eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 84/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2015.art04d
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2015
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Mit Leitlinien die Selbstbestimmung stärken?

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2015
Monika T. Wicki
Simon Meier
Mit dem demografischen Wandel nimmt auch die Anzahl älterer Menschen mit Behinderung zu. Viele von ihnen leben in Einrichtungen der Behindertenhilfe. Da Daten über die palliative Versorgung von unheilbar kranken oder alten, sterbenden Menschen in Wohnheimen der Behindertenhilfe fehlen, war es das Ziel der Studie PALCAP, in den Wohnheimen die Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Erwachsenen mit Behinderung an ihrem Lebensende zu untersuchen. Den Leitenden der Wohnheime der Behindertenhilfe in der Schweiz wurde ein Fragebogen zugeschickt. 58 % der angeschriebenen Wohnheime haben geantwortet (N =254). Die Befragung ergab, dass die Wohnheime Maßnahmen ergriffen haben, um mit den Herausforderungen umzugehen. Sie haben Leitlinien verfasst und Weiterbildungen durchgeführt. In Wohnheimen, die über Leitlinien zu Palliative Care verfügen, werden die betreuten Personen stärker in die Entscheidungen einbezogen, und es liegen mehr Patientenverfügungen vor als in Wohnheimen ohne solche Leitlinien.
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34 VHN, 84. Jg., S. 34 -45 (2015) DOI 10.2378/ vhn2015.art04d © Ernst Reinhardt Verlag Mit Leitlinien die Selbstbestimmung stärken? Effekte von Leitlinien auf Palliative Care und Entscheidungen am Lebensende Monika T. Wicki, Simon Meier Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik (HfH), Zürich Zusammenfassung: Mit dem demografischen Wandel nimmt auch die Anzahl älterer Menschen mit Behinderung zu. Viele von ihnen leben in Einrichtungen der Behindertenhilfe. Da Daten über die palliative Versorgung von unheilbar kranken oder alten, sterbenden Menschen in Wohnheimen der Behindertenhilfe fehlen, war es das Ziel der Studie PALCAP, in den Wohnheimen die Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Erwachsenen mit Behinderung an ihrem Lebensende zu untersuchen. Den Leitenden der Wohnheime der Behindertenhilfe in der Schweiz wurde ein Fragebogen zugeschickt. 58 % der angeschriebenen Wohnheime haben geantwortet (N =254). Die Befragung ergab, dass die Wohnheime Maßnahmen ergriffen haben, um mit den Herausforderungen umzugehen. Sie haben Leitlinien verfasst und Weiterbildungen durchgeführt. In Wohnheimen, die über Leitlinien zu Palliative Care verfügen, werden die betreuten Personen stärker in die Entscheidungen einbezogen, und es liegen mehr Patientenverfügungen vor als in Wohnheimen ohne solche Leitlinien. Schlüsselbegriffe: Palliative Care, Wohnheime der Behindertenhilfe, Selbstbestimmung, Entscheidungen am Lebensende Empower the Self-Determination with Guidelines? The Effects of Guidelines on Palliative Care and Decisions at the End of Life Summary: The demographic change causes an increase of the number of elderly people with disabilities. Many of them live in institutions for disabled persons. As data on palliative care for terminally ill people or elderly, dying residents in disability care homes is missing, the PALCAP study aimed at researching self-determination options of adults with disabilities in their end-of-life phase in residential homes. The directors of the disability care homes in Switzerland were provided with a questionnaire, 58 % of them responded (N = 254). The survey shows that the residential homes took action to cope with the challenges. They set up guidelines and carried out advanced training. Residential homes, which have guidelines on palliative care do better involve individuals in decision-making, and they have more patients’ provisions than residential homes without such guidelines. Keywords: Palliative care, institutions for disabled persons, self-determination, decisions at the end of life FACH B E ITR AG 1 Ausgangslage Der demografische Wandel und die damit einhergehenden Entwicklungen betreffen auch erwachsene und alte Menschen mit einer Behinderung. Im Jahr 2012 war ein Fünftel aller Personen, die in der Schweiz eine Rente der Invalidenversicherung (IV) bezogen, älter als 60 Jahre. Dies sind gut 50’000 Personen (BSV 2013). Ein Fünftel von ihnen, also rund 10’000 Personen, haben eine intellektuelle Behinderung, gemäß Definition „a group of develop- VHN 1 | 2015 35 MONIKA T. WICKI, SIMON MEIER Leitlinien zur Selbstbestimmung FACH B E ITR AG mental conditions characterized by significant impairment of cognitive functions, which are associated with limitations of learning, adaptive behaviour and skills“ (Salvador-Carulla u. a. 2011, 4). Erwachsene mit einer intellektuellen Behinderung leben besonders häufig in Einrichtungen der Behindertenhilfe; im Alter von vierzig Jahren leben bereits 75 % der Erwachsenen in einem solchen Wohnheim (Adler u. a. 2011). Für die Einrichtungen der Behindertenhilfe ist der demografische Wandel eine große Herausforderung. Es wird immer häufiger vorkommen, dass Personen, die viele Jahre in einem Wohnheim gelebt haben, dort auch ihren Ruhestand antreten und vielleicht auch im Wohnheim sterben. Weil im Alter unheilbare Krankheiten häufiger auftreten, wird der Betreuungsaufwand größer, Palliative Care wird zunehmend erforderlich. „Palliative Care verbessert die Lebensqualität von Menschen mit unheilbaren, lebensbedrohlichen und chronisch fortschreitenden Krankheiten. Sie umfasst medizinische Behandlungen, pflegerische Interventionen, psychische, soziale und spirituelle Unterstützung in der letzten Lebensphase.“ (BAG u. a. 2009, 20) Eine besondere Herausforderung sind Entscheidungen, die am Lebensende getroffen werden müssen. In mehr als der Hälfte aller Sterbefälle in der Schweiz werden Entscheidungen getroffen, die möglicherweise einen Einfluss auf die Lebensdauer der Patienten haben (van der Heide u. a. 2003). Diese Entscheidungen können die verstärkte Abgabe von Schmerzmitteln betreffen, das Beenden lebensverlängernder Maßnahmen, den Verzicht auf künstliche Ernährung oder Beatmung, die palliative Sedation oder auch assistierte Suizide. Die Herausforderung für die Pflegenden und Betreuenden in den Wohnheimen der Behindertenhilfe wird es sein, den Bewohnerinnen und Bewohnern bis zu ihrem Lebensende auch bei schwierigen Entscheidungen Selbstbestimmung zu ermöglichen. Durch das neue Erwachsenenschutzgesetz, das im Jahr 2013 in der Schweiz in Kraft trat, hat diese Aufgabe zusätzlich Gewicht erhalten. Denn das neue Erwachsenenschutzrecht hat zum Ziel, die Selbstbestimmung von Erwachsenen mit Behinderungen zu stärken, auch im Hinblick auf die Einwilligung zu medizinischen Behandlungen und bei Entscheidungen am Lebensende. Die in diesem Artikel beschriebene Studie zeigt die Ergebnisse eines ersten formalen Versuches, sich dem Themenbereich in der Schweiz zu nähern. Um die konkrete Lebenswirklichkeit der Personen mit Behinderung an ihrem Lebensende, die Entscheidungsprozesse, Herausforderungen und unterstützenden Faktoren beim Ermöglichen von Selbstbestimmung am Lebensende darstellen zu können, werden in einem zweiten Schritt der Studie problemzentrierte Interviews in Gruppen mit Betreuenden, Pflegenden und Ärzten durchgeführt. Diese Interviews werden zur Zeit noch ausgewertet und sind nicht Bestandteil des vorliegenden Artikels. 1.1 Selbstbestimmung Seit den 1970er Jahren ist Selbstbestimmung eines der Leitkonzepte in der heil- und sonderpädagogischen Forschung und Praxis. Selbstbestimmung ist das Recht, „in wichtigen Belangen des eigenen Lebens selbst Entscheidungen zu treffen“ (Osbahr 2000, 133). Das heißt: eigene Bedürfnisse äußern zu können und diese ernst genommen zu wissen, über wichtige Alltagsbelange selbst entscheiden zu können, zwischen verschiedenen Lebens-, Arbeits-, und Wohnformen wählen zu können, echte Wahlmöglichkeiten im Hilfssystem zu haben und Beratung durch andere Betroffene zu erhalten. Die Möglichkeit der Selbstbestimmung hängt nicht alleine von den Fähigkeiten der einzelnen Person ab. Die in den USA in den 1990er Jahren entwickelte funktionale Theorie der Selbstbestimmung hält fest, „dass sowohl Eigenschaften der Umwelt als auch VHN 1 | 2015 36 MONIKA T. WICKI, SIMON MEIER Leitlinien zur Selbstbestimmung FACH B E ITR AG personale Faktoren zu einer Steigerung der Selbstbestimmung beitragen“ (Shogren u. a. 2007, 489). Für Menschen mit einer intellektuellen Behinderung ist es aufgrund eingeschränkter Kommunikationsmöglichkeiten oft besonders schwierig, das Lebensende selbstbestimmt zu gestalten (Tuffrey-Wjine u. a. 2008). Eine zusätzliche Herausforderung ist die Selbstbestimmung bei Entscheidungen am Lebensende. Diesbezüglich zeigen Bekkema u. a. (2013), dass Betreuende aktiv zur Selbstbestimmung der betroffenen Personen beitragen können. 1.2 Selbstbestimmung bei medizinischen Entscheidungen In der Schweizerischen Bundesverfassung wird dem Menschen ein grundsätzliches Anrecht auf physische und psychische Integrität zuerkannt. Weil ein medizinischer Eingriff eine Körperverletzung darstellt, muss die urteilsfähige Person eine Einwilligung dazu geben und kann einen geplanten Eingriff auch verweigern (Naef u. a. 2012). Um festzulegen, was im Falle eines Verlusts der Urteilsfähigkeit geschehen soll, können urteilsfähige Personen einen Vorsorgeauftrag oder eine Patientenverfügung verfassen. Eine Patientenverfügung ist eine schriftliche Willensäußerung einer urteilsfähigen Person, mit der sie für den Fall der eigenen Urteilsunfähigkeit Anordnungen bezüglich ihrer medizinischen Versorgung trifft. Der Vorsorgeauftrag ist ein Instrument, um Anordnungen für nichtmedizinische Fragen zu treffen. Fehlen Vorsorgeauftrag und Patientenverfügung, ist gesetzlich geregelt, was getan werden muss, wenn eine Person urteilsunfähig ist und einer medizinischen Behandlung bedarf. Stellvertretend kann zunächst der Beistand oder die Beiständin handeln, dann die Ehegatten oder die eingetragene Partnerin/ der eingetragene Partner, die Person, die im gemeinsamen Haushalt lebt und ihr regelmäßig und persönlich Beistand leistet, die Nachkommen, die Eltern oder die Geschwister (Naef u. a. 2012). Müssen Entscheidungen über medizinische Eingriffe oder solche am Lebensende von Kindern und anderen urteilsunfähigen Personen getroffen werden, so ersetzt nicht der Wille der Ärzteschaft oder anderer Personen den Willen des Betroffenen. Auch Kinder können einer medizinischen Maßnahme zustimmen oder sie ablehnen, wenn sie von einer Drittperson (bspw. der Ärztin) als entscheidungs- und einwilligungsfähig eingestuft werden. Nach Damasio (1995) wird jemand dann als entscheidungsfähig eingestuft, wenn er oder sie die Optionen erkennen, die Konsequenzen abschätzen und eine Entscheidung treffen kann, die sich logisch aus den persönlichen Zielen und Gründen herleiten lässt. Einwilligungsfähigkeit ist Entscheidungsfähigkeit in einer konkreten Situation. So wird bei einer medizinischen Entscheidung jemand dann als einwilligungsfähig eingestuft, wenn er oder sie die Krankheit, deren Folgen, die Folgen der Maßnahmen und die Folgen der zu treffenden Entscheidungen versteht und den eigenen Willen formulieren kann. Ist dies nicht der Fall, müssen Ärzte und Pflegende gemäß Art. 77 nZGB den mutmaßlichen Willen der Person eruieren. Sie versuchen herauszufinden, was die betroffene Person wollen würde, wenn man sie fragen könnte. Dabei werden frühere mündliche Äußerungen der Patientin oder des Patienten, Aussagen von Personen, welche sie oder er als Vertretung in medizinischen Angelegenheiten bestimmt hat, Aussagen von anderen nahestehenden Personen und Aussagen von gesetzlichen Vertretern herangezogen. Ist aufgrund einer Notsituation keine Zeit für eine umfassende Abklärung des mutmaßlichen Willens der Person, so ist das medizinische Personal verpflichtet, im wohlverstandenen Interesse der Patientin oder des Patienten zu handeln. VHN 1 | 2015 37 MONIKA T. WICKI, SIMON MEIER Leitlinien zur Selbstbestimmung FACH B E ITR AG Auch bei Personen, die aus rechtlicher Sicht handlungsunfähig sind und über die eine umfassende Beistandschaft (früher Vormundschaft) eingerichtet wurde, ist daher zu prüfen, inwiefern sie in medizinischen Fragen entscheidungsfähig sind und welche medizinische Versorgung am Lebensende sie wünschen bzw. ablehnen. 2 Palliative Care in den Wohnheimen der Behindertenhilfe In den letzten 15 Jahren wurden verschiedene Studien über Palliative Care von Menschen mit einer intellektuellen Behinderung, die in Wohnheimen der Behindertenhilfe leben, durchgeführt (Tuffrey-Wijne 2003). Die Studien zeigen, dass Schwierigkeiten in der Kommunikation (Tuffrey-Wjine u. a. 2008) und daraus folgend das präzise Erfassen von Symptomen (McCarron u. a. 2011) dazu führen, dass Krankheiten und Ängste oft erst spät erkannt werden. Die Betreuenden in den Wohnheimen fühlen sich durch die Komplexität der Pflegesituationen bei sterbenden Personen oft überfordert und benötigen in der Pflege, im Umgang mit Schmerzen und der Ernährung, bei der Palliativen Pflege und bei Entscheidungen am Lebensende Unterstützung (Todd 2000; Ryan u. a. 2011). Eine mögliche Folge dieser Schwierigkeiten ist, dass Personen mit einer intellektuellen Behinderung öfter ins Spital überführt werden als andere (Patti u. a. 2010). D’Haene u. a. (2010) untersuchten das Vorhandensein und die Inhalte von Leitlinien zu Palliative Care und Entscheidungen am Lebensende sowie von Weiterbildungen zu diesen Themen in Wohnheimen der Behindertenhilfe in Flandern (Belgien). Sie zeigen, dass 2007 in etwa einem Drittel der Wohnheime Leitlinien zu Palliative Care und Entscheidungen am Lebensende vorhanden waren. In knapp der Hälfte der Wohnheime waren Weiterbildungen zu diesen Themen durchgeführt worden. Wagemans u. a. (2010) befassten sich mit der Anzahl und Art getroffener Entscheidungen am Lebensende von Erwachsenen mit einer intellektuellen Behinderung in einem Wohnheim mit über 300 Bewohnerinnen und Bewohnern in den Niederlanden. Es wurde festgestellt, dass bei 58 % der Todesfälle Entscheidungen getroffen worden waren. Dies ist ein höherer Anteil als in der durchschnittlichen holländischen Bevölkerung. In dieser wurden bei 44 % aller Todesfälle Entscheidungen am Lebensende getroffen (van der Heide u. a. 2003). Wagemans u. a. (2010) fanden keine Hinweise darauf, dass die Personen mit Behinderung in die Entscheidungsprozesse einbezogen worden waren. Bis anhin gibt es keine Daten über die palliative Versorgung von unheilbar kranken oder alten, sterbenden Menschen in Wohnheimen der Behindertenhilfe in der Schweiz und über Möglichkeiten der Selbstbestimmung Erwachsener mit einer Behinderung an ihrem Lebensende in Wohnheimen. Um sich der Problematik zu nähern, wurde mit der Studie „PALCAP - PALliative CAre for People with intellectual disabilities“ ein erster Schritt getan. 2.1 Zielsetzungen der Studie Ziel des Forschungsprojektes PALCAP, das im Rahmen des Nationalen Forschungsprogrammes NFP 67 „Lebensende“ durchgeführt wird, ist, die Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Erwachsenen mit Behinderung, die in Wohnheimen der Behindertenhilfe leben, an ihrem Lebensende zu untersuchen. Dabei werden vier zentrale Fragen verfolgt: n Die Datenlage zur Versorgungsplanung ist unzureichend. Um einen Einblick in die Angebote zu erhalten, wurde der Anteil derjenigen Wohnheime der Behindertenhilfe erhoben, in denen Erwachsene mit einer Behinderung bis an ihr Lebensende wohnen können. VHN 1 | 2015 38 MONIKA T. WICKI, SIMON MEIER Leitlinien zur Selbstbestimmung FACH B E ITR AG n Ebenso wurde gefragt, welche Maßnahmen die Wohnheime der Behindertenhilfe ergriffen haben, um das Sterben im Wohnheim zu ermöglichen. n Weil viele Menschen das Bedürfnis haben, über ihre letzte Lebensphase und über den Zeitpunkt und die Art ihres Sterbens selbst zu bestimmen, stellt sich auch bezüglich der Wohnheime der Behindertenhilfe die Frage, welche Möglichkeiten der Selbstbestimmung Erwachsene mit einer Behinderung an ihrem Lebensende in den Wohnheimen der Behindertenhilfe in der Schweiz haben. n Zudem sollte erfasst werden, ob Leitlinien und Weiterbildungen zu Palliative Care, welche die Wohnheime möglicherweise als Maßnahmen ergriffen haben, Effekte auf die Selbstbestimmung am Lebensende der Personen mit Behinderung zeigen. 2.2 Methodisches Vorgehen Die Leiterinnen und Leiter der Wohnheime der Behindertenhilfe sollten mit einem Fragebogen befragt werden. Da aber nicht bekannt ist, in welchen Wohnheimen der Behindertenhilfe die Selbstbestimmung am Lebensende oder Palliative Care ein Thema ist, wurde ein dreistufiges Verfahren zur Befragung gewählt: Es wurden eine schriftliche Befragung und eine Telefonbefragung durchgeführt sowie ein Kurzfragebogen versandt. Die schriftliche Befragung wurde in Anlehnung an D’Haene u. a. (2010) und Wagemans u. a. (2010) entwickelt, um die Ergebnisse vergleichen zu können. Der Fragebogen wurde in Zusammenarbeit mit den Kooperationspartnern geprüft. Im ersten Teil des Fragebogens wurden die strukturellen Rahmenbedingungen erfasst: Es wurde nach der Möglichkeit gefragt, bis ans Lebensende im Wohnheim zu bleiben (ja/ nein/ kommt auf den einzelnen Fall an). Wurde die dritte Option gewählt, wurde zudem gefragt, aus welchem Grund einzelne Bewohnerinnen und Bewohner nicht bis an ihr Lebensende bleiben könnten. Es wurde auch nach dem Vorhandensein und den Inhalten von Leitlinien zu Palliative Care und Entscheidungen am Lebensende gefragt sowie nach der Implementation der Leitlinien durch Weiterbildung. Erfasst wurden zudem der Personalbestand (Vollzeiteinheiten), die Anzahl Wohnplätze, die Anzahl der Bewohnerinnen und Bewohner zum Zeitpunkt der Erhebung sowie deren Alter. Im zweiten Teil wurden die Anzahl verstorbener Bewohnerinnen und Bewohner innerhalb der letzten fünf Jahre sowie detaillierte Angaben zu maximal fünf Todesfällen erhoben. Zur Erfassung der realisierten Selbstbestimmung am Lebensende wurde gefragt, ob eine Patientenverfügung oder Willenserklärung vorlag (ja/ nein) und welche Entscheidungen am Lebensende getroffen wurden. Auch wurde gefragt, ob die Entscheidungsfähigkeit der sterbenden Person eruiert worden war (ja/ nein) und ob die Person auf die Entscheidungen Einfluss hatte (ja/ nein). Mit fünfstufigen Likert-Skalen wurde zudem erfasst, welche Personen in welchem Ausmaß beim Entscheidungsprozess einbezogen waren. Selbstbestimmung bei Entscheidungen am Lebensende wurde als 3-stufiger Index (0 = keine Selbstbestimmung, 1 = wenig Selbstbestimmung, 2 = viel Selbstbestimmung) gestaltet, der folgende Aspekte umfasste: Einbezug der Person mit Behinderung bei der Entscheidung, Einflussnahme der Person mit Behinderung sowie ob eine Patientenverfügung oder Willenserklärung vorlag. Die Telefonbefragung diente dazu, Wohnheime, welche die Fragebogen innerhalb von 6 Wochen nicht zurückgeschickt hatten, zu motivieren, dennoch an der Befragung teilzunehmen und, falls sie nicht bereit waren, die Gründe dafür aufzunehmen. Für die Telefonate wurde ein Protokollbogen erstellt, auf dem die Gründe notiert werden konnten: das Thema Palliative Care sei nicht relevant, es leben nur junge Menschen im Wohnheim, es gab bisher keine Todesfälle oder VHN 1 | 2015 39 MONIKA T. WICKI, SIMON MEIER Leitlinien zur Selbstbestimmung FACH B E ITR AG Personen, die stark pflegebedürftig wären, müssten verlegt werden. Mit dem Kurzfragebogen wurden die Organisationen, welche keine Zeit fanden, den ausführlichen Fragebogen zu beantworten, hinsichtlich der Möglichkeit, bis ans Lebensende im Wohnheim bleiben zu können, befragt. Es wurde erhoben, ob ein Instrument zur Erfassung der Entscheidungsfähigkeit vorhanden war (ja/ nein), ob es Leitlinien zu Palliative Care oder Entscheidungen am Lebensende gab (ja/ nein) und ob in den letzten zwei Jahren Weiterbildungen zu den Themen Palliative Care oder Entscheidungen am Lebensende durchgeführt wurden oder für das kommende Jahr geplant waren (ja/ nein). Es wurden die Anzahl Bewohnerinnen und Bewohner erfasst sowie der Anteil derer, von denen eine Patientenverfügung oder Willenserklärung vorlag. Dann wurde gefragt, wie viele Personen in den letzten fünf Jahren im Wohnheim verstorben waren und ob bei ihnen Entscheidungen am Lebensende gefällt werden mussten (ja/ nein). Die Fragebogen wurden im Oktober 2012 an 437 Adressen von Wohnheimen der Behindertenhilfe in der ganzen Schweiz zugestellt. Die Adressliste der IVSE (Interkantonale Vereinbarung für soziale Einrichtungen), Bereich B (Erwachsene Personen mit Behinderung), bei der alle Schweizer Kantone sowie das Fürstentum Liechtenstein Mitglied sind, wurde mit derjenigen von INSOS Schweiz bezüglich Haupt- und Untersitzen verglichen, um nur die Gesamtleiterinnen und -leiter anzuschreiben. Es kann davon ausgegangen werden, dass durch dieses Prozedere eine umfassende Adressliste zur Verfügung stand und mehr als 90 % aller Wohneinrichtungen für erwachsene Personen mit Behinderung in der Schweiz erreicht werden konnten. Mitte November 2012 wurden die 364 Wohnheime (83 %), die den Fragebogen noch nicht beantwortet hatten, telefonisch kontaktiert, zwölf Wohnheimen wurde der Kurzfragebogen zugestellt. 2.3 Rücklauf Die Befragung wurde Ende Januar 2013 abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt lagen total 254 Antworten (58,1 %) vor. Das waren 162 beantwortete Fragebogen 1 und/ oder 2 (37 %), 83 (19 %) telefonische Antworten und 9 beantwortete Kurzfragebogen (2,1 %). Aufgrund der drei Befragungsarten, welche unterschiedliche Fragen enthielten, und weil die ausführlichen Fragebogen von einigen Institutionen lückenhaft ausgefüllt worden waren, ist die Anzahl der Antworten für die einzelnen Fragen unterschiedlich. 233 Leitende aus den Wohnheimen beantworteten die Frage nach der Möglichkeit, bis ans Lebensende im Wohnheim bleiben zu können. Von 124 Wohnheimen liegen Angaben zu den Maßnahmen und zu einzelnen Todesfällen vor. Zur Analyse der Effekte der Leitlinien und Weiterbildungen auf die Selbstbestimmung am Lebensende wurden die fehlenden Daten durch multiple Imputationen ersetzt, sodass alle 162 beantworteten Fragebogen der schriftlichen Befragung berücksichtigt werden konnten. Die Daten wurden mit deskriptiver Statistik, Chi-Quadrat-Tests, Varianzanalysen und multiplen Regressionen analysiert. Signifikanzen wurden mit p < .05 definiert. Für die Auswertungen wurde das Statistikprogramm SPSS Version 21 verwendet. Art der Befragung Rücklauf Schriftliche Befragung Telefonbefragung Kurzfragebogen 37 % 19 % 2 % Total 58 % Tab. 1 Rücklauf (N = 437) VHN 1 | 2015 40 MONIKA T. WICKI, SIMON MEIER Leitlinien zur Selbstbestimmung FACH B E ITR AG 3 Ergebnisse Bevor die Beantwortung der Fragen erfolgt, wird die Stichprobe kurz beschrieben (Tab. 2). Die Grundlage bieten diejenigen Wohnheime, deren Leitende die schriftliche Befragung vollständig beantwortet haben (n = 124). Knapp zwei Drittel (60 %, n = 74)) sind kleine Wohnheime mit weniger als 51 Bewohnerinnen und Bewohnern, gut ein Viertel (27 %, n = 34) sind mittlere Wohnheime mit 50 bis 100 Bewohnerinnen und Bewohnern, und 13 % (n = 16) sind große Wohnheime. Das Durchschnittsalter liegt in den meisten Wohnheimen (72,6 %, n = 90) zwischen 35 und 53 Jahren, in einem Achtel der Wohnheime (12,9 %, n = 16) liegt es unter 35 Jahren, und in gut einem Achtel (14,5 %, n = 18) über 53 Jahren. Knapp die Hälfte der Wohnheime (47,6 %, n = 59) haben eine mittlere Betreuungsdichte, die zwischen 0,31 und 0,8 Vollzeitstellen (VZE) pro Bewohnerin oder Bewohner liegt. Knapp zwei Fünftel der Wohnheime (39,5 %, n = 49) haben eine hohe oder sehr hohe Betreuungsdichte, höher als 0,8 VZE pro Bewohnerin oder Bewohner. Ein Achtel der Wohnheime (12,9 %, n = 16) hat eine tiefe Betreuungsdichte, weniger als 0,3 VZE pro Bewohnerin oder Bewohner. 3.1 Wohnen bis zum Lebensende Nun geht es um die Frage, ob die Bewohnerinnen und Bewohner bis zum Lebensende im Wohnheim bleiben können. Diese Frage wurde von 38,6 % der Wohnheimleiterinnen und -leiter (n = 90) mit Ja beantwortet. 22,7 % (n = 53) gaben an, dass dies vom einzelnen Fall abhängig sei und dass die Personen bei einem hohen Pflegebedarf das Wohnheim verlassen müssten, weil die Pflege nicht gewährleistet sei. Insgesamt können die Bewohnerinnen und Bewohner jedoch in 61,4 % der Wohnheime (n = 143) auch nach der Pensionierung bleiben. Dies ist in der ganzen Schweiz ähnlich, unabhängig von der Region, von der Art der Finanzierung, der Anzahl Mitarbeitenden im Bereich Wohnen pro Bewohnerin oder pro Bewohner oder der Altersstruktur eines Wohnheimes. Wohnheime, welche ihren Bewohnerinnen und Bewohnern die Möglichkeit bieten, bis an ihr Lebensende im Wohnheim zu bleiben, unterscheiden sich jedoch bezüglich ihrer Zielgruppe. Der Chi-Quadrat-Test zeigt, dass es vor allem in denjenigen Wohnheimen möglich ist, bis ans Lebensende zu bleiben, deren Zielgruppen Personen mit schwerer mehrfacher Behinderung sind: χ 2 (1, N = 124) = 10.01, p = .001. 3.2 Leitlinien und Weiterbildungen Insgesamt ist in einem Drittel der Wohnheime (33,8 %, n = 42) mindestens eine Leitlinie zu Palliative Care oder Entscheidungen am Lebensende vorhanden. In 4,8 % der Wohnheime (n = 6) sind nur Leitlinien zu Palliative Care vorhanden, in 16,1 % der Wohnheime (n = 20) nur zu Entscheidungen am Lebensende, und in 12,9 % der Wohnheime (n = 16) sind Leitlinien zu beiden Bereichen verfügbar. Die vorhandenen Leitlinien zu Palliative Care und Entscheidungen am Lebensende sind inhaltlich recht umfassend: Im Durchschnitt werden in den Leitlinien zu Palliative Care 10 von 18 Aspekten genannt, am häufigsten Kommunika- Größe Anzahl ≤ 50 51 -100 > 100 74 34 16 Alter ≤ 34.9 Jahre 35 -44 Jahre 44.1 -53 Jahre > 53 Jahre 16 38 52 18 VZE Wohnen/ Bewohner/ in < .3 .31 -.8 .81 -1.3 > 1.3 16 59 31 18 Tab. 2 Eigenschaften der Wohnheime (n = 124) VHN 1 | 2015 41 MONIKA T. WICKI, SIMON MEIER Leitlinien zur Selbstbestimmung FACH B E ITR AG tion mit den Angehörigen und das psychische, soziale und spirituelle Wohlbefinden der Person. In den Leitlinien zu Entscheidungen am Lebensende werden durchschnittlich 4 von 8 Aspekten genannt, am häufigsten Patientenverfügungen sowie Schmerz- und Symptommanagement. Instrumente zur Erfassung der Entscheidungsfähigkeit der sterbenden Person mit Behinderung im Hinblick auf medizinische Fragen gibt es nur in sehr wenigen Wohnheimen (7,2 %, n = 9). Die drei Instrumente, die uns zugesandt wurden, sind Instrumente, die zur Erfassung der Fähigkeiten und Kompetenzen im Allgemeinen eingesetzt werden und in denen je eine bis zwei Fragen zur Selbstständigkeit in medizinischen Belangen gestellt werden. Im Jahr 2012 wurden in einem Viertel der Wohnheime (25 %, n = 31) Weiterbildungen zu Palliative Care oder Entscheidungen am Lebensende durchgeführt. Davon hat fast die Hälfte (41,9 %, n = 13) Weiterbildungen zu Palliative Care durchgeführt, ein Drittel (29 %, n = 9) zu Entscheidungen am Lebensende und ein Drittel (29 %, n = 9) zu beiden Themen. 58 % der Wohnheime (n = 54), die 2012 keine Weiterbildungen zu Palliative Care oder Entscheidungen am Lebensende durchgeführt hatten, planten solche für 2013. Falls sämtliche geplanten Weiterbildungen auch durchgeführt wurden, gab es in den Jahren 2012/ 2013 in 68,5 % der Wohnheime (n = 85) Weiterbildungen zu diesen Themen. In Bezug auf Entscheidungen am Lebensende werden am häufigsten Weiterbildungen zu den Themen Patientenverfügung (n = 40) und Lebensqualität durchgeführt oder geplant. In Bezug auf Palliative Care zu den Themen psychische, soziale und spirituelle Unterstützung der kranken oder sterbenden Person (n = 47) sowie Trauerbegleitung (n = 46). In Wohnheimen mit Leitlinien zu Entscheidungen am Lebensende oder Palliative Care werden mehr Weiterbildungen zu diesen Themen durchgeführt als in Wohnheimen ohne solche Leitlinien (Weiterbildung Palliative Care: t(75.05) = 2.73, p = .016; Weiterbildung Entscheidungen am Lebensende: t(69.75) = 2.47, p = .008). 3.3 Selbstbestimmung bei Entscheidungen am Lebensende Todesfälle gab es in etwas mehr als der Hälfte der Wohnheime (56,4 %, n = 70). Zwischen 2007 und 2012 sind in den Wohnheimen, deren Leitende die Fragebogen beantworteten, 215 Bewohner und 197 Bewohnerinnen gestorben. Das sind gut 6 % der Bewohnerinnen und Bewohner dieser Wohnheime. Zu 190 Todesfällen erhielten wir detaillierte Angaben, auch zur Selbst- und Mitbestimmung der sterbenden Person bei Entscheidungen am Lebensende. Das durchschnittliche Sterbealter liegt bei 57,8 Jahren mit einer Standardabweichung von 13,5 Jahren. Nur bei 20 % der verstorbenen Personen (n = 38) wurden keine Entscheidungen am Lebensende getroffen. Bei knapp einem Drittel (29 %, n = 55) wurde nur Schmerz- und Symptommanagement durchgeführt. Bei 51 % der Todesfälle (n = 97) wurden andere Entscheidungen am Lebensende getroffen, dabei ist jedoch nicht bekannt, inwiefern die Entscheidungen einen Einfluss auf die Lebensdauer der Patienten hatten: Verzicht auf künstliche Ernährung oder Beatmung (29,5 %, n = 56), Abbruch der Behandlung (21,5 %, n = 41), Palliative Sedation (14,7 %, n = 28) und Behandlungsabbruch ohne Zustimmung des Patienten (7,4 %, n = 14). In zwei Fällen wurde ein assistierter Suizid durchgeführt. Es ist möglich, dass bei einem Todesfall mehrere dieser Entscheidungen getroffen wurden. Bei den Entscheidungen waren der Arzt/ die Ärztin, die rechtliche Vertretung und die Bezugsperson wie auch die Pflegefachpersonen VHN 1 | 2015 42 MONIKA T. WICKI, SIMON MEIER Leitlinien zur Selbstbestimmung FACH B E ITR AG und die Angehörigen stärker einbezogen als die Patientinnen und Patienten mit Behinderung (s. Tab 3). Zwei Fünftel der Personen (42,1 %, n = 80) hatten eine Patientenverfügung/ Willenserklärung, und ebenso viele Personen hatten gemäß Aussagen der Leitungspersonen auch Einfluss auf die Entscheidung (44,2 %, n = 84). 3.4 Effekte von Leitlinien auf die Selbstbestimmung am Lebensende Mit den drei Aspekten „Ausmaß des Einbezugs der Person bei der Entscheidung“, „Vorliegen einer Patientenverfügung“ und „Patient hat Einfluss auf die Entscheidung“ wurde ein Index der Selbstbestimmung gebildet (0 = keine Selbstbestimmung, 1 = wenig Selbstbestimmung, 2 = viel Selbstbestimmung) und mit einer multinomialen logistischen Regression geprüft, welche Faktoren einen Einfluss auf die Mitbestimmung am Lebensende haben. Die Analyse zeigt, dass weder die Größe der Wohnheime, die Region noch die Anzahl Betreuungs- und Pflegepersonen pro Bewohnerin oder Bewohner Einfluss auf das Ausmaß der durch die Leitenden und Betreuenden berichteten Selbstbestimmung bei Entscheidungen am Lebensende haben. Der einzige Faktor, der in den vorliegenden Daten einen signifikanten Effekt auf das Ausmaß der Selbstbestimmung bei Entscheidungen am Lebensende hat, ist die Präsenz von Leitlinien zu Palliative Care: χ 2 (3, N = 190) = 7.74, p < .001. 4 Diskussion Ziel des Forschungsprojektes PALCAP - Palliative Pflege in den Wohnheimen der Behindertenhilfe ist es, die Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Erwachsenen mit Behinderung, die in Wohnheimen der Behindertenhilfe leben, an ihrem Lebensende zu untersuchen. Mit einer Befragung der Leiterinnen und Leiter der Wohnheime für Menschen mit Behinderung in der Schweiz wurde untersucht, ob Personen mit Behinderung auch dann in den Wohnheimen bleiben können, wenn sie stark pflegebedürftig werden, ob Leitlinien zur Pflege am Lebensende vorliegen und welche Möglichkeiten der Selbstbestimmung Erwachsene mit einer Behinderung an ihrem Lebensende in den Wohnheimen der Behindertenhilfe in der Schweiz haben. Nur ein Drittel aller Bewohnerinnen und Bewohner kann auch dann im Wohnheim bleiben, wenn sie über einen längeren Zeitraum pflegebedürftig werden. Das heißt, bei einem hohen Pflegebedarf müssen viele Personen mit Behinderung aus den Wohnheimen umziehen. Die Analysen zeigen, dass 6 % der Bewohnerinnen und Bewohner der Wohnheime jährlich sterben und dass das durchschnittliche Sterbealter mit gut 57 Jahren im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung sehr tief liegt. (Das durchschnittliche Sterbealter der Gesamtbevölkerung lag in der Schweiz 2011 bei Männern bei 80,4 Jahren und bei Frauen bei 84,6 Jahren, vgl. Bundesamt für Statistik 2014.) In den nächsten fünf Jahren werden in den Wohnhei- Stärke des Einbezugs Arzt Rechtl. Vertretung Bezugspersonen Pflegefachpersonen Angehörige Patienten Geistliche Psychologen Mittelwert SD 4.24 1.15 4.05 1.36 3.93 1.41 3.68 1.40 3.51 1.57 3.16 1.78 2.24 1.32 1.98 1.19 Tab. 3 Ausmaß des Einbezugs verschiedener Personen bei Entscheidungen am Lebensende (0 = nicht, 5 = sehr stark einbezogen) VHN 1 | 2015 43 MONIKA T. WICKI, SIMON MEIER Leitlinien zur Selbstbestimmung FACH B E ITR AG men beinahe 5000 Personen das Alter von 57 Jahren erreichen. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird ein Teil dieser Personen pflegebedürftig werden, und knapp ein Drittel davon wird in ein Alters- und Pflegeheim umziehen müssen. Einige Wohnheime reagierten bereits auf die neuen Herausforderungen: teilweise sind Leitlinien zu Palliative Care und Entscheidungen am Lebensende vorhanden, Weiterbildungen zu diesen Aspekten waren 2013 vor allem geplant. Im Hinblick auf die vorhandenen Leitlinien und durchgeführten Weiterbildungen können die Daten mit denjenigen der Studie von D’Haene u. a. (2010) verglichen werden. In der Schweiz waren 2012 in beinahe gleich vielen Wohnheimen Leitlinien vorhanden wie in Flandern 2007. In Flandern sind 2007 in 34,5 % der Wohnheime Leitlinien zu Palliative Care oder zu Entscheidungen am Lebensende vorhanden, in der Schweiz 2012 in 33,9 % der Wohnheime. Bezüglich der durchgeführten Weiterbildungen unterscheiden sich die Wohnheime in den beiden Ländern. In Flandern waren 2007 in knapp der Hälfte der Wohnheime Weiterbildungen durchgeführt worden, während dies in der Schweiz 2012 erst in einem Viertel der Wohnheime für Erwachsene mit Behinderung der Fall war. Werden die in der Schweiz in den Wohnheimen für 2013 geplanten Weiterbildungen mitberücksichtigt, so sind es 68,5 % der Wohnheime in der Schweiz, in welchen in den letzten Jahren solche Weiterbildungen durchgeführt wurden. Dies ist ein höherer Wert als D’Haene u. a. (2010) in den Wohnheimen in Flandern festgestellt hatten. Es scheint, dass die Herausforderungen, die der demografische Wandel mit sich bringt, die Wohnheime erreicht haben. Deutlich wird aber auch, dass sowohl die Entwicklung von Leitlinien als auch die Durchführung von Weiterbildungen zu Palliative Care in den Wohnheimen noch mehr Beachtung finden kann. Die Daten zu Todesfällen und Entscheidungen am Lebensende können mit den Ergebnissen der Studie von Wagemans u. a. (2010) verglichen werden. Die Autoren fanden bei 58 % der Todesfälle eine Entscheidung am Lebensende, in der Schweiz wurde in 80 % der Todesfälle eine Entscheidung getroffen. Die hohe Rate an Entscheidungen am Lebensende muss überprüft werden. Ein Problem der Studie war, dass Personen befragt wurden, die beim Thema Entscheidungen am Lebensende fachfremd waren, denn oft sind in den Wohnheimen der Behindertenhilfe Sozialpädagogen und -pädagoginnen als Leitende angestellt, die nicht medizinisch ausgebildet sind. Vielleicht wurde die Begrifflichkeit „Entscheidungen am Lebensende“ nicht medizinisch verstanden, vielleicht waren auch die durch die Ärzte getroffenen Entscheidungen und deren Begründungen nicht bekannt. Während sich die Art der getroffenen Entscheidungen in den Wohnheimen in der Schweiz 2012 nicht wesentlich von den Ergebnissen der Studie von Wagemans u. a. (2010) unterscheiden, besteht bezüglich der Präsenz von Patientenverfügungen/ Willenserklärungen in der Schweiz noch ein großer Nachholbedarf. Im niederländischen Wohnheim, welches Wagemans u. a. (2010) untersuchten, hatten 96,3 % (n = 26) der verstorbenen Personen eine Patientenverfügung. In den Wohnheimen in der Schweiz waren es nach Angaben der Leitenden und Betreuenden dagegen nur 42,1 % (n = 80). Wagemans u. a. (2010) konnten durch die Analyse der Akten keinen Einbezug der Personen mit Behinderung bei den Entscheidungen am Lebensende feststellen. Bei der vorliegenden Befragung wurde detailliert erfasst, welche Personen wie stark bei den Entscheidungen einbezogen wurden und ob die Person mit Behinderung bei den Entscheidungen einen Einfluss hatte. Dadurch konnte festgestellt werden, dass die Personen mit Behinderung bei den Entscheidungen, gemäß den Angaben der Lei- VHN 1 | 2015 44 MONIKA T. WICKI, SIMON MEIER Leitlinien zur Selbstbestimmung FACH B E ITR AG tenden und Betreuenden, sowohl einbezogen wurden als auch einen Einfluss auf die Entscheidung hatten. Der Einbezug der Personen mit Behinderung bei den Entscheidungen am Lebensende ist jedoch deutlich tiefer als derjenige der Angehörigen, der Bezugspersonen, Pflegenden, Beistände oder der Ärzte. Um die Selbstbestimmung der Erwachsenen mit einer Behinderung am Lebensende zu stärken, scheint es daher wichtig zu sein, noch häufiger Patientenverfügungen bzw. Willenserklärungen gemeinsam mit den Personen zu verfassen und Möglichkeiten der Einflussnahme und der Mitbestimmung während der Entscheidungsprozesse zu eröffnen (hierzu auch Wicki 2014). Diesbezüglich ist der geringe Anteil an vorhandenen Instrumenten zur Erfassung der Entscheidungsfähigkeit der Personen ebenfalls ein zu optimierender Aspekt. Es wird in einem ersten Schritt vor allem darum gehen müssen, einen spezifischen Leitfaden für die Gesprächsführung mit den Personen zur Erfassung der Entscheidungsfähigkeit zu konzipieren und diesen den Wohnheimen zur Verfügung zu stellen. Die Befragung der Wohnheime der Behindertenhilfe in der Schweiz hat gezeigt, dass sich viele Leitende und Betreuende des demografischen Wandels bewusst sind und Maßnahmen ergriffen haben, den daraus folgenden Herausforderungen zu begegnen. In Wohnheimen, in denen Leitlinien zu Palliative Care vorhanden sind, ist die durch die Leitenden und Betreuenden deklarierte Selbstbestimmung von Personen mit einer Behinderung bei Entscheidungen am Lebensende signifikant höher als in Wohnheimen, in denen keine solchen Leitlinien vorhanden sind. Dieses Ergebnis sollte daraufhin geprüft werden, ob die Selbstbestimmung am Lebensende in den Wohnheimen mit Leitlinien zu Palliative Care auch aus der Sicht der Bewohnerinnen und Bewohner bzw. der Angehörigen höher ist oder ob dies nur aus der Sicht der Leitenden und Pflegenden der Fall ist. Die Online-Befragung im Rahmen des Projektes PALCAP stellt einen ersten formalen thematischen Einstieg dar. Um aber die Lebenswirklichkeiten der betroffenen Personen erfassen zu können, müssen im Anschluss an die Befragung qualitative Studien durchgeführt werden. Im Rahmen des Projektes PALCAP werden problemzentrierte Gespräche mit Betreuenden und Pflegenden in Gruppen durchgeführt, um gute Beispiele im Hinblick auf Selbstbestimmung bei Entscheidungen am Lebensende von Personen mit Behinderung - insbesondere mit einer intellektuellen Behinderung - beschreiben zu können. Ziel ist es, darzustellen, wie Palliative Pflege und Betreuung im Verbund mit einer hohen Selbstbestimmung am Lebensende in den Wohnheimen der Behindertenhilfe umgesetzt werden kann. Literatur Adler, J.; Bernath, K.; Steiner, J.; Wicki, M. T. (2011): Heilpädagogik im Einflussbereich des demographischen Wandels. In: Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik 17(2), 11 -18 BAG / Bundesamt für Gesundheit und Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) (2009): Nationale Strategie Palliative Care 2010 -2012. Bern: BAG Bekkema, N.; de Veer, A. J. E.; Hertogh, C. M. P. M.; Francke, A. L. 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