entwicklung waren noch knapp über dem theoretischen Mittelwert der Skala und damit positiv. Negative Auswirkungen hat nach Meinung der Lehrkräfte allerdings die Integration von Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Dies war insbesondere bei der Frage nach der Auswirkung auf die schulische Leistung der Schülerinnen und Schüler ohne SPF der Fall (Schwab u. a. 2012). Da bei dieser Gruppe angenommen wird, dass sie aufgrund ihres Sozialverhaltens die anderen Kinder beim Lernen stört, sehen Lehrkräfte die Integration dieser Schüler kritisch. Die Ergebnisse zeigen, dass es für die befragten Lehrkräfte eine behinderungsbezogene Grenze für den inklusiven Unterricht gibt. In der einschlägigen Forschung wird dies als „Grenzfallargument“ (Klemm/ Preuss-Lausitz 2011) bezeichnet. Meist wird dieses Argument gegen die Integration von Kindern mit schwerer körperlicher Behinderung oder mit Verhaltensauffälligkeiten angeführt. Neben diesem Grenzfallargument gibt es auch eine Reihe von Bedenken und Einwände gegen den gemeinsamen Unterricht, welche sowohl die Ebene der Schule als auch die Ebene des Unterrichts betreffen (siehe auch Klemm/ Preuss-Lausitz 2011; Mitchell 2008). Auf der Ebene der Schule werden die fehlenden Ressourcen, der Ausbildungsstand der Lehrkräfte in den Regelschulen, der Lerndruck in der allgemeinbildenden Schule und die Gefahr, dass Integrationsklassen nicht heterogen besetzt werden, sondern sogenannte Restklassen sein könnten, in denen ausschließlich leistungsschwache Schüler beschult werden, als kritische Punkte genannt. Auf der Ebene des Unterrichts sind die Argumente die zu hohe Leistungsheterogenität der Schülerinnen und Schüler in der Klasse, zu wenig Unterrichtszeit bei zu vielen curricularen Inhalten und keine Doppelbesetzung von Sonderpädagogen und regulären Lehrkräften in den Kernfächern. Obwohl diese Reihe an Argumenten zeigt, dass inklusiver Unterricht nicht einfach von heute auf morgen in einer allgemeinbildenden Schule umzusetzen ist, wurden in der einschlägigen VHN 3 | 2015 248 MARKUS GEBHARDT, JÖRG-HENRIK HEINE, CHRISTINE SÄLZER Schüler/ innen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht FACH B E ITR AG Forschung bis dato keine messbaren negativen Auswirkungen der schulischen Leistungen für Schülerinnen und Schüler ohne SPF durch den gemeinsamen Unterricht gefunden. In einem systematischen Review fanden Kalambouka u. a. (2007), dass der Effekt des gemeinsamen Unterrichts für Schülerinnen und Schüler ohne Behinderung bei 23 % aller gesichteter Studien als positiv berichtet wurden, bei 58 % als neutral und bei 9 % als negativ. Im Nachfolgenden werden die wichtigsten deutschsprachigen und neueren englischsprachigen Studien zu dieser Frage genauer dargestellt (Haeberlin u. a. 1991; Feyerer 1998; Farrell u. a. 2007; Gottfried 2014; Sermier Dessemontet u. a. 2011). In der Schweiz untersuchten Haeberlin u. a. (1991) 1842 Schülerinnen und Schüler der 4. und 5. Klasse in Regelklassen, in Integrationsklassen und in Sonderklassen (Kleinklassen). In den schulischen Leistungen in Mathematik und Deutsch sowie im Selbstkonzept gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den regulären Schülerinnen und Schülern in Integrationsklassen und in Regelklassen. Dieses Ergebnis bestätigte sich auch bei Schülerinnen und Schülern mit überdurchschnittlichem IQ (Bless/ Klaghofer 1991). Auch eine aktuellere Längsschnittuntersuchung mit Kontrollgruppen fand im gemeinsamen Unterricht mit Schülerinnen und Schülern mit einer geistigen Behinderung keine signifikanten Unterschiede in der Mathematik und im sprachlichen Bereich (Sermier Dessemontet u. a. 2011). Ein ähnliches Bild zeigten die österreichischen Schulversuche zur Integration in der Hauptschule. Schülerinnen und Schüler ohne SPF in den Integrationsklassen und in Parallelklassen unterschieden sich nicht in ihren schulischen Leistungen (Feyerer 1998). Jedoch gaben die Schülerinnen und Schüler in Integrationsklassen höhere Werte im Schulklima und im erlebten „Individualisierten Unterricht“ an. Das Ergebnis im „Individualisierten Unterricht“ bestätigte sich im Jahre 2011 in Österreich. Auch hier war der Befund, dass Integrationsklassen im Schnitt eine signifikant höhere Ausprägung im individualisierten Unterricht erreichen als reguläre Klassen. In der Untersuchung wurde aber auch die Verteilung der Klassen im Einzelnen dargestellt. Dies zeigte, dass es sowohl reguläre Klassen mit einer hohen Ausprägung im individualisierten Unterricht gibt als auch einzelne Integrationsklassen mit einer niedrigen Ausprägung (Gebhardt u. a. 2014 b). In England wurden anhand der nationalen Schulleistungstests (National Pupil Database NPD) im Jahre 2002 Integrationsklassen und reguläre Klassen hinsichtlich der schulischen Leistungen verglichen. Durch die nationale Erhebung war es möglich, andere Einflussgrößen wie die soziale Benachteiligung und den Migrationshintergrund der Schülerinnen und Schüler zu berücksichtigen. Gefunden wurde, dass die Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit SPF die Leistungen der Schülerinnen und Schüler ohne SPF gering negativ (um einen Prozentpunkt), aber signifikant beeinflusst. Die Autoren interpretierten, dass der Einfluss zwar signifikant ist, aber im Vergleich zu den anderen Einflussgrößen kaum eine Rolle spielt. In der Praxis moderieren andere Faktoren auf Klassenebene wie z. B. positive Unterstützung durch die Lehrkraft leicht diesen negativen Einfluss (Farrell u. a. 2007). Ein solch geringer negativer Effekt des gemeinsamen Unterrichts wurde auch in Kanada gefunden (Demeris u. a. 2007). So war in den landesweiten Schultests ein Zusammenhang von der Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit SPF in den Klassen mit den schulischen Leistungen der Schülerinnen und Schüler ohne SPF negativ signifikant (r = -.16). Jedoch fiel auf, dass der gemeinsame Unterricht vermehrt in Klassen mit einem niedrigeren sozioökonomischen Status stattfand. Daher war auch hier nach Kontrolle des sozioökonomischen Hintergrundes und der Klassengröße der negative Einfluss durch die Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit SPF nur gering (Lesen R 2 = .003; Mathematik R 2 = .005). VHN 3 | 2015 249 MARKUS GEBHARDT, JÖRG-HENRIK HEINE, CHRISTINE SÄLZER Schüler/ innen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht FACH B E ITR AG Einen negativen Einfluss von Schülerinnen und Schülern mit SPF auf das Problemverhalten und die soziale Kompetenz der Schülerinnen und Schüler ohne Behinderung fand Gottfried (2014) in einer Auswertung der Early Childhood Longitudinal Study, Kindergarten Class (ECLS-K). Diese Studie ist eine repräsentative Erhebung aus den USA vom letzten Kindergartenjahr bis zur ersten Klasse. Größere Effekte hatten das Geschlecht und die ethnische Herkunft auf das Problemverhalten und die soziale Kompetenz der Schülerinnen und Schüler ohne Behinderung, die Anwesenheit eines Schülers mit SPF hatte dagegen nur einen geringen Effekt. Auch nach Kontrolle des Geschlechts, der ethnischen Herkunft und des sozioökonomischen Status war, untergliedert nach der Art des sonderpädagogischen Förderbedarfs, ein geringer Einfluss auf die Schülerinnen und Schüler ohne SPF messbar: Learning disabilities (R 2 = .01); mental disabilities (R 2 = .01 bis R 2 = .02); physical disabilities (R 2 = .00 bis R 2 = .02); severe disabilities (R 2 = -.03 bis R 2 = .02); behavioral disorders (R 2 = .04 bis R 2 = .06). Nach diesen Koeffizienten kann man interpretieren, dass die Integration von Schülerinnen und Schülern mit dem SPF soziale und emotionale Entwicklung sich um bis zu 6 % negativ auf das Problemverhalten der Mitschülerinnen und Mitschüler auswirken kann. Diese 6 % gemeinsame Varianz der beiden Variablen kann durch die Forschung zum negativen Peereinfluss (Müller u. a. 2013) begründet werden. Dabei wird beschrieben, wann und wodurch negatives Verhalten durch Gleichaltrige übernommen wird. Dies ist ein generelles Problem bei Verhaltensauffälligkeiten im Unterricht und nicht auf Schülerinnen und Schüler mit SPF beschränkt. Besonders problematisch ist es, wenn in einzelnen Klassen mehrere Schülerinnen und Schüler mit schwierigem Verhalten unterrichtet werden und diese sich gegenseitig beeinflussen (Müller 2013). Die geringen Effekte von 1 % bis 2 % gemeinsame Varianz der Anwesenheit der Schülerinnen und Schüler mit einem anderen SPF auf das Problemverhalten und die soziale Kompetenz der Schülerinnen und Schüler ohne Behinderung sind zwar signifikant, sollten aber nur mit Vorsicht interpretiert werden, da es hierzu keine theoretische Grundlage gibt und dieses Ergebnis bisher auch nur in dieser einen Studie gefunden wurde. Insgesamt betrachtet sind die Forschungsergebnisse konfligierend und lassen die Bestimmung eines eindeutigen Effektes des gemeinsamen Unterrichts auf Schülerinnen und Schüler ohne SPF nicht zu (Ruijs/ Peetsma 2009). Auffällig an den vorgestellten Ergebnissen ist jedoch, dass sich in den Auswertungen der landesweiten Schulleistungstests in Kanada, Großbritannien und den USA sehr kleine negative Effekte (unterhalb von 3 % aufgeklärter Varianz) fanden, während dies in den kleineren Kontrollgruppenstudien in den deutschsprachigen Ländern nicht der Fall war. Vermutlich liegt dies an der breiteren Skalierung und der Stichprobengröße der landesweiten Schultests, welche auch sehr kleine Effekte messen können. 2 Fragestellung Die aktuelle Studienlage legt nahe, dass der gemeinsame Unterricht für Schülerinnen und Schüler ohne SPF höchstens einen geringen - wenn überhaupt - negativen Effekt bezüglich der schulischen Leistungen haben könnte. Dieser Effekt wurde bis jetzt nur in den größeren englischsprachigen Studien vorgefunden, während in den deutschsprachigen Ländern lediglich neutrale bis positive Ergebnisse aus kleineren Studien resultierten. Daraus leiten wir die Forschungsfrage ab, ob es signifikante Unterschiede zwischen Integrationsklassen und Regelklassen in Deutschland im Bereich der bundesweiten Kompetenztestung gibt und wenn ja, wie diese erklärt werden könnten. Bisher liegt für Deutschland kein bundesweites Large-Scale-Assessment vor, das diese Frage VHN 3 | 2015 250 MARKUS GEBHARDT, JÖRG-HENRIK HEINE, CHRISTINE SÄLZER Schüler/ innen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht FACH B E ITR AG aufgreift. Analysiert werden Integrationsklassen und reguläre Klassen der gleichen Schulart bezüglich der schulischen Kompetenzen, der Bewertungen des Schulklimas, des Gefühls der Zugehörigkeit zur Schule sowie der Häufigkeit des Schulschwänzens. 3 Methodik 3.1 Stichprobe Die vorliegende Stichprobe ist die Klassenstichprobe der neunten Klassen in PISA 2012; diese wurde zusätzlich zur altersbasierten Stichprobe der Fünfzehnjährigen in Deutschland gezogen (detaillierte Beschreibung siehe Heine u. a. 2013). In allen teilnehmenden allgemeinbildenden Schulen wurden zwei vollständige neunte Klassen getestet. Gemäß der Prozeduren in PISA 2012 fand die Testung als Papier-und-Bleistift-Test statt, wobei zunächst die Leistungstests und anschließend der Schülerfragebogen bearbeitet wurden, mit welchem schulbzw. unterrichtsbezogene Einstellungen sowie allgemeine Schülermerkmale erfasst wurden. Vor der Testung gab der sogenannte Schulkoordinator, meist ein Mitglied des Lehrerkollegiums, auf der Schülerdemografieliste an, ob eine Schülerin oder ein Schüler aus der Untersuchung ausgeschlossen werden sollte. Ausschlussgründe in PISA sind international klar geregelt: Ein Schüler kann nicht am PISA-Test teilnehmen, wenn er körperlich oder geistig nicht zur selbstständigen Testbearbeitung in der Lage ist oder wenn er weniger als ein Jahr in der Testsprache unterrichtet worden ist (etwa aus Gründen der Zuwanderung). Insgesamt besuchten aus der Stichprobe n = 9679 Schülerinnen und Schüler ohne SPF und 244 Schülerinnen und Schüler mit SPF die jeweils zwei an einer Schule gezogenen Klassen. Anhand der Information aus den Schülerdemografielisten wurden Klassen mit Schülerinnen und Schülern mit SPF identifiziert, auch wenn diese Schülerinnen und Schüler selbst nicht an der Testung teilgenommen haben. Der SPF wurde differenziert erhoben, jedoch wurden einzelne Förderschwerpunkte aufgrund der ungleichen Verteilung sowie der geringen Häufigkeit mancher sonderpädagogischer Förderschwerpunkte für die Analysen in diesem Artikel zusammengenommen. Schülerinnen und Schüler mit dem SPF Hören, Sprache und motorische Entwicklung wurden als eine Gruppe betrachtet, da sie mit Unterstützung dem Unterricht folgen können und meist lernzielgleich unterrichtet werden. Schülerinnen und Schüler mit dem SPF Lernen, geistige Entwicklung und mehrfache Behinderung wurden zusammengefasst, da diese Schülerinnen und Schüler sich kognitiv von den anderen Schülerinnen und Schülern ohne SPF unterscheiden und meist auch andere Lernziele in der Sekundarstufe haben. Die Schülerinnen und Schüler mit dem SPF emotionale und soziale Entwicklung wurden als eigene Gruppe belassen, da sie meist keine kognitiven Schwierigkeiten haben, sondern sich aufgrund des Sozialverhaltens von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern unterscheiden. 3.2 Datenanalyse Nachdem Schülerinnen und Schüler mit SPF aus dem Datensatz entfernt wurden, wurden alle weiteren Analysen mit SPSS 19 und unter Verwendung publizierter Macros der OECD (OECD 2009) berechnet. Durch diese Berechnungsweise werden die Nestung der Daten (Schüler in Klassen), die Gewichtung der einzelnen Fälle aufgrund der stratifizierten Stichprobenziehung (Heine u. a. 2013) und damit der Mehrebenencharakter der Daten berücksichtigt. Für die Regressionsanalysen in Tabelle 4 konnten aufgrund des rotierten Fragebogendesigns (Heine u. a. 2013) lediglich rund zwei Drittel der Gesamtstichprobe berücksichtigt werden. VHN 3 | 2015 251 MARKUS GEBHARDT, JÖRG-HENRIK HEINE, CHRISTINE SÄLZER Schüler/ innen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht FACH B E ITR AG Bei sämtlichen OECD-Analysen wird zur adäquaten Berücksichtigung der Mehrebenenstruktur der dabei eingesetzten Stichprobe(n) der 15-jährigen (Schüler in Schulen) als Schichtungsmerkmal die gemeinsam besuchte Schule (SCHOOLID) der Schüler kontrolliert. Die hier vorgestellten Analysen beziehen sich demgegenüber aber auf eine Datenstruktur, in der ein weiteres Schichtungsmerkmal adäquat berücksichtigt werden muss. Da bei der vorliegenden Stichprobe innerhalb jeder Schule jeweils zwei vollständige 9. Klassen gezogen wurden, weitet sich die Nestung der Daten auf die Ebene der einzelnen Klassen aus. Aus diesem Umstand ergibt sich zunächst die Frage, inwieweit sich die Unterschiedlichkeit der Schüler in den Kompetenzbereichen innerhalb und zwischen den einzelnen Schulklassen verteilt. Tabelle 1 gibt am Beispiel des Kompetenzbereiches Mathematik die Ergebnisse dieser Varianzzerlegung nach Schularten wieder. Der Intraklassen-Koeffizient RHO zeigt dabei, dass sich für die meisten Schulen keine bedeut- Varianzzerlegung ( Kompetenz Mathematik) Schulart Anzahl Schulen zwischen Klassen innerhalb Klassen RHO Hauptschule 1 1 2 22 489.92 871.28 - - 1650.80 4150.38 - - 0.23 0.17 < 0.10 < 0.01 MBG 1 1 1 8 23 993.42 315.10 586.95 - - 4588.74 2222.95 4594.78 - - 0.18 0.12 0.11 < 0.10 < 0.01 Realschule 1 1 14 37 1476.37 238.41 - - 1543.32 2149.55 - - 0.49 0.10 < 0.10 < 0.01 Gesamtschule 1 1 1 4 14 1166.85 1064.29 411.81 - - 2789.43 2816.56 2358.88 - - 0.29 0.27 0.15 < 0.10 < 0.01 Gymnasium 1 1 1 1 1 1 1 14 55 1107.39 1084.98 786.06 565.18 579.11 425.77 279.23 - - 2595.11 3318.20 2781.54 2610.40 2789.68 2678.84 2602.85 - - 0.30 0.25 0.22 0.18 0.17 0.14 0.10 < 0.10 < 0.01 Tab. 1 Varianzzerlegung für den Kompetenzbereich Mathematik nach Schularten VHN 3 | 2015 252 MARKUS GEBHARDT, JÖRG-HENRIK HEINE, CHRISTINE SÄLZER Schüler/ innen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht FACH B E ITR AG samen Abhängigkeiten aus der erweiterten Mehrebenenstruktur der Daten ergeben. Dies erkennt man daran, dass der Intraklassen-Koeffizient RHO bei vielen Schulen unter r ROH = . 10 lag. Jedoch ergeben sich für einige Schulen der jeweiligen Schulart nicht zu vernachlässigende Abhängigkeiten, die offenbar auf die Unterschiedlichkeit im Kompetenzniveau der jeweils beiden gezogenen Klassen innerhalb einer Schule zurückzuführen sind. Für sämtliche der folgenden Analysen in diesem Beitrag wurde daher die erweiterte Mehrebenenstruktur der Daten berücksichtigt. Bei den in den Analysen verwendeten Skalenwerten für die untersuchten Konstrukte handelt es sich um die raschskalierten Schülerantworten auf Fragen zu den Kompetenzbereichen Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften. Diese Skalen der drei Kompetenzen sind international im Schnitt der Mitgliedsländer der OECD auf den Mittelwert MW = 494 und die Standardabweichung SD = 92 skaliert (siehe auch Prenzel u. a. 2013). Des Weiteren wurden die vierstufigen Skalen Schulklima mit fünf Items und Gefühl der Zugehörigkeit zur eigenen Schule mit neun Items und ein Item zum Schulschwänzen in den Analysen verwendet. Ein Item zum Schulklima lautet beispielsweise: „Den meisten Lehrerinnen und Lehrern ist es wichtig, dass sich die Schülerinnen und Schüler wohl fühlen.“ Das Gefühl der Zugehörigkeit wurde mit Items wie „In der Schule finde ich leicht neue Freundinnen und Freunde“ oder „Ich fühle mich in dieser Schule einsam“ operationalisiert. Diese Skala hat große Ähnlichkeiten mit der Skala emotionale Integration von Haeberlin u. a. (1991). Das Item zum Schulschwänzen lautet: „Wie oft hast du in den letzten zwei vollen Schulwochen einige Unterrichtsstunden geschwänzt? “ In Tabelle 2 ist die Stichprobe der Schülerinnen und Schüler ohne SPF der neunten Klassen dargestellt. Integration findet vor allem in der Hauptschule, in Schulen mit mehreren Bildungsgängen (MBG) und in Gesamtschulen statt. Bei Betrachtung des sozioökonomischen Status (s. Tab. 3) fällt auf, dass die meisten Integrationsklassen im Vergleich zu den Regelklassen an der gleichen Schulart einen ähnlichen Status haben. Ausnahmen sind jeweils zwei Klassengruppen mit einem signifikant höheren und niedrigeren sozioökonomischen Status. Der sozioökonomische Status wird dabei durch den höchsten beruflichen Status der Eltern anhand der International Standard Classification of Occupation (ISCO 2012) operationalisiert (Müller/ Ehmke 2013). Schulart Regelklassen Integrationsklassen H + Sp + KB Integrationsklassen L + G Integrationsklassen V N % N % N % N % Hauptschule MBG Realschule Gesamtschule Gymnasium 683 1108 2530 849 3763 78 79 96 85 99 41 75 90 23 - 4 6 4 2 - 108 86 - 104 53 12 9 - 10 1 51 69 - 23 - 6 6 - 2 - Tab. 2 Prozentuale Verteilung der Schülerinnen und Schüler ohne SPF in der Stichprobe der neunten Klassen in PISA 2012, aufgeteilt nach den Klassen H + Sp + KB = Schülerinnen und Schüler mit den SPF Hören, Sprache oder motorische Entwicklung L + G = Schülerinnen und Schüler mit den SPF Lernen und geistige Entwicklung V = Schülerinnen und Schüler mit den SPF soziale und emotionale Entwicklung VHN 3 | 2015 253 MARKUS GEBHARDT, JÖRG-HENRIK HEINE, CHRISTINE SÄLZER Schüler/ innen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht FACH B E ITR AG 4 Ergebnisse 4.1 Kompetenzunterschiede in Integrations- und Regelklassen Für die Berechnungen wurden die Schülerinnen und Schüler nach Schulart gruppiert, da sich zwischen den Schularten in Deutschland in PISA 2012 teils deutliche Kompetenzunterschiede gezeigt haben (Prenzel u. a. 2013). Die Varianzaufklärung der einzelnen Berechnungen insgesamt betrug zwischen 8 und 18 Prozent (Mathematik: R 2 = .04 bis R 2 = .011; Lesen R 2 = .08 bis R 2 = .18; Naturwissenschaft R 2 = .05 bis R 2 = .08). Diese geringe Varianzaufklärung lag auch dann vor, wenn der Zuwanderungshintergrund und der sozioökonomische Status der Schülerinnen und Schüler mit in die Regressionsanalyse einbezogen wurden. Insgesamt zeigen die Ergebnisse (s. Tab. 4), dass sich die meisten Integrationsklassen nicht signifikant von den Regelklassen unterschieden. Es gab sowohl Integrationsklassen mit höheren als auch mit niedrigeren durchschnittlichen Kompetenzpunkten als Regelklassen. Bei den Integrationsklassen mit Schülerinnen und Schülern mit den SPF Hören, Sprache oder motorische Entwicklung war der Unterschied zu den Regelklassen in der Gesamtschule in Mathematik signifikant. Nach Kontrolle des sozioökonomischen Status sowie des Zuwanderungshintergrunds war dies nicht mehr der Fall. Bei den Integrationsklassen mit dem SPF Lernen und geistige Entwicklung gab es in Mathematik und in den Naturwissenschaften in der MBG einen signifikanten Unterschied zu den Regelklassen. Der Unterschied in Mathematik war auch nach Kontrolle des sozioökonomischen Status sowie des Zuwanderungshintergrunds vorhanden, während der Unterschied in den Naturwissenschaften das Signifikanzniveau knapp verfehlte. Integrationsklassen mit dem SPF soziale und emotionale Entwicklung der MBG schnitten im Lesen und in den Naturwissenschaften in der Hauptschule signifikant schlechter ab als die Regelklassen. Nach Kontrolle des sozioökonomischen Status sowie des Zuwanderungshintergrunds war dieser Unterschied nur im Lesen signifikant. 4.2 Unterschiede im Schulklima, beim Gefühl der Zugehörigkeit und beim Schulschwänzen in Integrations- und Regelklassen Die Reliabilität der Skalen Schulklima (r α = .80) und Gefühl der Zugehörigkeit zur eigenen Schule (r α = .89) war jeweils zufriedenstellend. Schulart Regelklassen Integrationsklassen H + Sp + KB Integrationsklassen L + G Integrationsklassen V Intercept SE b SE b SE b SE Hauptschule MBG Realschule Gesamtschule Gymnasium 40.16 45.25 46.83 45.60 57.56 0.82 1.09 0.47 0.85 0.54 -3.36 -2.25 0.99 -1.97 - 1.02 1.66 2.36 2.92 - -0.06 9.67 - 11.85 -4.14 1.53 2.60 - 5.33 0.84 -2.20 -2.02 - 0.13 - 1.13 1.97 - 5.14 - Tab. 3 Mittelwerte des sozioökonomischen Status (HISEI) der Schülerinnen und Schüler in der Stichprobe der neunten Klassen in PISA 2012, aufgeteilt nach den Klassen H + Sp + KB = Schülerinnen und Schüler mit den SPF Hören, Sprache oder motorische Entwicklung L + G = Schülerinnen und Schüler mit den SPF Lernen und geistige Entwicklung V = Schülerinnen und Schüler mit den SPF soziale und emotionale Entwicklung Signifikanz der Integrationsklassen im Vergleich zur Regelklasse ist fett markiert (p < .05) VHN 3 | 2015 254 MARKUS GEBHARDT, JÖRG-HENRIK HEINE, CHRISTINE SÄLZER Schüler/ innen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht FACH B E ITR AG Insgesamt unterschieden sich die meisten Integrationsklassen nicht signifikant von den Regelklassen. Integrationsklassen mit Schülerinnen und Schülern mit den SPF Hören, Sprache oder motorische Entwicklung gaben signifikant höhere Werte in der MBG im Schulklima und Gefühl der Zugehörigkeit zur eigenen Schule an als die Regelklassen. Integrationsklassen mit dem SPF Lernen und geistige Entwicklung in der Hauptschule haben positivere Werte im Schulklima. Die Integrationsklassen mit dem SPF Lernen und geistige Entwicklung in der MBG schnitten im Schulklima und Gefühl der Zugehörigkeit zur eigenen Schule schlechter ab als die Regelklassen. Integrationsklassen mit dem SPF soziale und emotionale Entwicklung in der MBG gaben negativere Werte im Gefühl der Zugehörigkeit zur eigenen Schule und im Schulschwänzen an als die Regelklassen. 5 Diskussion Die vorliegende Studie greift mit der Frage nach den Auswirkungen der gemeinsamen Beschulung von Kindern mit SPF und Kindern ohne SPF ein zwar vieldiskutiertes, aber zumindest in Deutschland empirisch bislang wenig untersuchtes Thema auf. Die vorliegende Untersuchung ist eine der ersten in Deutschland, welche auf einen bundesweiten Datensatz zurückgreifen kann. Die Ergebnisse zeichnen kein einheitliches Bild von den verschiedenen Integrationsklassen. Die durchschnittliche Kompetenz der Schülerinnen und Schüler in Integrationsklassen innerhalb der untersuchten Schularten unterscheidet sich ebenso wenig systematisch von derjenigen in Regelklassen wie die Merkmale Bewertung des Schulklimas, Gefühl der Zugehörigkeit zur Schule sowie Schulart Regelklassen Integrationsklassen H + Sp + KB Integrationsklassen L + G Integrationsklassen V Intercept SE b SE b SE b SE Mathematik Hauptschule MBG Gesamtschule 441.22 464.79 464.57 5.23 6.76 5.01 4.38 9.55 27.80 x 11.50 10.28 10.09 1.86 -23.55* -2.30 10.84 8.90 14.38 -15.83 9.93 -13.87 10.26 10.21 14.22 Lesen Hauptschule MBG Gesamtschule 433.89 454.89 469.03 8.02 7.32 5.72 -5.26 23.67 2.90 9.29 12.47 17.16 8.37 -5.12 7.91 10.05 12.32 22.62 -16.00 x 19.60 4.68 6.70 15.18 23.26 Naturwissenschaft Hauptschule MBG Gesamtschule 448.26 478.52 476.17 7.48 7.22 4.87 0.13 18.75 -2.25 15.24 10.11 22.63 5.41 -22.86 x 26.20 11.54 9.66 22.95 -28.27* 7.73 -12.40 12.60 12.18 22.90 Tab. 4 Regressionsanalyse der Kompetenzen mit der Schulart in Regelschulklassen und Integrationsklassen H + Sp + KB = Schülerinnen und Schüler mit den SPF Hören, Sprache oder motorische Entwicklung L + G = Schülerinnen und Schüler mit den SPF Lernen und geistige Entwicklung V = Schülerinnen und Schüler mit den SPF soziale und emotionale Entwicklung Signifikanz der Integrationsklassen im Vergleich zur Regelklasse ist fett markiert (p < .05) Signifikanz der Integrationsklassen im Vergleich zur Regelklasse nach Kontrolle des HISEI und der Zuwanderung ist mit * markiert. Keine Signifikanz der Integrationsklassen im Vergleich zur Regelklasse nach Kontrolle des HISEI und der Zuwanderung ist mit x markiert. VHN 3 | 2015 255 MARKUS GEBHARDT, JÖRG-HENRIK HEINE, CHRISTINE SÄLZER Schüler/ innen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht FACH B E ITR AG Häufigkeit im Schulschwänzen. Lediglich in einzelnen Bereichen erzielen bestimmte Klassen signifikant höhere oder niedrigere Werte als die Regelklassen. Folglich zeigen sich keine systematischen Unterschiede zwischen Integrationsklassen und Regelklassen. Auch die geringe Varianzaufklärung in den Regressionsanalysen zeigt, dass keine bedeutsamen Zusammenhänge zwischen der Integration von Schülerinnen und Schülern mit SPF und Kompetenz oder bestimmten Schülermerkmalen vorliegen. Dies bedeutet nicht notwendigerweise, dass es keine solchen Zusammenhänge geben kann; vielmehr ist ein solcher Effekt (Farrell u. a. 2007; Gottfried 2014) möglicherweise äußerst klein und aufgrund des geringen Anteils an Integrationsklassen an der Gesamtstichprobe in den standardisierten Koeffizienten der Regressionsanalyse in PISA 2012 nicht messbar. Ferner werden die Schulen nach Schulart gruppiert, wodurch die Varianz bei den untersuchten Merkmalen bereits reduziert und so das Auffinden signifikanter Unterschiede zwischen den Klassen erschwert wird. Dies geht darauf zurück, dass bei einigen Schularten ein Großteil der Varianz zwischen den Schulen und nicht innerhalb der Schulen zu finden ist. Schülerinnen und Schüler, die dieselbe Schule besuchen, sind sich also bezüglich ihrer Kompetenz und der untersuchten Eigenschaften ähnlicher als wenn man sie mit Schülerinnen und Schülern anderer Schulen vergleicht. Speziell die Gesamtschulen sowie Schulen mit mehreren Bildungsgängen, welche die höchste Anzahl an Integrationsklassen haben, weisen eine höhere Varianz in den Kompetenzen zwischen den Schulen auf als das Gymnasium. Insgesamt betrachtet ist daher ein geringer Effekt der Integrationsklassen in Schulsystemen mit nur einer einzigen Sekundarschulart einfacher zu messen als im mehrgliedrigen deutschen Schulsystem. Als weitere Limitation der Studie kommt hinzu, dass aufgrund der geringen Anzahl von Integrationsklassen und Integrationsschülern ein Fett = p < .05 Schulart Regelklassen Integrationsklassen H + Sp + KB Integrationsklassen L + G Integrationsklassen V Intercept SE b SE b SE b SE Schulklima Hauptschule MBG Gesamtschule -0.12 -0.19 -0.18 0.13 0.08 0.07 0.01 0.46 -0.18 0.08 0.12 0.14 0.35 -0.42 0.18 0.10 0.12 0.25 0.13 -0.24 0.25 0.10 0.16 0.26 Gefühl der Zugehörigkeit Hauptschule MBG Gesamtschule 0.20 0.15 0.26 0.06 0.05 0.04 0.16 0.33 -0.26 0.18 0.16 0.21 0.16 -0.40 0.11 0.18 0.10 0.31 -0.02 -0.25 0.42 0.19 0.23 0.32 Schulschwänzen Hauptschule MBG Gesamtschule 1.11 1.11 1.11 0.02 0.02 0.02 0.02 -0.05 -0.07 0.11 0.03 0.06 -0.03 0.03 0.12 0.03 0.05 0.10 0.08 -0.08 0.03 0.07 0.03 0.09 Tab. 5 Regressionsanalyse auf die Kriterien Schulklima, Gefühl zur Zugehörigkeit und Schulschwänzen mit der Schulart in Regelschulklassen und Integrationsklassen VHN 3 | 2015 256 MARKUS GEBHARDT, JÖRG-HENRIK HEINE, CHRISTINE SÄLZER Schüler/ innen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht FACH B E ITR AG möglicher Einfluss der Variablen Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit SPF in den Integrationsklassen sowie deren personenbezogene Variablen wie z. B. Geschlecht und sozioökonomischer Status in den vorliegenden Analysen nicht berücksichtigt werden konnten. Ebenso ist das Modell der Integrationsklassen nur durch die formale Zugehörigkeit einer Schülerin bzw. eines Schülers mit SPF definiert. Es fehlen somit wichtige Angaben zum Modell der Integration und relevante Hintergrundinformationen, um die jeweils situativ stattfindende Integration in den Daten zu identifizieren. Das Modell der Integration kann jedoch nicht einfach an der Schule erfragt werden, da die Modelle des gemeinsamen Unterrichts in Deutschland nicht einheitlich definiert sind. So haben die Modelle in den einzelnen Bundesländern sowohl verschiedene Namen als auch verschiedene Rahmenbedingungen (Gebhardt u. a. 2014 a; Preuss-Lausitz 2014). Für eine tiefergehende Interpretation unserer Befunde wäre die Kenntnis des jeweils eingesetzten Modells enorm wichtig. Künftige Studien in diesem Bereich sollten daher Informationen über die konkrete Umsetzung der Integration erfassen. Trotzdem können die Ergebnisse erste Hinweise zur Frage nach möglichen Auswirkungen des gemeinsamen Unterrichts auf Schülerinnen und Schüler ohne SPF in Deutschland im Large-Scale-Assessment geben. Es konnte gezeigt werden, dass die Umsetzung des gemeinsamen Unterrichts nicht negativ mit den Leistungen der Schülerinnen und Schüler ohne SPF in PISA 2012 zusammenhängt. So ließen sich die meisten Unterschiede in den Kompetenzen mit dem sozioökonomischen Status und dem Zuwanderungshintergrund erklären. Die Sorge, integrativer Unterricht gehe zu Lasten der Schülerinnen und Schüler ohne SPF (Kunz u. a. 2010), kann somit, zumindest in dieser allgemeinen Form, entkräftet werden. Ebenso wenig kann die Befürchtung gestützt werden, dass Integration nur in Brennpunkten oder in leistungsschwachen Klassen stattfindet. Denn auch im durchschnittlichen sozioökonomischen Status unterscheiden sich Regelklassen nicht von Integrationsklassen. Daher kann angenommen werden, dass die Zusammensetzung der Klassen der Heterogenität der Schulart entspricht. Dasselbe gilt für die Sorge, dass die Anwesenheit von Schülerinnen und Schülern mit SPF die günstige soziale und emotionale Entwicklung der anderen Schülerinnen und Schüler gefährdet (Gottfried 2014). Auch hierzu wurden keine Anhaltspunkte gefunden. Andererseits zeigten sich in unserer Studie ebenso keine Befunde, welche die positiven Effekte von Integrationsklassen, wie sie z. B. Feyerer (1998) berichtet, stützen würden. Dies bedeutet, dass die Integrationsklassen in Deutschland aktuell nicht per se ein positiveres Klima haben, obwohl dies ein verbindliches Ziel dieser Klassen ist. Insgesamt zeigen die hier vorgestellten Analysen, dass sich die untersuchten Integrationsklassen weder besonders positiv noch besonders negativ von regulären Schulklassen an Sekundarschulen unterscheiden. Obwohl einzelne Integrationsklassen im Mittel höhere und andere im Mittel niedrigere Leistungen erzielen als Regelklassen und das Muster beim Schulklima, dem Gefühl der Zugehörigkeit zur Schule sowie beim Schulschwänzen ähnlich aussieht, lässt sich anhand der im Rahmen von PISA 2012 erhobenen Klassenstichprobe kein einheitlicher Befund ableiten, der für oder gegen die gemeinsame Beschulung von Kindern mit SPF und Kindern ohne SPF spricht. Dieses uneinheitliche Bild liefert also zunächst nur eine vorläufige Antwort, die eher einen Doppelpunkt setzt als einen abschließenden Punkt: Die diskutierten Limitationen der Studie sollten künftigen Untersuchungen als Grundlage dienen, noch mehr relevante Informationen über die Randbedingungen hinsichtlich der praktischen Umsetzung gemeinsamen Unterrichts und dessen möglicher differenzieller Effekte zusammenzutragen. Die dabei zukünftig VHN 3 | 2015 257 MARKUS GEBHARDT, JÖRG-HENRIK HEINE, CHRISTINE SÄLZER Schüler/ innen ohne sonderpädagogischen Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht FACH B E ITR AG zu erfassenden Informationen könnten sich zum einen auf integrationsspezifische Merkmale von Lehrkräften wie z. B. Erfahrung und Einstellung gegenüber der Integration beziehen (Avramidis/ Norwich 2002; Dyson 2010) und zum anderen auf die Qualität und Quantität der bereitgestellten Ressourcen für die praktische Umsetzung integrativen Unterrichts, etwa die Anzahl der zusätzlichen sonderpädagogischen Fachkräfte sowie deren Erfahrung mit integrativen Unterrichtsformen. Literatur Avramidis, E.; Norwich, B. (2002): Teacher's attitudes towards integration/ inclusion: A review of the literature. In: European Journal of Special Needs Education 17, 129 -147. http: / / dx.doi. org/ 10.1080/ 08856250210129056 Baker, E. T.; Wang, M. C.; Walberg, H. J. (1995): The effect of inclusion on learning. In: Educational Leadership 52 (4), 33 -35 Bless, G.; Klaghofer, R. (1991): Begabte Schüler in Integrationsklassen. In: Zeitschrift für Pädagogik 37, 215 -222 Carlberg, C.; Kavale, K. (1980): The efficacy of special versus regular class placement for exceptional children: A meta-analysis. 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