eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 84/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2015
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Aktuelle Forschungsberichte: 30 Jahre danach - Biografien ehemaliger Schülerinnen und Schüler der „Lernbehindertenschule“

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Ingo Schilling-Holaschke
Als Förderschullehrer in einem zunehmend inklusiv beschulenden hessischen Schulsystem gehe ich in meiner Dissertation der Frage nach, wie die Biografien ehemaliger Sonderschüler/innen von der Kindheit bis ins mittlere Erwachsenenalter verlaufen, welchen Einfluss der Sonderschulbesuch auf ihr Leben genommen hat und wie hoch ihre spätere Lebenszufriedenheit ist. Es handelt sich dabei um eine der wenigen, da methodisch komplizierten katamnestischen Längsschnittstudien im Bereich der Sozialwissenschaften, die insbesondere in der Sonderpädagogik eher selten sind.
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267 VHN, 84. Jg., S. 267 -268 (2015) DOI 10.2378/ vhn2015.art31d © Ernst Reinhardt Verlag AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE 30 Jahre danach - Biografien ehemaliger Schülerinnen und Schüler der „Lernbehindertenschule“ Ingo Schilling-Holaschke Gießen Fragestellung und Methodik Als Förderschullehrer in einem zunehmend inklusiv beschulenden hessischen Schulsystem gehe ich in meiner Dissertation der Frage nach, wie die Biografien ehemaliger Sonderschüler/ innen von der Kindheit bis ins mittlere Erwachsenenalter verlaufen, welchen Einfluss der Sonderschulbesuch auf ihr Leben genommen hat und wie hoch ihre spätere Lebenszufriedenheit ist. Es handelt sich dabei um eine der wenigen, da methodisch komplizierten katamnestischen Längsschnittstudien im Bereich der Sozialwissenschaften, die insbesondere in der Sonderpädagogik eher selten sind. Für das Dissertationsprojekt ist es gelungen, beinahe alle der ehemaligen Schüler/ innen der „Lernbehindertenschule“ sowie aus der Kontrollgruppe der ehemaligen Regelschüler/ innen aus einer Untersuchungsgruppe von C. Hofmann wieder aufzufinden (Hofmann, C. [1982]: Familienalltag. Vergleichende Untersuchungen über mikrostrukturelle Sozialisationsprozesse in Familien von Gesamt-, Grund- und Sonderschülern. Gießen: Focus). Für den ersten Teil der Untersuchung, in dessen Mittelpunkt ein Vergleich der Lebenszufriedenheit der beiden Gruppen steht, konnte jeweils etwa die Hälfte der Schüler/ innen für die Teilnahme an der Untersuchung gewonnen werden. Die Daten wurden mittels des „Fragebogens zu Lebenszielen und zur Lebenszufriedenheit“ (FLL) von Kraak/ Nord-Rüdiger (1989) erhoben. Für den zweiten Teil des Forschungsprojekts, in dem ausschließlich die biografischen Verläufe ehemaliger Sonderschüler/ innen in insgesamt 30 unterschiedlichen Lebensbereichen aus allen Lebensphasen von der (frühen) Kindheit bis ins mittlere Erwachsenenalter (die Befragten sind zum Zeitpunkt des Interviews zwischen 42 und 48 Jahre alt) analysiert werden, konnten 12 ehemalige Schüler/ innen der „Lernbehindertenschule“ motiviert werden. Hier wurden biografische Interviews in Anlehnung an Schütze (1977; 1983) geführt, die mittels der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (2010) ausgewertet wurden. Leitende Forschungsfragen des zweiten Teils der Untersuchung sind: Wie verlaufen die Biografien ehemaliger Sonderschüler/ innen in unterschiedlichen Lebensphasen und Lebensbereichen von der Kindheit bis zum mittleren Erwachsenenalter? Wie entwickelt und verändert sich das Selbstbild der ehemaligen Sonderschüler/ innen im Lauf ihres Lebens? Welche Faktoren lassen sich im Umgang mit dem kritischen Lebensereignis „Sonderschulbesuch“ identifizieren, die mit einem besseren Selbstbild, einer positiven Bewertung der eigenen Biografie und einem privat und/ oder beruflich erfolgreichen Leben verbunden sind? Untersuchungsergebnisse Zurückgreifend auf das Konzept des „Subjektiven Wohlbefindens“ sowie die Theorie „Kritischer Lebensereignisse“ wird zunächst die Lebenszufriedenheit bzw. das Subjektive Wohlbefinden von 22 ehemaligen Sonderschüler/ innen erhoben, die Anfang der 1980er Jahre die „Lernbehindertenschule“ besuchten, und im Vergleich mit 16 ehemaligen Regelschüler/ innen aus dem gleichen regionalen und schulischen Umfeld analysiert. Dabei zeigt sich u. a., dass die ehemaligen Sonderschüler/ innen die 33 beschriebenen Lebensbereiche des Fragebogens als weniger bedeutsam empfinden und ihre realen Lebensbedingungen auch deutlich schlechter einschätzen als die Vergleichsgruppe. Zudem äußern sie ausnahmslos geringere Kontrollüberzeugungen in allen berücksichtigten Lebensbereichen und beschreiben eine pessimistischere Zukunftserwartung. Angesichts der bisher durchgängig positiveren Einschätzung der ehemaligen Regelschüler/ innen ist es erstaunlich, dass beide Gruppen dennoch eine annähernd gleiche Zufriedenheit in den 33 Lebensbereichen aufweisen. Im zweiten Teil der Untersuchung fällt in Bezug auf die Herkunftsfamilien auf, dass die ehemaligen Sonderschüler beinahe ausnahmslos in schwierigen bzw. belastenden Familienverhältnissen aufgewachsen sind, die v. a. durch unvollständige Familien, Alkoholismus und Gewalterfahrungen gekennzeichnet waren. Weder das soziale Um- VHN 3 | 2015 268 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE feld noch öffentliche Institutionen boten adäquate Hilfen an; die Befragten waren mit ihren Problemen auf sich allein gestellt und litten unter einer enormen sozialen Isolation in ihrem Heimatort. Somit wurden an dieser Stelle Ergebnisse zur soziokulturell und sozioökonomisch benachteiligten Situation von Schüler/ innen der Schule für „Lernbehinderte“ bestätigt. In der Grundschule beschreiben die Befragten ein diskriminierendes und inadäquates Verhalten ihrer Lehrer; als einzige „Fördermaßnahmen“ werden Klassenwiederholungen und Sonderschulüberweisungen genannt. Ebenfalls als belastend wird die Isolation der späteren Sonderschüler/ innen in der Klassengemeinschaft erlebt. Spätestens zum Zeitpunkt der Sonderschulüberweisung wird das bisherige Fremdbild, „dumm“ zu sein, als Selbstbild übernommen und ist auch 30 Jahre später noch ein hochrelevantes Thema für die ehemaligen Sonderschüler/ innen. In der Sonderschule berichten die Befragten von einem hohen subjektiven Wohlbefinden, zu dem drei zentrale Komponenten beitragen: 1. Sympathische, verständnisvolle und hoch engagierte Lehrer, 2. eine positive Klassengemeinschaft, die sich durch Akzeptanz der individuellen Schwächen auszeichnet, und 3. einen praxis- und lebensorientierten Unterricht, der den jeweiligen Lernstand der Schüler/ innen berücksichtigt. Auffällig ist, dass die Institution „Sonderschule“ an sich von der Mehrheit dennoch aufgrund ihrer diskriminierenden Funktion abgelehnt wird. Zwei Drittel der Befragten holen - meist direkt im Anschluss an den Sonderschulbesuch - ihren Hauptschulabschluss nach, und mehr als der Hälfte gelingt der Abschluss einer Ausbildung, wenngleich zum Zeitpunkt der Untersuchung niemand mehr in seinem erlernten Beruf arbeitet. Die ausgeübten Tätigkeiten sind i. d. R. schlecht bezahlt, in Einzelfällen werden jedoch auch enorme berufliche Aufstiege beschrieben. Die Beschäftigungsverhältnisse dauern oft nur wenige Jahre, sodass man insgesamt von einer „Patchwork-Biografie“ des Arbeitslebens sprechen kann, die auch immer wieder von Phasen der Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist. Obwohl die ausgeübten Arbeitstätigkeiten mehrheitlich positiv bewertet werden, werden sie zugleich als physisch und psychisch belastend erlebt. Die Gründung einer eigenen Familie erfolgt meist in den ersten fünf Jahren nach dem Schulabschluss. Die Rollenverteilung der Geschlechter ist deutlich konservativ, das eigene Erziehungsverhalten wird oft als klarer Kontrast zu dem der eigenen Eltern beschrieben. Beinahe ausnahmslos erreichen die Kinder höherwertige Schulabschlüsse als ihre Eltern. Obwohl insgesamt von einer erschwerten Lebenssituation der ehemaligen Sonderschüler/ innen gesprochen werden kann, sprechen die Untersuchungsergebnisse in ihrer Gesamtheit dafür, dass der Sonderschulbesuch keineswegs zwangsläufig zu einer Sackgasse im späteren Lebensverlauf werden muss: Das Ziel eines ihren Normalvorstellungen eines „bürgerlichen Lebens“ entsprechenden Lebens (z. B. eigenfinanzierter Lebensunterhalt, Kauf eigenen Wohnraums, stabile und dauerhafte Partnerschaften) wird von beinahe allen Befragten erreicht. Die Lebenszufriedenheit ist insgesamt äußerst hoch. Zusammenfassend deuten die Ergebnisse der Untersuchung darauf hin, dass individuell unterschiedliche Bewältigungsstrategien des kritischen Lebensereignisses „Sonderschulbesuch“ den weiteren Lebensweg stark beeinflussen können. V. a. personale Ressourcen bzw. Persönlichkeitseigenschaften scheinen dabei eine nicht zu unterschätzende adaptive Funktion entfalten zu können. Somit kann festgehalten werden, dass ein großer Teil der persönlichen Entwicklung und das Erreichen von Zielen auch im Leben ehemaliger Sonderschüler/ innen von der Handlungskompetenz und den persönlichen Entscheidungen der Akteure selbst abhängt. Weitere Informationen und Literaturangaben können eingeholt werden bei ingoholaschke@ gmx.de