Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2015.art05d
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Vorurteile und Stereotypen in der Behindertenhilfe
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Christophe Roulin
Stefania Calabrese
In der Behindertenhilfe arbeiten überdurchschnittlich viele Mitarbeitende mit Migrationshintergrund. Ohne sie wären viele Institutionen kaum mehr funktionsfähig. Personal mit Migrationshintergrund wird dabei auf allen Qualifikationsstufen eingesetzt, so auch im Bereich der Heil- und Sozialpädagogik. Studien zu Fachkräften der Sozialen Arbeit mit Migrationshintergrund in der Behindertenhilfe gibt es kaum. Der vorliegende Artikel fokussiert auf Zuschreibungen sowie Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen, welchen die betreffenden Mitarbeiter/innen in ihrem Arbeitsalltag ausgesetzt sind. Es wird aufgezeigt, wie sie Differenzerfahrungen wahrnehmen und damit umgehen und welche Auswirkungen diese Erfahrungen auf die professionelle Betreuung und Begleitung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen haben.
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46 VHN, 84. Jg., S. 46 -56 (2015) DOI 10.2378/ vhn2015.art05d © Ernst Reinhardt Verlag Vorurteile und Stereotypen in der Behindertenhilfe Umgang von Fachkräften der Sozialen Arbeit mit Differenzerfahrungen Christophe Roulin, Stefania Calabrese Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Olten Zusammenfassung: In der Behindertenhilfe arbeiten überdurchschnittlich viele Mitarbeitende mit Migrationshintergrund. Ohne sie wären viele Institutionen kaum mehr funktionsfähig. Personal mit Migrationshintergrund wird dabei auf allen Qualifikationsstufen eingesetzt, so auch im Bereich der Heil- und Sozialpädagogik. Studien zu Fachkräften der Sozialen Arbeit mit Migrationshintergrund in der Behindertenhilfe gibt es kaum. Der vorliegende Artikel fokussiert auf Zuschreibungen sowie Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen, welchen die betreffenden Mitarbeiter/ innen in ihrem Arbeitsalltag ausgesetzt sind. Es wird aufgezeigt, wie sie Differenzerfahrungen wahrnehmen und damit umgehen und welche Auswirkungen diese Erfahrungen auf die professionelle Betreuung und Begleitung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen haben. Schlüsselbegriffe: Differenzerfahrung, Vorurteile, Stereotypen, Migration, Behindertenhilfe Prejudices and Stereotypes in Institutions Serving People with Disabilities. Experiences of Difference and Professional Handling Summary: An above average of the employees in institutions serving people with disabilities have a migration-background. Without them these institutions would hardly be functional anymore. Staff with migration background can be found on all qualification levels including the area of special needs education. There are hardly any studies highlighting professionals of social work with migration background in the mentioned institutions. The present article focuses on cultural attributions and the experience of difference as well as on exclusion and discrimination experienced by these professionals in their daily work. It will be shown how they perceive and handle experiences of difference, and how these experiences influence the professional care of people with intellectual disabilities. Keywords: Experience of difference, prejudices, stereotypes, migration FACH B E ITR AG 1 Ausgangslage Forschung in der Sozialen Arbeit befasst sich mit Migrant/ innen vor allem vor dem Hintergrund von Problemsituationen und erschwerten Lebenslagen. Der Umgang mit Migrantinnen und Migranten wird dabei von Fachpersonen Sozialer Arbeit als besondere Herausforderung wahrgenommen, die mit vielen Unsicherheiten verbunden ist. Fragen nach angemessenem professionellen Handeln, interkulturellen Kompetenzen und, auf institutioneller Ebene, der interkulturellen Öffnung von Einrichtungen der Sozialen Arbeit werden im Zusammenhang mit der Klientel behandelt (Braun 2009, 265). Wird der Forschungsschwerpunkt auf Fachleute mit Migrationshintergrund gelegt, wird dies vor allem im Kontext der Notwen- VHN 1 | 2015 47 CHRISTOPHE ROULIN, STEFANIA CALABRESE Vorurteile und Stereotypen in der Behindertenhilfe FACH B E ITR AG digkeit interkultureller Öffnung und der Forderung, Fachpersonal mit Migrationshintergrund einzustellen, abgehandelt. In diesem Zusammenhang wird sozialarbeitenden Fachleuten eine „spezifische Kompetenz in der Arbeit mit Migrant/ innen im Allgemeinen bzw. mit Migrant/ innen desselben natio-ethno-kulturellen Hintergrundes unterstellt“ (Braun 2012, 299). Die Unterstellung dieser herkunftsbezogenen Kompetenz geht einher mit einer „kulturalisierenden Festlegung des Sozialpädagogen auf eine seiner Zugehörigkeiten“ (Braun 2012, 291). Stereotypen Zuschreibungen und Vorurteilen können Fachleute der Sozialen Arbeit auch jenseits der Diskussion um interkulturelle Kompetenzen ausgesetzt sein, und in gravierenden Fällen erfahren sie auch diskriminierende und rassistische Abwertungen. Diese geraten in der Sozialarbeitsforschung kaum in den Fokus (Braun 2009, 266). Auch Forschung in der Behindertenhilfe befasst sich vorwiegend mit besonderen (doppelten) Problem- und Bedarfslagen von Menschen mit Migrationshintergrund und einer kognitiven Beeinträchtigung (u. a. Anderson 2011; Tsirigotis 2011; Isik/ Zimmermann 2010). Dabei wird darauf verwiesen, dass in den Bereichen Migration und Behinderung bereits viele Forschungsarbeiten entstanden sind, die Verzahnung dieser Gebiete aber noch wenig vorangetrieben wurde (Kohan 2012, 7). Fachleute der Sozialen Arbeit mit Migrationshintergrund sind auch in der Behindertenhilfe ein kaum untersuchtes Themenfeld. Wie viele Migrant/ innen in der Schweiz in Institutionen der Behindertenhilfe beschäftigt sind, kann nicht detailliert ermittelt werden, jedoch greift das Gesundheits- und Sozialwesen in größerem Ausmaß auf sie zurück (Dahinden u. a. 2004, 33). Dieser Sektor wäre ohne ausländische Beschäftigte kaum mehr funktionsfähig. Im Jahr 2012 besaß in der Schweiz jede fünfte Person, die in diesem Bereich arbeitet, keinen Schweizer Pass (BFS 2013). Personal mit Migrationshintergrund wird in den Institutionen der Behindertenhilfe auf allen Qualifikationsstufen eingesetzt, also etwa als Pflege-, Küchen- und Reinigungspersonal, aber auch im heil- und sozialpädagogischen Bereich. Wie vermerkt existieren nur wenige empirische Studien, die sich spezifisch mit Fachpersonen der Sozialen Arbeit mit Migrationshintergrund beschäftigen (Lutz 1991; Gaitandes 2008; Braun 2009; 2012). Im Folgenden werden Erfahrungen mit stereotypen Zuschreibungen und Vorurteilen thematisiert, welche diese Personen in Arbeitsteams in Institutionen in der Behindertenhilfe machen. Dabei wird in einem ersten Schritt die Wahrnehmung von und der Umgang mit Differenzerfahrungen behandelt. In einem zweiten Schritt werden die Auswirkungen von Differenzerfahrungen auf die Betreuung und Begleitung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung aufgezeigt. 2 Vorurteile und Stereotypen als Erzählungen von uns und ihnen Der Ausgangs- und Bezugspunkt der theoretischen Konzeption von Vorurteilen und Stereotypen ist die Geltendmachung eines Unterschiedes zwischen einer Eigen- und einer Fremdgruppe. Bei Vorurteilen und Stereotypen werden Gruppen konstruiert, denen eine Person angehört, sowie Gruppen, denen sie nicht angehört und die mit entsprechenden Merkmalen, die einen Unterschied markieren, ausgestattet sind (Markefka 1990, 7; Madubuko 2009, 76). Die Eigengruppe samt ihrer Wertorientierung wird zum Maßstab der Bewertung und der Urteilsfindung über andere Gruppen. Dabei werden vor allem Werte, die positiv konnotiert sind, zum Ausgangspunkt genommen (Markefka 1990, 7), d. h. die Eigengruppe wird mit besonders positiven Merkmalen ausgestattet. Vorurteile und Stereotypen werden zu Erzählungen von uns und den anderen. Die Zugehörigkeit zur eigenen oder zu einer Fremdgruppe kann je nach Konstellation und Kontext rasch wechseln. Jedoch bedarf es einer Kate- VHN 1 | 2015 48 CHRISTOPHE ROULIN, STEFANIA CALABRESE Vorurteile und Stereotypen in der Behindertenhilfe FACH B E ITR AG gorisierung, um das Bilden von Gruppen zu ermöglichen, also eine generelle Bereitschaft, Personen bestimmten Merkmalskategorien zuzuordnen (Petersen/ Six 2008, 21). Die Zuschreibungen basieren dabei auf nicht bestätigten, auch fehlerhaften und starren Verallgemeinerungen, die sich gegen eine Fremdgruppe oder gegen einzelne Vertreter dieser Gruppe richten (Klein/ Zick 2013, 282). Die Begriffe Stereotyp und Vorurteil können dahingehend unterschieden werden, als dass „Stereotypen lediglich eine Überzeugung beinhalten, während Vorurteile aus einer Überzeugung und zugleich einer verfestigten Meinung bestehen“ (Giordano 2005, 173). Stereotypen sind in diesem Sinne Repräsentationen von Personen oder ganzen Gruppen, die durch neue Erfahrungen, auch in direkter Interaktion mit Menschen, kaum verändert werden können. Unter Vorurteilen werden dagegen verfestigte und vorgefasste Bewertungen von Personen oder ganzen Gruppen verstanden, die oftmals eine moralische Komponente enthalten (Giordano 2005, 174). Während also bei Vorurteilen die Bewertung einer Person mitschwingt, wird bei stereotypen Zuschreibungen davon ausgegangen, dass es sich bei den zugeschriebenen Merkmalen um neutrale Informationen über eine Personengruppe handelt. Somit kann unter einem Stereotyp die Rationalisierung eines Vorurteils verstanden werden (Giordano 2005, 175). Ein mögliches Merkmal von Stereotypen bzw. Vorurteilen ist die Betonung der (vermeintlichen) kulturellen Unterschiede der betreffenden Menschen und Gruppen: „Ein kultureller Stereotyp bzw. ein kulturelles Vorurteil ist eine vorgefasste, negativ oder positiv konnotierte Überzeugung bzw. Einstellung bezüglich der kulturellen Zugehörigkeit einer Person oder der kulturellen Spezifität einer Gruppe.“ (Giordano 2005, 174) Gerade beim Benennen von Personengruppen als Menschen mit Migrationshintergrund wird davon ausgegangen, dass mit dieser Benennung alles Wesentliche über diese Gruppe ausgesagt sei und bestimmte Verhältnismäßigkeiten, Kompetenzen, Wertorientierungen, Problemlagen usw. damit verbunden seien. Festzuhalten ist diesbezüglich aber auch, dass Vorurteile und Stereotypen nicht nur Überzeugungen, Einstellungen und Bewertungen mit einer negativen diskriminierenden Konnotation sind (Giordano 2005, 174). Wenn Stereotypen und Vorurteile die gegenseitige Wahrnehmung prägen, gilt es aufzuzeigen, welche Wirkungskraft diese besitzen und welche Konsequenzen sie mit sich bringen. Im Arbeitsalltag können diese Vorurteile und stereotypen Zuschreibungen ausgedrückt oder auch nur gefühlt werden (Klein/ Zick 2013, 282). Als Merkmale der Zugehörigkeit zu Gruppen und als Abgrenzung gegenüber anderen kommen hier jeweils verschiedene Kriterien zur Anwendung, z. B. Sprachkenntnisse, soziale Herkunft, kulturelle Unterschiede, professionelle Zugehörigkeit, Beeinträchtigungen usw. Es dürften sich wie bereits vermerkt stets andere Merkmale finden und beleben lassen, um Gruppen zu unterscheiden, um Gegensätze zu konstruieren oder bewusst werden zu lassen (Markefka 1990, 7). Das Erleben von die Herkunft betreffenden Vorurteilen und stereotypen Zuschreibungen kann nun aber nicht als Vorstufe von Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen verstanden werden. Eine einfache Ursache-Wirkungs- Relation zwischen Vorurteilen, Stereotypen und Diskriminierung kann hier weder formuliert noch in der Diskriminierungsforschung eindeutig belegt werden (Petersen 2008, 192). Weder beinhaltet jedes Vorurteil und jede stereotype Zuschreibung in diesem Sinne eine diskriminierende Verhaltensabsicht, noch führen sie zu konkretem diskriminierenden Verhalten, also einem Verhalten, in dem Äußerungen und Handlungen sich in herabsetzender oder benachteiligender Absicht gegen Mitglieder bestimmter sozialer Gruppen richten (Hormel/ Scherr 2010, 7). Vorurteile und tatsäch- VHN 1 | 2015 49 CHRISTOPHE ROULIN, STEFANIA CALABRESE Vorurteile und Stereotypen in der Behindertenhilfe FACH B E ITR AG liches Verhalten müssen nicht zwangsläufig in einer Relation zueinander stehen, ja können sich gar widersprechen. So kann denn auch beim Vorliegen von Vorurteilen und stereotypen Zuschreibungen der Arbeitsalltag überwiegend konfliktlos verlaufen und frei von Diskriminierung sein (Madubuko 2009, 46). Das Erleben von stereotypen Zuschreibungen und Vorurteilen hat jedoch den Effekt, dass Migrant/ innen in der Selbstwahrnehmung ständig reflektieren, wie sie in den Augen der anderen gesehen werden (Madubuko 2009, 74). In diesem Sinne bewegen sich die Migrant/ innen zwischen Zuschreibungen, die ihnen von der Mehrheitsgesellschaft zugewiesen werden, und den Eigenschaften, die sie wirklich besitzen (Madubuko 2009, 75). Der vorliegende Aufsatz befasst sich mit den genannten Konstruktionen von erlebter Differenz in Arbeitsteams, deren Bewältigung und deren Auswirkung auf die Arbeit, sei dies in der Zusammenarbeit mit Arbeitskolleg/ innen oder in der Betreuung und Begleitung von Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung. 3 Forschungsprojekt und Methode Welchen Vorurteilen, Stereotypen, Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen Fachpersonen Sozialer Arbeit ausgesetzt sind, ist wie erwähnt noch kaum erforscht. Die hier nachfolgend diskutierten Befunde basieren auf Daten einer qualitativen Studie, die dieses Themenfeld in Einrichtungen der Behindertenhilfe untersucht hat. Im Projekt „Rassismuserfahrungen von Professionellen Sozialer Arbeit in der Behindertenhilfe“ wurden seit Juli 2013 mit neun Fachkräften der Sozialen Arbeit, welche in acht Institutionen der Behindertenhilfe beschäftigt sind, problemzentrierte Interviews geführt (vgl. Witzel 1985). Das Forschungsinteresse richtete sich auf eine spezifische biografische Erfahrung im Berufskontext. Die Befragten sollten möglichst offen über ihren professionellen Werdegang berichten, wobei mit Fragen, welche in einem Leitfaden festgehalten wurden, auf die Arbeit mit Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung und das zugrunde liegende Professionsverständnis fokussiert wurde. Ein besonderes Interesse galt der Frage, ob und in welchem Rahmen die Befragten herkunftsbezogene Differenzerfahrungen gemacht haben und wie sie diese beurteilen. Aus den generierten Erzählungen konnte rekonstruiert werden, ob die Differenzerfahrungen eine Auswirkung auf die Betreuung und Begleitung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung haben. Die Auswahl der Interviewpartner richtete sich nach dem methodologischen Grundsatz des theoretischen Samplings (Strauss/ Corbin 1996), wonach eine große Varianz innerhalb der Stichprobe angestrebt werden soll. Entscheidendes Auswahlkriterium für die Teilnahme an der Studie war das Erleben von Differenz in Einrichtungen mit kognitiv beeinträchtigten Menschen aufgrund von Vorurteilen und Stereotypisierungen, welchen die Fachkräfte seitens der Arbeitskolleg/ innen oder seitens der Klientel ausgesetzt waren. Dabei beruht die Erfahrung von Differenz und Diskriminierung auf einer subjektiven Einschätzung der Betroffenen und impliziert kein juristisches Faktum. Ausgehend von der ersten Analyse wurden theoretisch geleitet Kriterien festgelegt, um weitere kontrastierende Fälle auszuwählen. Dazu wurden die Kriterien ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Sprachkenntnisse, Umgang mit Differenzerfahrung und Bildungsgrad (Ausbildung im Herkunftsland, Diversität der letzten Abschlüsse und Weiterbildungen) berücksichtigt. Im Sample vertreten sind ausschließlich Migrant/ innen, welche in erster Generation in die Schweiz eingewandert und momentan in der Behindertenhilfe tätig sind. Der Ausbildungsgrad der einzelnen Personen weist eine große Spanne auf. Ein Studienteilnehmer hatte eine Leitungsfunktion inne, während andere noch im Vorpraktikum zu einer Ausbildung beschäftigt waren. Dies ist der Tatsache geschul- VHN 1 | 2015 50 CHRISTOPHE ROULIN, STEFANIA CALABRESE Vorurteile und Stereotypen in der Behindertenhilfe FACH B E ITR AG det, dass im Herkunftsland erworbene Diplome in der Schweiz nicht anerkannt wurden. Sieben Studienteilnehmende haben eine Ausbildung im pädagogischen Bereich abgeschlossen, welche in der Schweiz nicht anerkannt wird. Die Interviewten sind zwischen 27 und 49 Jahre alt und leben zwischen drei und 19 Jahren in der Schweiz. Differenzerfahrungen werden oftmals auf Verständigungsprobleme zurückgeführt. Die im Sample vertretenen Personen können sich alle gut bis sehr gut in Hochdeutsch ausdrücken. Die Interviews wurden aufgezeichnet und nach gängigen Transkriptionsregeln wortgetreu verschriftlicht. Ausgewertet wurden die Interviews mittels Verfahren der Grounded Theory in Anlehnung an Glaser und Strauss (2005). Das heißt, professionelles Handeln und Interagieren im Berufsalltag wurde unter Einbezug und Berücksichtigung des jeweiligen Kontextes auf der Basis von Einzelinterviews untersucht. Die Interviews wurden codiert und die geschilderten Differenzerfahrungen fallübergreifend verglichen. Dies erlaubte es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu benennen und aus miteinander vernetzten Konzepten eine Beschreibung und Erklärung des sozialen Phänomens zu geben. Die Analyse ermöglichte die Rekonstruktion von Differenzerfahrungen von Fachpersonen Sozialer Arbeit und deren Auswirkung auf ihre tägliche Arbeit. 4 Differenzerfahrungen im Arbeitsalltag Jedes Verhalten im Arbeitsalltag lässt sich als kulturelle Eigenart interpretieren. Daher erstaunt es nicht, „dass viele Probleme oder Konflikte, die im Zusammenhang von Migrant- / innen und ihren Arbeitsplätzen auftauchen, sehr schnell - und vielleicht manchmal vorschnell - mit deren Kultur erklärt werden“ (Dahinden u. a. 2004, 64). Nicht nur werden Verhaltensweisen über vermeintliche kulturelle Unterschiede erklärt, auch werden über Stereotypisierungen und Vorurteile Erwartungen an die betreffenden Personen herangetragen, wie sie sich zu verhalten hätten. Das Konfrontiertsein mit Vorurteilen und Stereotypen im Berufsalltag führte u. a. dazu, dass sich einzelne Befragte z. B. den stereotypen Erwartungen ihrer Arbeitskollegen anpassen bzw. sich mit diesen Erwartungen unaufhörlich auseinandersetzen mussten (Petersen/ Six 2008, 22). Offen kommunizierte oder gefühlte Vorurteile von Mitarbeitenden oder Klient/ innen führten mitunter zu erschwerten Arbeitsbedingungen, welche auf individueller Ebene bewältigt werden mussten (Madubuko 2009, 46). Vorurteile und Stereotype beeinflussen dabei einerseits das Verhalten der zuschreibenden Gruppe, haben aber auf der anderen Seite auch einen nachhaltigen Einfluss auf Personen, denen eine Mitgliedschaft in einer Fremdgruppe unterstellt wird (Petersen/ Six 2008, 22). So können sich Mitglieder der zuschreibenden Gruppen so verhalten, dass das erwartete stereotype Verhalten geradezu hervorgerufen und die ursprüngliche erwartete Differenz perpetuiert werden. Die Zuschreibungen, die gegen Einzelne geäußert werden, können von diesen in den meisten Fällen nicht ignoriert werden, sondern werden aufgenommen und in verschiedener Weise bewältigt. Nicht allen gelingt es dabei, gefühlte oder offen kommunizierte Vorurteile zu abstrahieren und somit die Differenzerfahrungen nicht auf die eigene Person zu beziehen (Madubuko 2009, 233). Herkunftsbezogene Ablehnungserfahrungen, so hat sich gezeigt, können in vielfältiger Art und Weise bearbeitet werden. Dabei kommen bei den Befragten verschiedene Umgangsformen zum Tragen, um sich in die Arbeitsteams zu integrieren und sich im Umgang mit den Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung zu positionieren. Nachfolgend werden zwei Reaktionsweisen auf wahrgenommene Zuschreibungen in Form von Stereotypen und/ oder Vorurteilen erläutert. Diese Reaktionsweisen werden im Folgenden mit abgrenzen und ergänzen VHN 1 | 2015 51 CHRISTOPHE ROULIN, STEFANIA CALABRESE Vorurteile und Stereotypen in der Behindertenhilfe FACH B E ITR AG sowie anpassen und einfügen benannt. Die Resultate beziehen sich nur auf den Arbeitsalltag der Befragten. Wie einführend geklärt wurde, führen nicht jedes Vorurteil und jede stereotype Zuschreibung zu diskriminierenden Verhaltensabsichten. Im Sample fühlen sich die Befragten durchaus verallgemeinernden Zuschreibungen ausgesetzt, Diskriminierung wird aber außer in Bezug auf die Einstellungsbedingungen nicht wahrgenommen. Die Befragten fühlen sich ungleich behandelt, was die Anerkennung von erworbenen Diplomen und Arbeitserfahrungen im Herkunftsland betrifft (Egger u. a. 2003, 14). Diese Nicht-Anerkennung von erbrachten Leistungen führte in einigen Fällen zu erheblichen Einkommensminderungen, und ganz generell wurde der Eintritt in den Arbeitsmarkt erheblich erschwert und war verbunden mit dem Absolvieren von Praktika und weiteren Ausbildungen. „Die Praxis der Nicht- Anerkennung von Diplomen führt grundsätzlich dazu, dass das Humankapital der betroffenen Personen auf dem Arbeitsmarkt tiefer gewertet wird.“ (Egger u. a. 2003, 14) Im Sample sind also Personen vertreten, die bereits eine sonder- oder heilpädagogische Ausbildung im Herkunftsland absolviert haben, die aber nun als Praktikant/ innen oder Fachkräfte ohne anerkannte Ausbildung beschäftigt sind. 4.1 Abgrenzen und ergänzen Die Interviewten reagierten auf subtile und konkret geäußerte Zuschreibungen mit Abgrenzungsversuchen verbunden mit der Tendenz zur Bestätigung der Vorurteile, also einer unter Vorbehalten geäußerten Betonung der Zugehörigkeit zum Herkunftskontext (Schramkowski 2007, 157ff). Das Erfahren von Differenz äußert sich bei diesen Befragten als Anerkennung von differenten Charaktereigenschaften, die auf einen spezifischen kulturellen Kontext zurückzuführen sind. Das heißt, die Betroffenen nahmen zuerst einmal die stereotypen Zuschreibungen auf, welche gegen sie gerichtet waren. In einem zweiten Schritt gelang es ihnen, diese Zuschreibungen positiv umzudeuten, und selbst Vorurteile und Zuschreibungen gegenüber der Fremdgruppe (Mitarbeitende, die sich der Mehrheitsgesellschaft zugehörig fühlen, aber auch Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung) aufzubauen. In diesem Sinne werden hier wechselwirkend Vorurteile geäußert. Vorurteile und Stereotypen gegenüber Mitarbeitenden mit Migrationshintergrund werden u. a. so formuliert, dass durch negativ konnotierte Zuschreibungen die berufliche Kompetenz angezweifelt und den Betroffenen Kompetenzen zugesprochen werden, die sie durch ihre Herkunft besäßen (Gaitanides 2008, 154). Die vorwiegend negativ konnotierten Zuschreibungen werden von den Betroffenen in ihre Selbstbeschreibung aufgenommen. Dies führt zu einer Distanzierung von der Mehrheitsgesellschaft und betont die Zugehörigkeit zu einer anderen Gruppe (Schramkowski 2007, 158). So äußert beispielsweise ein Studienteilnehmer, dass er des Öfteren aufgrund seiner Direktheit als typisch für eine Gruppe angesehen wird. „N1: Und da bin ich irgendwie - manchmal habe ich das Gefühl auch zu direkt für diese Leute. Ich - für mich bin ich überhaupt nicht zu direkt.“ Anschließend wendet er diese Zuschreibung ins Positive, indem er seine Direktheit positiv deutet und ihr eine Verschlossenheit gegenüberstellt, die einen im Unklaren darüber lässt, was die anderen denken, und die als unaufrichtig gedeutet werden kann. Solche Erzählungen, in denen Eigengruppen konstruiert und mit besonders positiven Merkmalen ausgestattet werden, finden sich in den Interviews sehr häufig und bedienen gängige Stereotypen. In ständiger Auseinandersetzung mit diesen (oftmals negativ konnotierten) Zuschreibungen, die auf vermeintlichen Charaktereigenschaften basieren, müssen sich die einzelnen Befragten in den Arbeitsteams positionieren. Um sich im Berufsalltag durchzusetzen, versuchen sie auch, VHN 1 | 2015 52 CHRISTOPHE ROULIN, STEFANIA CALABRESE Vorurteile und Stereotypen in der Behindertenhilfe FACH B E ITR AG negative Zuschreibungen zu entkräften, indem sie eine mindestens gleichwertige Arbeitsfähigkeit beweisen. Dies geschieht in mehreren Fällen, indem aufgezeigt wird, dass man das Arbeitsteam mit seinen zugeschriebenen kulturellen Merkmalen ergänzt und in der Arbeit mit Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung besondere „Fähigkeiten“ besitzt. Mit der Bezugnahme auf ihre Person betreffende Vorurteile und Stereotypen bleiben die Befragten anschlussfähig, und ganz gleich, wie sie sich verhalten, müssen sie sich auf diese Fremdzuschreibungen beziehen. Dabei findet wie erläutert eine verstärkte Orientierung am Herkunftskontext statt. Durch die positive Deutung wird es möglich, den Migrationshintergrund positiv zu konzeptualisieren (Schramkowski 2007, 160), und die Positionierung im Arbeitsteam gelingt. Die Befragten betonen also, wie sich die angeblich unterschiedlichen kulturell bedingten Charaktereigenschaften ergänzen. Dabei werden die Eigenschaften, die von den anderen Teammitgliedern als eher negativ bewertet werden, ins Positive gewendet. Dieses auf kulturelle Unterschiede zurückgeführte Verhalten wird dann als sich ergänzend zu den Defiziten in der Zusammenarbeit mit Teammitgliedern der Mehrheitsgesellschaft verstanden. Diese Prozesse beschreiben eine Passung, die in einer ambivalenten Art die jeweils eigenen positiven Eigenschaften mit den jeweiligen (negativen) Eigenschaften der anderen verbindet. Die fremdzugeschriebenen Eigenschaften werden so als komplementär zu den Eigenschaften der Mehrheitsgesellschaft beschrieben. Dies zeigt sich im folgenden Interviewausschnitt exemplarisch für die benannte Reaktionsweise abgrenzen und ergänzen: „N3: Weil das sind schon zwei Kulturen. Und das merke ich zum Beispiel auch in meinem Team, ich reagiere schneller, viel schneller. Weil hier in der Schweiz - es ist langsamer, alles langsam. So genau. (…) dann können wir diese zwei Aspekte gut kombinieren.“ Bezogen auf die erlebten Zuschreibungen reagieren diese Betroffenen mit angeblich kulturell bedingten Charaktereigenschaften, um sich in den Arbeitsteams zu positionieren. In diesem Fall wird vor allem auf die langsamen regelgeleiteten Verfahrensprozesse Bezug genommen, die einer schnellen und flexiblen Handhabung von Einzelfällen im Weg stehen (Gaitandes 2008, 158). Die negative Zuschreibung des nicht-präzisen, nicht-regelgeleiteten Arbeitens wird hier umgedeutet und es wird darauf aufmerksam gemacht, dass die anderen langsam seien. Fehlende Anerkennung und negativ konnotierte Zuschreibungen werden über eine Profilpassung kompensiert. Die Betroffenen reagieren in diesem Sinne selber mit Vorurteilen und stereotypen Zuschreibungen, welche die Mitarbeitenden wie auch die Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung betreffen. Die angeblich kulturell bedingten Charaktereigenschaften werden in dieser Angelegenheit als passgenau in der Betreuung der Klientel verstanden. So wird die Zuschreibung der mangelnden professionellen Distanz aufgenommen (Gaitandes 2008, 154) und positiv gedeutet. Folgender Interviewauszug verdeutlicht dies: „N2: Ich arbeite in einem Heim, wo nicht so sehr sozial problematische Leute sind, die auf der Verhaltensebene Probleme haben, sondern das sind wirklich Menschen, die eigentlich sehr direkt sind. Ergo ist das dann weniger ein Problem mit Ausländern, weil viele Ausländer sind, muss ich ehrlich sagen, viel direkter. Vielleicht auch näher an den Behinderten dran, ja, weil diese - ich sage mal… Kodex des Verhaltens dann weniger leben und einfach unmittelbar sind und da habe ich das Gefühl, dass das diesen Behinderten auch gut tut, weil die Art von denen ist auch mehr so als jetzt irgendwie mit irgendwelchen Rollen und so irgendwie Verhaltensmuster … irgendwie einfach ausdrücken, was sie sind. Und da merkt man irgendwie, dass man in einen Kontakt auf einer ganz anderen Ebene kommt.“ Gerade die fehlende Distanz, die eines der meistgenannten Vorurteile darstellt und sich VHN 1 | 2015 53 CHRISTOPHE ROULIN, STEFANIA CALABRESE Vorurteile und Stereotypen in der Behindertenhilfe FACH B E ITR AG u. a. in einem zu familiären Kommunikationsstil und fehlender Abgrenzung niederschlagen kann (Gaitandes 2008, 157ff), wird hier als besonders wichtig in der Betreuung und Begleitung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung angesehen. Dies bringt Zuschreibungen gegenüber der Klientel mit sich: Diese sei direkt, unmittelbar und hege keine ablehnende Haltung gegenüber Migrant/ innen. Zumindest trifft dies auf die Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in der Institution zu, in welcher der Befragte arbeitet. Aber auch Vorurteile und Stereotypen gegenüber den Mitarbeitenden werden geäußert. Die Mitarbeitenden seien zu distanziert, was eine vertrauensvolle Beziehung mit der Klientel verunmögliche (Gaitandes 2008, 158). Personen, die selber Differenzerfahrungen machen, nehmen in diesem Fall selber starke Wertungen und Zuschreibungen im Sinne von Vorurteilen und Stereotypisierungen vor. Das Erleben des Andersseins (Abgrenzung) wird also als gute Passung (Ergänzung) zur Zusammenarbeit im Team und mit der Klientel empfunden. Wer Differenzerfahrungen macht und diese als vermeintliche Charaktereigenschaft auf sich persönlich bezieht, neigt in den vorliegenden Fällen selber zu stereotypisierenden und vorurteilsbehafteten Zuschreibungen gegenüber Mitarbeitenden und auch gegenüber der Klientel. „Mit Differenzerfahrungen ist also keineswegs automatisch eine besondere Differenzsensibilität oder ein reflexives Wissen um die Bedeutung von Differenzerfahrung verbunden.“ (Braun 2012, 295) 4.2 Anpassen und einfügen Auch jene Befragten, die dazu neigen, sich anzupassen und einzufügen, nehmen Vorurteile und Stereotypisierungen wahr. Sie kennen somit die Vorurteile und stereotypen Vorstellungen über ihre Gruppe. Diese werden bestätigt, die Befragten betonen aber, dass sie selber nicht Teil dieser Gruppe seien, sondern sich anpassen und einfügen würden. Diese Reaktionsweise verweist darauf, dass ein hoher Grad an Integration angestrebt und auch erreicht wird. Die Befragten sind sehr bemüht, die Herkunft zu verbergen, sich maximal anzupassen und sich in die Arbeitsteams einzufügen (Schramkowski 2007, 158). Sie perpetuieren dabei Vorurteile, distanzieren sich aber von den negativen Zuschreibungen. In dieser Reaktionsweise wird klar, dass ihnen Anpassung und Einfügung als Möglichkeiten dienen, Anerkennung und Zugehörigkeit zur Mehrheitsgesellschaft zu erlangen (Schramkowski 2007, 159). Ablehnende, den Migrationshintergrund betreffende Äußerungen werden von den einzelnen Interviewten wahrgenommen, aber nicht auf die eigene Person bezogen. Eine Befragte äußert sich exemplarisch wie folgt dazu: „N4: Weiß nicht. Hat schon auch ein paar Gründe, weshalb ich gegangen bin. Und kann Schweizer eigentlich sehr gut verstehen, warum sie mit den Deutschen nicht immer etwas zu tun haben wollen, das muss ich auch ganz ehrlich sagen (…). Aber ich versuche auch, mich hier in der Schweiz so gut es geht anzupassen.“ Die Befragten bestätigen die gängigen Vorurteile und ablehnenden Haltungen gegenüber Migrant/ innen, betonen aber ihre Anpassungsbemühungen und distanzieren sich vom Herkunftskontext. Auch bei Vorfällen, bei denen ein Klient die Zusammenarbeit aufgrund ihrer Herkunft verweigert, reagiert die Befragte mit dem Betonen von Anpassungsbemühungen: „N4: Er konnte es halt nicht direkt äußern, warum er jetzt mir gegenüber so (ablehnend) ist. Wir haben ihn - also wir haben dann einfach miteinander abgemacht auch ihn zu verstehen, (…) ich lebe nicht in Deutschland, ich habe mich angepalso finde ich, ich habe mich angepasst, ich passe mich - ich versuche mich immer wieder anzupassen.“ Das Erfahren von Differenz in Arbeitsteams wird von diesen Befragten nicht auf vermeintlich kulturell bedingte Charaktereigenschaften zurückgeführt, sondern auf den unterschied- VHN 1 | 2015 54 CHRISTOPHE ROULIN, STEFANIA CALABRESE Vorurteile und Stereotypen in der Behindertenhilfe FACH B E ITR AG lichen im Herkunftsland erworbenen professionellen Habitus. Als maßgebend werden in diesen Fällen Differenzen empfunden, die auf unterschiedliche sonder- und heilpädagogische Ausbildungen zurückzuführen sind. Wenn die Differenzerfahrungen nicht auf persönliche Eigenschaften zurückgeführt werden, stellen sie ein „Irritationspotenzial und damit eine Chance für sozialpädagogische Professionalität dar, wenn sie dazu beitragen, ein Verständnis der Pluralität von Weltdeutungen zu erlangen und eigene Deutungen als relativ zu erkennen und zu hinterfragen“ (Braun 2009, 268f ). Falls aber die Differenzerfahrungen nicht produktiv genutzt werden können, da die verschiedenen Positionen nicht anerkannt werden, können sie für Einzelne Probleme in Arbeitsteams mit sich bringen. In diesen Fällen werden die normativen Vorstellungen und Standards von Professionalität nicht als gleichwertig verstanden (Gaitandes 2008, 154). So berichtet ein Studienteilnehmer über ein auftretendes Problem in einem Arbeitsteam im Zusammenhang mit pädagogischen Methoden an einer heilpädagogischen Schule: „N7: Weil ja im Bereich Pädagogik ist es irgendwie anders, wir (in Kuba) haben quasi Methoden - diktatorische Methoden, wir schaffen zuerst Disziplin und dann unterrichten wir. Hier unterrichten wir und dann wird Disziplin vielleicht am Ende des Kurses erwartet.“ Personen, die Differenzerfahrungen aufgrund unterschiedlicher Ausbildungen machen, nehmen selber kaum die Klientel betreffende Wertungen vor, welche sich von denen der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden würden. Das Erleben des Andersseins wird als Differenz im professionellen Selbstverständnis empfunden. Dies ist eine Möglichkeit, Differenzerfahrungen zu externalisieren und nicht als persönliche Abwertungen zu deuten. Die Klientel betreffende Zuschreibungen bilden in diesem Fall den jeweiligen spezifischen professionellen Diskurs ab und nicht persönliche Verletzungen. 5 Schlussfolgerungen Vorliegend wurde die Wahrnehmung und Verarbeitung von Stereotypen und Vorurteilen, welchen Fachleute Sozialer Arbeit mit Migrationshintergrund ausgesetzt sind, und die Auswirkung auf die Betreuung und Begleitung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in Institutionen der Behindertenhilfe thematisiert. Vorurteile und stereotype Zuschreibungen in Institutionen müssen nicht in Diskriminierung münden. Am erhobenen Datenmaterial konnte jedoch aufgezeigt werden, dass das Vorliegen entsprechender Zuschreibungen die Interaktion im Arbeitsteam beeinflusst und negative Auswirkungen auf die Betreuung und Begleitung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung hat. Personen, die latenten, subtilen oder offen kommunizierten Vorurteilen ausgesetzt sind, neigen dazu, selber vorurteilbehaftete Zuschreibungen vorzunehmen. In den Gesprächen zeigte sich, dass Personen, die Differenzerfahrungen machen und diese nicht externalisieren, sondern auf die eigene Person beziehen, selber zu ausgrenzendem Verhalten neigen. In Situationen, die von gegenseitigen Vorurteilen in Arbeitsteams geprägt sind, ist eine weiterführende und funktionierende Interaktion und Beziehung gefährdet, und es kann eine Abwertung der Klientel festgestellt werden. In diesen Fällen funktioniert die Zusammenarbeit im Team auf den ersten Blick reibungs- und konfliktlos, bei genaueren Betrachtungen zeigt sich aber ein großes Konfliktpotenzial, welches von einigen Befragten als belastend wahrgenommen wird. Es ist davon auszugehen, dass Vorurteile und stereotype Zuschreibungen in Institutionen selten offen kommuniziert werden, sondern so latent, subtil und versteckt sind, dass selbst die Zuschreibenden diese nicht registrieren und sich als frei von jeglichen Vorurteilen empfinden. In diesem Sinne ist eine Sensibilisierung von Fachkräften der Sozialen Arbeit vonnöten. Werden Vorurteile und Stereotypen nicht in VHN 1 | 2015 55 CHRISTOPHE ROULIN, STEFANIA CALABRESE Vorurteile und Stereotypen in der Behindertenhilfe FACH B E ITR AG den Institutionen thematisiert und entsprechende Hilfestellungen geboten, müssen die betroffenen Personen individuelle Bewältigungsstrategien entwickeln, welche zu Überforderung und/ oder Stresssituationen führen können. Dass der Arbeitsalltag frei von Vorurteilen und stereotypen Zuschreibungen sein kann, ist auch für die Institutionen der Behindertenhilfe ein nicht zu realisierendes Ideal. Wo aber die angestrebte Qualität in der Betreuung und Begleitung von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung gefährdet ist, sollte die Problematik angegangen werden. Weitere Forschungsarbeiten zu Differenzerfahrungen professioneller sozialer Arbeit in der Behindertenhilfe sowie deren Auswirkungen auf die Arbeitsqualität müssten zusätzliche Sichtweisen relevanter Akteure betreffend der umschriebenen Problemlage miteinbeziehen. Dabei müsste die Perspektive von Mitarbeitenden, welche sich der Mehrheitsgesellschaft zugehörig fühlen, miteinbezogen werden, um eine gesicherte empirische Grundlage zur weiteren Theoretisierung des erläuterten Phänomens zu schaffen. Auch die Perspektive von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung müsste in die Analyse einfließen. Zu vervollständigen wäre die Analyse mit dem Betrachten von institutionellen Bemühungen, Vorurteile und stereotype Zuschreibungen zu minimieren - dies evtl. im Rahmen eines Diversity Managements. Dabei wäre auch genauer zu untersuchen, wie sich die wahrgenommene Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt auf die Integration in Arbeitsteams und die alltägliche Arbeit auswirkt. Literatur Anderson, P. 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Christophe Roulin Hochschule für Soziale Arbeit FHNW Von Roll-Str. 10 CH-4600 Olten Tel. +41 (0) 62 9 57 21 27 christophe.roulin@fhnw.ch lic. phil. Stefania Calabrese Hochschule für Soziale Arbeit FHNW Von Roll-Str. 10 CH-4600 Olten Tel. +41 (0) 62 9 57 21 84 stefania. calabrese@fhnw.ch
