Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2015
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Rezension: Gruntz-Stoll, Johannes; Mürner, Christian (Hrsg.) (2013): Alles wie immer? Geschichten mit Behinderung.
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2015
Martin Baumgartner
Nach Erfahrungen Témoignage Testimonianze, 1970 zum 50. Geburtstag der Pro Infirmis herausgegeben, und Im Schatten des Apfelbaums (1992) ist mit Alles wie immer? ein dritter Band mit Geschichten von Schweizer Autorinnen und Autoren über Behinderung oder vielmehr über Menschen mit einer Behinderung erschienen. Der Anlass dazu? Einzig und allein die Faszination an guter Literatur von uns Herausgebern, wie J. Gruntz-Stoll und C. Mürner im Vorwort betonen.
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VHN 4 | 2015 359 REZE NSION E N Gruntz-Stoll, Johannes; Mürner, Christian (Hrsg.) (2013): Alles wie immer? Geschichten mit Behinderung Zürich: Chronos. 175 S., € 26,- Nach „Erfahrungen - Témoignage - Testimonianze“, 1970 zum 50. Geburtstag der Pro Infirmis herausgegeben, und „Im Schatten des Apfelbaums“ (1992) ist mit „Alles wie immer? “ ein dritter Band mit Geschichten von Schweizer Autorinnen und Autoren über Behinderung oder vielmehr über Menschen mit einer Behinderung erschienen. Der Anlass dazu? Einzig und allein die „Faszination an guter Literatur von uns Herausgebern“, wie J. Gruntz-Stoll und C. Mürner im Vorwort betonen. Heitere, befremdliche, traurige, wehmütige, überraschende, nachdenklich stimmende Geschichten findet man in diesem Buch, solche, die einen zu Tränen rühren, andere, die einen ratlos zurücklassen, und wieder andere, die man schnell vergessen hat. 24 Schweizer Autorinnen und Autoren haben der Anfrage der Herausgeber Folge geleistet und je eine Geschichte geliefert, wovon die meisten speziell für diese Anthologie geschrieben worden sind (ein paar wenige andere sind Ausschnitte aus größeren, bereits veröffentlichten Werken). Die Texte sind alphabetisch nach dem Nachnamen des Verfassers oder der Verfasserin angeordnet, von Acklin bis Wyss: ein einfaches, aber in diesem Fall äußerst sinnvolles System, da es von vornherein eine Hierarchisierung (nach welchen Kriterien auch immer) ausschließt und jede Geschichte als gleichwertig erscheinen lässt. Der Leser, die Leserin erstellt nachher sowieso eine ganz persönliche Rangliste der Favoriten. VHN 4 | 2015 360 REZE NSION E N So unterschiedlich wie die Autorinnen und Autoren sind auch die literarischen Gattungen: Sie reichen vom Fallbericht, wie man ihn zuweilen in Heilpädagogik-Lehrbüchern findet, über Portraits, autobiografische Skizzen und Szenen aus dem (nicht immer ganz alltäglichen) Alltag bis hin zu phantastisch anmutenden Schilderungen mit überraschendem Ausgang. Man begegnet jungen und alten Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen oder mit Demenz, fröhlichen und traurigen, und ihren Angehörigen und Freunden mit ihren Freuden und Sorgen, wie sie auch im nicht behinderten Zusammenleben auftreten. Man könnte jetzt natürlich die ketzerische Frage stellen, ob es im Zeitalter der Inklusion und der Dekategorisierung überhaupt noch ein Lesebuch mit „Geschichten mit Behinderung“ - so der Untertitel - braucht oder ob man damit nicht wieder eine Art Ghetto schafft und behinderte Menschen in den Fokus stellt, in den sie eigentlich nicht gehören? Was ist die Absicht des Buches? Will es Verständnis für die Situation Behinderter wecken? Dann schösse es sicher am Ziel vorbei, denn es ist anzunehmen, dass es höchstwahrscheinlich (fast) nur von Leuten gelesen wird, die ohnehin für das Thema sensibilisiert sind - und die es daher gar nicht bräuchten. Ich denke eher, es ist so, wie es die Herausgeber im Nachwort sagen: „Gute Literatur ist nicht identisch mit guten Absichten.“ Und nur darum geht es letztlich, wie schon zu Beginn erwähnt, um gute Literatur. Ob dieser Anspruch eingelöst worden ist, mag jeder Leser, jede Leserin für sich selbst entscheiden. Es lohnt sich. Lic. phil. Martin Baumgartner CH-1700 Freiburg DOI 10.2378/ vhn2015.art43d
