Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2015
844
Schulen als Abbild gesellschaftlicher Bruchlinien
101
2015
Rolf Germann
Die schulische Wirklichkeit einer Millionärsgemeinde und einer Sozialer-Brennpunkt-Gemeinde entlarven das Zürcher Modell integrative Schule als Täuschung. Ein Integrationsbegriff ohne konsequenten Einbezug sozialer Realitäten blendet wichtige Probleme aus und schadet den Kindern.
5_084_2015_004_0277
277 VHN, 84. Jg., S. 277 -284 (2015) DOI 10.2378/ vhn2015.art32d © Ernst Reinhardt Verlag Schulen als Abbild gesellschaftlicher Bruchlinien Rolf Germann Rottenschwil Zusammenfassung: Die schulische Wirklichkeit einer Millionärsgemeinde und einer „Sozialer-Brennpunkt-Gemeinde“ entlarven das Zürcher Modell „integrative Schule“ als Täuschung. Ein Integrationsbegriff ohne konsequenten Einbezug sozialer Realitäten blendet wichtige Probleme aus und schadet den Kindern. Schlüsselbegriffe: Chancengerechtigkeit, Leistungsdenken, (Wohlstands-)Verwahrlosung, Aufmerksamkeitsdefizit Schools as the Reflection of Social Yield Lines Summary: The reality at school of a millionaire’s municipality and a social focus municipality exposes the Zurich model “inclusive school” as a delusion. A concept without consistent inclusion of social realities fades out important problems and damages to children. Keywords: Equal opportunities, meritocracy, (affluent) neglect, attention deficit disorder DAS PROVOK ATIVE ESSAY Im Verlaufe langjähriger Tätigkeit als Fachpsychologe für Psychotherapie bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen wurde ich in auffallend zunehmendem Maße konfrontiert mit Nöten und Sorgen von Schulkindern wie deren Eltern und mit an Erschöpfungszuständen (Burn-out) leidenden Lehrpersonen. Regelmäßiger Austausch mit Fachkolleg/ innen in Intervisionsgruppen bestätigten diese Beobachtungen ebenso wie die Supervisionsarbeit mit angehenden Therapeut/ innen. So beschloss ich vor bald sechs Jahren, in die Volksschule (Grundschule) zurückzukehren und sowohl als Regelklassenlehrer wie als Heilpädagoge das Zürcher Modell „integrativer Schule“ von innen heraus zu erleben. Dieses Modell wurde auf der Basis eines neuen Volksschulgesetzes 2005 flächendeckend für den gesamten Kanton und sämtliche Stufen der Volksschule verordnet. Grundlage dafür bildete ein einziger kurzer Paragraph (33): „Die sonderpädagogischen Maßnahmen dienen der Schulung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen pädagogischen Bedürfnissen. Die Schülerinnen und Schüler werden wenn möglich in der Regelklasse unterrichtet.“ Der Bau einer integrativen Schule birgt ein immenses Versprechen an Kinder und Eltern. Für meine Reise durch eine sich als integrativ deklarierende Schullandschaft wählte ich zwei Schulgemeinden von völlig entgegengesetzter sozialer Struktur, um dem realen Gehalt des Versprechens nachzuforschen. 1 Millionärsgemeinde A A ist eine der Gemeinden im Kanton Zürich (Schweiz) mit der höchsten Prozentzahl an Millionären. Die Matur(Abitur)-Abschlussquote beträgt über 40 %. Für Lehrer scheinen die Arbeitsbedingungen im Vergleich mit B nachge- VHN 4 | 2015 278 ROLF GERMANN Schulen als Abbild gesellschaftlicher Bruchlinien DAS PROVOK ATIVE ESSAY rade paradiesisch. Während dort an allen Ecken und Enden gespart werden muss, stehen hier reichlich Mittel bereit. Die Klassen sind kleiner, nach sozialer wie leitungsmäßiger Zusammensetzung deutlich homogener. Im Lehrerteam erleiden jedoch innert zweier Jahre mehrere Lehrpersonen ein Burn-out. Alle beschreiben sie ihre Schüler als „verzogen“, „frech“, „respektlos“, „egozentrisch“ und „asozial“. Die Zusammenarbeit mit Eltern gilt als mühsam bis qualvoll. Der psychische Zusammenbruch mehrerer Lehrpersonen löst allerdings nichts aus. Weder vonseiten der Schulleitung besteht ein Bedürfnis danach, mit dem Lehrerteam darüber zu reden, sich die Frage zu stellen, was grundsätzlich nicht gut läuft, noch kommt vom Lehrerteam her eine Initiative dazu, in Solidarität mit den betroffenen Kolleg/ innen. Mit dieser beidseitigen Verleugnung werden die betroffenen Lehrpersonen ein weiteres Mal im Stich gelassen, um ja nichts an den Verhältnissen in der Gemeinde infrage zu stellen. In A lerne ich, wie früh schon wie viele Kinder charakterlich ausnehmend stark verformt sein können. Über Jahrzehnte hin gab es in Psychologie und Sonderpädagogik den Ausdruck „verwahrlostes Kind“. Man hat ihn fallen lassen, da sich die Ansicht durchsetzte, er sei zu vorurteilsbehaftet. Denn als „verwahrlost“ wurden früher stets ausschließlich armer Leute Kinder etikettiert. Soll aber damit ausgedrückt werden, ein Kind verletze häufig durch sein Verhalten grundlegende gemeinschaftliche Werte oder sei kaum fähig, zu solchen einen substanziellen Beitrag zu leisten, dann wüsste ich für A keinen treffenderen Ausdruck als „Wohlstandsverwahrlosung“. Wenn hier ein Schüler zu einer Lehrperson, die ihn aufgrund mangelnder Leistungsbereitschaft tadelt, trocken äußern kann: „Warum soll ich mich denn mehr anstrengen? Ich werde so viel Geld erben, wie Sie in ihrem ganzen Leben nicht verdienen“, so ist er gegenüber der Lehrperson zwar respektlos, doch aus ihm sprechen seine Eltern. Und dies ist das Problem. Das Verhalten von Kindern spiegelt zuallererst das der Eltern, ihre charakterlichen Ausprägungen diejenigen ihres Milieus. Lehrpersonen fühlen sich ausgelaugt von der rücksichtslosen Weise, wie Eltern ihr Interesse am sozialen Aufstieg ihres Kindes erzwingen wollen. Der Druck auf sie und die Kinder steigt mit dem Alter der Schulkinder kontinuierlich an. Die Schule bietet vor der Aufnahmeprüfung an das Gymnasium zwar eigene Vorbereitungskurse, und diese werden auch belegt, doch zusätzlich besuchen die Kinder wöchentliche Kurse zur Vorbereitung der Prüfung an privaten Instituten; nicht wenige darüber hinaus noch private Einzellektionen. Keine von ihrem Lohn abhängige Volksschullehrperson kann es sich leisten, in der Gemeinde A zu wohnen. Was sich hier ereignet, sehe ich als eine Art „clash of cultures“. Wie jedes Buch zum Thema „Klassenführung“ demonstriert, sind ethische Grundüberzeugungen der Volksschullehrpersonen mittelständisch geprägt. Für Lehrpersonen, die selber in der Regel dieser Schicht entstammen, sind Werte wie „Gerechtigkeit“, „Chancengleichheit“, „Fairness“, „Gemeinschaftsgeist“, „Rücksichtnahme auf Schwächere“ und „Anstand“ zentral. In A erleiden sie die Aushebelung davon und werden zusätzlich von der Schulleitung wie der Schulpflege im Krisenfall desavouiert. Zu den alljährlich nach den Aufnahmeprüfungen ans Gymnasium veranstalteten politischmedialen Ritualen gehört, dass über derartige Zustände geklagt wird. Die Ungerechtigkeit gegenüber den zahlreicheren Kindern aus anderen sozialen Verhältnissen wird gebrandmarkt, Änderungen im Schulwesen, Änderungen an den Prüfungsbedingungen werden im Parlament gefordert - und nach kurzer Zeit ist das Theater vorbei, ohne dass sich substanziell etwas geändert hätte. Daran ist offenbar weder VHN 4 | 2015 279 ROLF GERMANN Schulen als Abbild gesellschaftlicher Bruchlinien DAS PROVOK ATIVE ESSAY die Schulbürokratie noch diese soziale Schicht noch die Förderindustrie mit ihren unterdes gewaltigen Ausmaßen interessiert. Die Volksschule beruht auf den Postulaten von Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit. Sie ist meritokratisch ausgerichtet. Ein jedes Kind soll, unabhängig von seiner Herkunft, einzig und allein aufgrund seiner schulischen Leistungsfähigkeit, die gleichen Möglichkeiten dazu haben, nach der Primarschule in eine weiterführende Schulstufe zu gelangen. So weit die Theorie. In der Realität der Gemeinde A sind diese Werte der Volksschule bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Und damit ist die Volksschule in einem ihrer Grundbausteine kaputt. Wenn die Salamanca-Erklärung der UNESCO auf der Basis einer Wertsetzung fordert, kein Kind dürfe in der Schule aufgrund irgendwelcher Eigenschaften benachteiligt werden, so enthält diese Norm implizit auch die Aussage, keines dürfe aufgrund irgendwelcher Eigenschaften, beispielsweise also der Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht, gegenüber anderen Kindern bevorteilt werden. Das nun aber ist im Vergleich zwischen Kindern der Gemeinden A und B eindeutig der Fall. Wird die Bevorteilung von Kindern aus vermögenden Verhältnissen nicht konsequent unterbunden, bleibt Bildungserfolg so sehr käuflich wie gegenwärtig, sind die Begriffe „Chancengleichheit“ und „Chancengerechtigkeit“ nahezu inhaltsleer. Damit erfüllt die Volkschule ihre Aufgaben nicht mehr. Doch auch die Kinder in A sind Opfer ihrer Verhältnisse. Das nicht zu erkennen und konsequent im Bau einer integrativ sein wollenden Schule zu berücksichtigen, schreibt die Geschichte der Diskriminierung von Kindern fort. Geschuldet ist diese Verengung der Perspektive dem blinden, unhinterfragten Glauben an das Leistungsdenken, dem die Schule verfallen ist. Die Kinder meiner Klasse in A können kaum singen. Ihre Stimmen wurden nicht lehrplangemäß systematisch geschult, sind darum verbrustet. Normal hohe Töne, die sie in ihrem Alter problemlos erreichen sollten, verfehlen sie markant. Es existiert ein erbärmliches Repertoire an Liedern. Jede etwas weiterreichende Kenntnis zu Rhythmus fehlt praktisch wie theoretisch, von anderen musikalischen Kenntnissen gar nicht zu reden. Der Flügel im Singsaal wird kaum benutzt. Nach und nach höre ich andere Klassen singen, in der Regel mit verbrusteten Stimmen zu Playback. Stellt sich entwicklungsgemäß bei den Knaben der Stimmbruch ein, ist es endgültig zu spät für Stimmbildung. Hieran zeigt sich beispielhaft, in welch einem Ausmaß in A die pädagogische Verantwortung für bestimmte Werte im Schulalltag verlorengegangen ist. Niemanden kümmert es. Der Lehrplan zum Musik- und Singunterricht ist vorhanden, sehr gut, von Schulbeginn bis Schulende kenntnisreich, praxisnah, lebendig und reich aufgebaut. Nur beachtet ihn die weit überwiegende Mehrheit der Lehrpersonen nicht, und die Schulleitung, welche in anderen Dingen pingelig bürokratische Genauigkeit verlangt, sieht darüber ebenso hinweg wie ihre vorgesetzte Schulbehörde. Gerade an der marginalen Stellung von Musikerziehung in A erweist sich die Leistungsbesessenheit der Aufsteigermentalität, deren Opfer in erster Linie die eigenen Kinder sind. Sie werden betrogen um etwas, das zur gesunden Entfaltung ihrer Persönlichkeit und zur Schulung des Aufeinander-Hörens eindeutig im Lehrplan vorgesehen und vorgeschrieben ist. Kinder sind grundsätzlich die Leidtragenden der herrschenden Verhältnisse. Es lebt in manchen Elternhäusern eine sprachlose Vereinsamung der Kinder. Zwar sind ihre Wochen gefüllt mit „Aktivitäten“. Neben dem regulären Schulunterricht besuchen sie Förderkurse, VHN 4 | 2015 280 ROLF GERMANN Schulen als Abbild gesellschaftlicher Bruchlinien DAS PROVOK ATIVE ESSAY treiben Sport, sind eingespannt in Freizeitangebote. In die Kinderpsychologie hat man zu diesem Lebensstil den Ausdruck „Verinselung der Lebenswelten“ aufgenommen: Kinder, die andauernd unterwegs sind, deren Tage durchorganisiert sind, die von Insel zu Insel transportiert werden. Auf jeder Insel findet ein Stücklein ihres Lebens statt, doch mit den Nachbarskindern draußen unkontrolliert spielen, das nimmt wenig Raum ein. Eigenes Entdecken, eigene Erfahrungsfelder, eine eigenständige Welt mit ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten bleiben ihnen vorenthalten. Zwischen den Inseln besteht kein Zusammenhang. Kommen sie von der Schule nach Hause, wartet oft nur eine Nanny, möglicherweise kaum der deutschen Sprache mächtig. Vielleicht auch gar niemand: Einzelkinder im Primar- (Grundschul)schulalter sitzen über Mittag alleine zu Hause. Die Mütter arbeiten oder sind beschäftigt mit Projekten der Selbstverwirklichung. Ihre Sehnsucht nach Beziehung beschreiben diese Kinder in ihren Aufsätzen und Zeichnungen, erzählen auf einem gemeinsamen Weg von ihrem Alleinsein. „Zuhause wartet nur eine ältere Frau. Sie lebt in einer anderen Welt, mit ihr kann ich nicht wirklich reden.“ „Ach, wie gerne hätte ich ein Geschwister! “ Diese Kinder können deshalb so wenig Substanzielles zur Gemeinschaftsbildung beitragen, weil die Fähigkeit dazu in ihnen nicht geweckt ist, weil alltäglich erlebte Erfahrung fehlt. Sie sind vornehmlich narzisstisch hoch besetzte Projekte ihrer Eltern. Entspricht ein Kind nicht den Vorstellungen seiner Eltern, so wird es rücksichtslos um der Schulkarriere willen aus der Klassengemeinschaft herausgerissen. Ein begabtes Kind, in einer vorpubertären Krise zu Leistungsanforderungen, was psychologisch eigentlich einen wesentlichen Schritt zu seiner Verselbständigung bedeutet, wird in eine Privatschule gesteckt, um endlich Leistungen nach Vorstellung seiner Eltern zu erbringen. Eltern eines anderen Kindes, das Anzeichen eines ADS zeigt, nehmen es aus der Klasse und versetzen es in die Kleingruppe einer Privatschule, um den Übertritt ins Gymnasium doch noch zu bewältigen. Ein Kind, das den angestrebten Übertritt ins Gymnasium nicht schafft, melden die Eltern in ein privates gymnasiales Internat an. So wird Kindern eingepflanzt, dass Beziehung und Gemeinschaft nichts, sozialer Aufstieg aber alles in der Welt ihrer Eltern bedeuten. 2 Sozialer-Brennpunkt-Schule B Gemeinde B ist an den Grenzen dessen, was sie tragen kann. Die Matura-Abschlussquote findet sich am anderen Ende der Skala. Im Kanton Zürich hat etwa ein Drittel aller Primarklassen einen Ausländeranteil, der höher als 30 % ist. „Belastete Schulen“ werden solche mit einem höheren Anteil als 40 % genannt (nomen est omen: Kinder als „Last“). Sie erhalten im Rahmen des Projektes „Qualität in multikulturellen Schulen“ (QUIMS) etwas mehr finanzielle Mittel. Im Gegensatz zu A benötigt B das ganze Angebot an „sonderpädagogischen Maßnahmen“. Was mir in B sogleich auffällt, ist das Littering. Allüberall Abfälle: vor, um, im Schulhaus, stets, unveränderbar. Die Aufräumarbeit der Hauswarte bedeutet zermürbende Sisyphusarbeit. Ich frage mich, was dieser Zustand im Hauswart, den Schulkindern und den Lehrpersonen an seelischen Folgen auslöst. Resignation gegenüber gewissen Zuständen? Wegschauen? Dann das Ausmaß der alltäglichen kleinen, zumeist gut versteckten Formen an verbaler wie tätlicher Gewalt auf dem Schulhof zwischen Kindern, verbunden mit verbreiteter Unfähigkeit zu unbeschwert fröhlichem Spiel. Lehrpersonen schauen schon gar nicht mehr hin. VHN 4 | 2015 281 ROLF GERMANN Schulen als Abbild gesellschaftlicher Bruchlinien DAS PROVOK ATIVE ESSAY Bezüglich Unterricht die schockartige Erfahrung des Niveauunterschiedes in der schulischen Leistungsfähigkeit der Kinder. Das lässt sich auch so formulieren: Für ein Kind, welches in A die Maßnahme IF (Integrative Förderung) zugesprochen erhält, würde in B noch lange kein IF beantragt. Oder: Wäre die Schule in A so wie diejenige in B, würden in A umgehend sämtliche Kinder in Privatschulen geschickt. Oder: Mir ist keine Lehrperson bekannt, die ihre eigenen Kinder in B einschulte - gesagt wird das aber nur hinter vorgehaltener Hand. Wo A Überfluss hat, herrscht in B Mangel. Die Ressourcen reichen nicht. Den bürokratisch „von oben“ her vorgegebenen Bedingungen fallen Kinder zum Opfer. Muss aufgrund stark steigender Kinderzahlen in einer Stufe eine neue Klasse gebildet werden, bedeutet das für das ganze kommende Schuljahr, dass Kinder mit ausgewiesenem Förderbedarf mangels Ressourcen keine Förderung mehr erhalten. Die Sorgen der Eltern wie der Kinder in B unterscheiden sich diametral von denen in A. Achtjährige fragen: „Du, kann ich einmal einen Beruf erlernen? “ Auch in den Standortgesprächen mit Eltern schwebt diese Sorge mit. Kinder erzählen, sie hätten zu Hause keinen ruhigen Arbeitsplatz, sie könnten tagsüber nicht in ihr Zimmer, weil da jemand schlafe, der nachts arbeite. Zunehmend realisiere ich, wie fremd mir Verhaltensweisen von Kindern und ihren Eltern sind. Ich beginne mir auf neue Weise die Frage zu stellen, wie sehr das Eingebundensein in die eigene Sozialisation mir einen verstehenden Zugang zu diesen Kindern erschwert. Damit stellt sich die Frage nach der sozialen Kontextgebundenheit der Beurteilung schulischer Leistungen von Kindern durch Lehrpersonen. Darüber hinaus formen sich neuerlich Zweifel an der „Messung“ der Intelligenz mithilfe von Tests, ohne dass kulturelle Unterschiede systematisch berücksichtigt sind. Mir wird die ganze Fragwürdigkeit der Beurteilung von Migrantenkindern durch Lehrpersonen oder Schulpsychologen bewusst, verknüpft mit der Einsicht in die dem Zürcher Modell „integrative Schule“ fundamental innewohnende Tendenz, diese Kinder, koste es, was es wolle, „einzupassen“ in unser System - ohne dass sich dieses seinerseits den Kindern anzupassen hätte und sich in diesem Anpassungsprozess womöglich stark veränderte. 3 Aufmerksamkeitsdefizit In A ist mir aufgefallen, wie viele Kinder, sollten sie sich für eine längere Dauer auf eine einzige Aufgabe konzentrieren, schon nach kurzer Zeit mit kleinen „Spielchen“ begannen. Das geschah unabhängig vom Fach, also beispielsweise nicht nur dann, wenn sie vor einer Mathematikaufgabe saßen oder einen Aufsatz zu schreiben hatten. Nein, auch vor einer Gestaltungsaufgabe, auf die sie sich freuten: stets auf identische Weise mit den Haaren spielen; mit dem Anhänger am Etui; mit einem Bleistift oder Radiergummi; dem Spitzer; mit dem Fuß wippen; einen Armreif drehen und zurückdrehen; an einem Ohrring zupfen usw. - vorbewusste Stereotypien eben. Darauf einmal aufmerksam geworden, nahm ich bald eine Art genereller Unfähigkeit zu Muße wahr, zum Aushalten eines gleichsam noch nicht besetzten inneren Wahrnehmungsraumes. Rasch entsteht in diesen Kindern „Langeweile“. Stets muss etwas geschehen. Schulische Aufgaben werden geschätzt, wenn sie möglichst exakt vordefiniert sind. Das Kind will wissen, was es zu tun hat. Es ist in seinem Alltag zu Hause daraufhin dressiert. Selbstständig und kreativ in Muße und innerlicher Ruhe einen Weg suchen und ausprobieren bedeutet für es rasch eine sensomotorische Überforderung. Am Bewusstsein vorbei beginnt ein Ausflippen mittels ticähnlicher Abfuhr anders offenbar nicht bewältigbarer innerer Anspannung: ausgelöst durch „nichts“. VHN 4 | 2015 282 ROLF GERMANN Schulen als Abbild gesellschaftlicher Bruchlinien DAS PROVOK ATIVE ESSAY In B stelle ich am Ende eines Schultages in mir häufig eine Art Erschöpfungszustand fest, ein Gefühl, völlig ausgelaugt zu sein. Was bewirkt diesen Zustand? Ich begann mich zu fragen: Die mir aufgetragene Stoffvermittlung unter gegenüber A deutlich erschwerten Bedingungen? Oder das Verhalten der Kinder während der Lektionen? Die Kinder in B sind schwieriger zu hüten als ein Sack voller Flöhe. Sie auf das Unterrichtsgeschehen zu fokussieren, kostet jeden Schultag enorme seelische Kraft. Sie zeigen ähnliche Zeichen mangelnder Konzentrationsfähigkeit und raschen Ausflippens in Ersatzhandlungen zur Abfuhr innerer Spannungen wie die Kinder in A, nur erheblich deutlicher, gröber auch, nicht selten in Form aggressiver Äußerungen gegenüber Mitschülern nach stets ähnlichem Muster. Wie das in A und B Beobachtete einordnen? Die Phänomene sind für mich zunächst einmal gar nicht in eine „Ordnung“ zu bringen, also sauber in einer Schublade vorhandenen Wissens zu verstauen. Sie ließen sich, weil nicht einzuordnen, auch übergehen, als „bedeutungslos“ zur Seite schieben. Das aber wäre verantwortungslos gegenüber den Kindern vonseiten eines Erwachsenen, dessen Sozialisation vor Jahrzehnten gänzlich anders verlief als diejenige, deren Einflüssen die Kinder aktuell ausgesetzt sind. Hier wird ein stilles, vielfältig begründetes Leiden der Kinder sichtbar. Es hat, für den schulischen Alltag, bei den Kindern in A notenmäßig (noch) keine deutlich erkennbaren negativen Folgen. Doch für ihre Seele? In B aber sind die Folgen spürbar. Auch notenmäßig. Wer hier längere Zeit unterrichtet, kann ganz verschieden auf die täglichen Herausforderungen reagieren, je nach Struktur seiner Persönlichkeit und deren Belastungsgrenzen. Bedingt ist seine Reaktion jedoch auch dadurch, dass das Problem nicht grundsätzlich angegangen und zuerst einmal so gründlich wie möglich offen diskutiert wird. Denn unmittelbar liegt ein gesellschaftliches Tabu auf Wahrnehmung, Einordnungsversuch und Diskussion: Sind diese Kinder überhaupt schulfähig, gemessen an den Standards, die in der hiesigen Volksschule üblich sind? Diese Frage drückt die Sorge aus um die Ermöglichung eines schulischen Erfolges für die Kinder wie die Sorge um das Ausbrennen und Resignieren von Lehrpersonen. Es droht in B ein Verlust von Freude am Unterrichten wie der Arbeit mit diesen Kindern aufgrund des alltäglich geforderten Anstehens wider „chaotische“, für die geltenden schulischen Anforderungen nicht bereite, psychisch klar zu wenig strukturierte Kinder. Dazu muss, wie der Vergleich zwischen A und B zeigt, die unterschiedliche soziale Herkunft einen wesentlichen Grund bilden. Die Erziehung und das Milieu vieler Kinder der Gemeinde B sind kaum kompatibel mit „normalen“ (= der gesetzten Norm entsprechenden) Voraussetzungen an Schulfähigkeit. Mir ist erst in B bewusst geworden, wie viel an Voraussetzungen der Schulfähigkeit ich als derart selbstverständlich erachtete, dass sie mir erst auffielen durch ihr Nichtvorhandensein. Und wie dramatisch zu kurz die Forderung nach „sprachlicher Frühförderung“ dieser Kinder greift. Gegen das „Chaos“ in diesen Kindern stehen tagtäglich Lehrer unter Aufbietung all ihrer Kräfte und darüber hinaus an, viel zu oft ohne einen nachhaltigen Erfolg wahrzunehmen. Nach einem Wochenende zu Hause, erst recht nach einer Ferienpause, scheint die basale Erziehungsarbeit als Voraussetzung des Unterrichtens gleichsam von vorne zu beginnen. Das ist das Entmutigende und Auslaugende für Lehrpersonen, daran scheitern so viele Kinder. Der Unterricht kommt immer zu spät. VHN 4 | 2015 283 ROLF GERMANN Schulen als Abbild gesellschaftlicher Bruchlinien DAS PROVOK ATIVE ESSAY Es besteht zudem eine grundsätzliche Problematik im Rahmen der schulpsychologischen Abklärung, zentriert auf das testmäßige Erheben der „Intelligenz“ wie auf die Diagnosestellung AD(H)S, und damit zur Zuteilung schulischer Fördermaßnahmen. Auch diese Problematik stellt vor die Frage, ob nicht der „Einheitsbrei“ des zürcherischen Modells „integrativer Schule“ im Bereich Primarschule in QUIMS-Schulen zugunsten der Kinder aufzugeben ist. Entweder geht die Entwicklung weiter wie bisher. Dann erhalten stets mehr und mehr Kinder das pathologisierende Etikett AD(H)S angehängt. Oder es wird im Interesse der Kinder eine andere Richtung eingeschlagen: Die Auseinandersetzung mit den Sozialisationsbedingungen der Kinder und deren Folgen findet in nötiger Breite und tabuloser Diskussion statt. Will die Schule davon betroffene Kinder integrieren, erzwingt die tiefgreifende Verschiedenheit ihrer Lebensumstände mehr als Modifikationen am Regelschulmodell: eine Ganztagesschule als erzieherische Defizite aufarbeitender, Konstanz und Geborgenheit gewährender Lebensraum und die klare Inpflichtnahme vieler Eltern, angefangen bei raschem kontrolliert verlangten Erlernen der Sprache, in denen ihre Kinder unterrichtet werden. Gutgemeinte Angebote, die freiwillig angenommen werden können oder nicht, reichen nirgends hin. Die Kinder haben Anrecht darauf, dass sie ausgeschlafen und mit einem nahrhaften Frühstück in die Schule geschickt werden, in gepflegtem Zustand, der Witterung angemessener Kleidung, mit einem elternseits kontrollierten Schulranzen. Sie haben Anrecht auf einen ruhigen Arbeitsplatz zu Hause, darauf, dass ihr Medienkonsum kindgerecht begleitet und eingeschränkt wird. Die Schule hat sich bei diesen Kindern einzumischen in die häusliche Erziehung und Pflege der Kinder, rasch, unbürokratisch, hilfreich, aber mit klaren Forderungen und rasch folgenden spürbaren Sanktionen bei Vernachlässigung der Kinder. Das bewirkte mehr als der zu bezweifelnde Nutzen so mancher teurer Fördermaßnahmen, deren untergründig mitschwingende Botschaft an Kinder und Eltern „Je mehr Schwierigkeiten (du hast/ du machst), desto mehr Fördermaßnahmen (erhältst du)“ ich als vollständig verfehlt und kontraproduktiv bewerte. 4 Schluss 1. Zum Fundament der Volksschule und in Sonderheit eines sich als integrativ deklarierenden Modelles gehören Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit. Die Schule ist meritokratisch ausgerichtet: Ein jedes Kind soll, unabhängig von seiner Herkunft, einzig und allein aufgrund seiner schulischen Leistungsfähigkeit, die gleichen Möglichkeiten dazu haben, nach der Primarschule in eine weiterführende Schulstufe zu gelangen. Dies Fundament zeigt sich im Vergleich von A und B als kaputt. In A ist das „integrative“ Schulmodell nicht mehr als eine leichte kosmetische Retusche. B ist - in völliger Verkehrung des Ausgangsgedankens - eine Art große „Sonderschule“ mit einer Minderheit „integrierter“ „normaler“ Kinder. 2. Der Begriff Integration darf nicht zum Schaden der Kinder traditionell verengt bleiben: Auch die Kinder in A haben Anrecht darauf, dass ihre seelischen Nöte in einer Lebenswelt Schule respektiert und berücksichtigt werden. Gerade eine real integrative Schule lehrte sie Gemeinschaft und soziale Rücksichtnahme. 3. Was mit Kindern in B, die einen IQ unter 75, gar 70 haben, in diesem Modell geschieht (oder eben nicht geschieht), halte ich für ein Vergehen. Hier wird ein künftiger sozialer Bodensatz „gezüchtet“. 4. Ein integratives Schulmodell, welches nicht auf die sozialen Gegebenheiten der Kinder in angemessener Weise tabulos eingeht, ist sinnlos. Gerade an den Verhältnissen in Gemeinden wie B erweist sich, dass ein flä- VHN 4 | 2015 284 ROLF GERMANN Schulen als Abbild gesellschaftlicher Bruchlinien DAS PROVOK ATIVE ESSAY chendeckendes Einheitsmodell verfehlt ist. Es verunmöglicht den Lehrpersonen, den Experten für lokale Verhältnisse, angemessen hilfreich auf die sozialen Bedingungen der Schulkinder zu reagieren. 5. Insgesamt beurteile ich diese „integrative Schule“ als Fake. Sie ist in keinster Weise kindgerecht. Das schön etikettierte Modell ist wenig mehr denn eine politisch-bürokratische Sparübung, um der Finanzierung des zuvor stetig wachsenden Sonderklassenwesens zu entkommen. Dafür wachsen jetzt die Fördermaßnahmen ins Uferlose … Anschrift des Autors Dr. theol. Dr. phil. Rolf Germann Alte Werdstrasse 1 CH-8919 Rottenschwil germannrolf@bluewin.ch
