eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 84/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2015.art07d
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2015
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Dialog: Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung und hohem Unterstützungsbedarf: Positive Entwicklungen oder Rückschritte?

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2015
Monika Seifert
Christian Bradl
Lieber Christian, ich schreibe dir heute mit Blick auf unsere „gemeinsame Sache“, unser Engagement für Menschen, die seit jeher von Ausgrenzung betroffen bzw. bedroht sind. Menschen, die als „schwer geistig behindert“ gelten, erhebliche zusätzliche Beeinträchtigungen oder psychische Erkrankungen haben und durch ihr Verhalten auffallen. Allen gemeinsam ist, dass sie zur Bewältigung ihres Alltags auf umfassende und spezifische Unterstützung angewiesen sind.
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60 VHN, 84. Jg., S. 60 -65 (2015) DOI 10.2378/ vhn2015.art07d © Ernst Reinhardt Verlag Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung und hohem Unterstützungsbedarf: Positive Entwicklungen oder Rückschritte? Monika Seifert Berlin Christian Bradl Kerpen DIALOG Monika Seifert an Christian Bradl 10. August 2014 Lieber Christian, ich schreibe dir heute mit Blick auf unsere „gemeinsame Sache“, unser Engagement für Menschen, die seit jeher von Ausgrenzung betroffen bzw. bedroht sind. Menschen, die als „schwer geistig behindert“ gelten, erhebliche zusätzliche Beeinträchtigungen oder psychische Erkrankungen haben und durch ihr Verhalten auffallen. Allen gemeinsam ist, dass sie zur Bewältigung ihres Alltags auf umfassende und spezifische Unterstützung angewiesen sind. Die Wurzeln für dein Engagement gehen in die 1980er Jahre zurück, als du dich intensiv mit der Fehlplatzierung von Menschen mit geistiger Behinderung in Rheinischen Psychiatrischen Kliniken befasst und dich als Mitglied der DGSP (Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie) vehement für die Enthospitalisierung eingesetzt hast. Seit den 1990er Jahren bist du im Rheinland an verantwortlicher Stelle aktiv an der Gestaltung gemeindeintegrierter Lebensbedingungen für diesen Personenkreis beteiligt. Deine Veröffentlichungen zeugen nicht nur von fundierter Kenntnis der Probleme vor Ort, sie geben zugleich Impulse zur Weiterentwicklung des Erreichten. Die Wurzeln meines Engagements liegen ebenfalls in den 1980er Jahren, in Erfahrungen mit schwerer Behinderung in der eigenen Familie und der Erkenntnis, dass es unter den damals gegebenen Bedingungen für Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung und erheblichen Verhaltensauffälligkeiten nach dem Auszug aus dem Elternhaus so gut wie keine Wohnmöglichkeit außerhalb von Großeinrichtungen gab. In einer Elterninitiative setzten wir uns damals für stadtteilintegriertes Wohnen für Erwachsene mit schwerer geistiger Behinderung ein, ein Projekt, das mit seinem inklusiven Anspruch für diesen Personenkreis Neuland betrat. Die Wohn- und Lebenssituation schwer behinderter Menschen ist seitdem zum zentralen Thema meiner beruflichen Tätigkeit und meiner Forschungsarbeit geworden. Insbesondere die Kölner Lebensqualität-Studie zur Situation von Menschen mit schwerer Behinderung in Heimen hat Handlungsbedarfe aufgezeigt, die auf konzeptioneller, institutioneller und sozialpolitischer Ebene Konsequenzen einfordern. VHN 1 | 2015 61 MONIKA SEIFERT, CHRISTIAN BRADL Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung DIALOG In den 1990er Jahren führte uns das gemeinsame Engagement für Menschen mit komplexen Bedarfslagen in einem noch jungen Fachverband zusammen, in der Deutschen Heilpädagogischen Gesellschaft (DHG). Bis heute sind wir beide im Vorstand dieses Verbandes aktiv - eine lange Zeit, die die Frage provoziert: Was hat sich seit damals für Menschen mit schweren Behinderungen verändert? Sind die Forderungen Wirklichkeit geworden? Hat die UN- Behindertenrechtskonvention neue Impulse gegeben? Unbestritten ist, dass sich die Lebensbedingungen für diesen Personenkreis in den letzten 30 Jahren deutlich verbessert haben und pädagogische und therapeutische Konzepte entwickelt wurden, die zur Lösung spezifischer Problemlagen beitragen. Dennoch: Nach wie vor lebt der größte Teil dieser Menschen in Komplexeinrichtungen, meist fernab von der Gesellschaft. Wohnen und Leben in der Gemeinde ist nur für wenige Realität geworden. Vor diesem Hintergrund sind Vorhaben, die im Zeichen von Inklusion neue Wege erproben, von großer Bedeutung. Ich denke zum Beispiel an Projekte, die wir im Rahmen der Ausschreibung der DHG-Preise kennengelernt haben. Die Vielfalt der Ansätze an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen Bereichen ist beeindruckend, im Bereich des Wohnens, der Freizeit, der Bildung und der Arbeit. Teilhabe ist möglich! Dabei spielen sozialraumorientierte Vorgehensweisen mit direktem Quartiersbezug eine zentrale Rolle, insbesondere die Kooperation mit lokalen Akteuren wie Schulen, Vereinen, Zirkusbetreibern, Firmen, Kirchengemeinden, Kaufhäusern und anderen sozialen Einrichtungen. Daraus entstehen integrative Projekte, z. B. eine Sportgruppe mit der benachbarten Schule oder ein Kunstfest mit dem ortsansässigen Kulturverein oder eine Wohngruppe für Menschen mit schweren Behinderungen in einer städtischen Wohnanlage oder Arbeitsmöglichkeiten für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf an Orten des regulären Arbeitslebens. Dort bringen schwer behinderte Menschen aus Tagesförderstätten ihre individuellen Kompetenzen in sinnvolle Aktivitäten außerhalb der Sondereinrichtung ein, die für beide Seiten ein Gewinn sind, z. B. beim Papierrecycling in einem Kaufhaus oder einem Reisebüro oder durch Übernahme geeigneter Tätigkeiten in einem Tierpark. Solche Projekte begeistern und geben Hoffnung, dass wir auf dem richtigen Weg sind, Möglichkeitsräume für Teilhabe zu erschließen, und dass künftig immer mehr Menschen mit schweren Behinderungen die Chance haben werden, inmitten der Gesellschaft zu leben und als Bürgerinnen und Bürger anerkannt und willkommen zu sein. Aber - das dürfen wir nicht übersehen - innovative Ansätze vor Ort sind hinsichtlich ihrer Modellwirkung wichtig, verändern aber nicht Struktur und Haltung der Gesellschaft. Heiner Bielefeldt (2012, 158) bringt es auf den Punkt: „Es geht […] nicht mehr nur um das Öffnen von Türen und Fenstern, sondern langfristig um die Gestaltung einer Gesellschaft, in der sich alle selbstverständlich dazugehörig erleben können. Diese ,selbstverständliche Zugehörigkeit‘ (die faktisch natürlich alles andere als selbstverständlich ist! ) macht den Kern der Inklusion aus.“ Ob Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, die nicht für sich selbst sprechen können, künftig selbstverständlich dazugehören, erscheint mir mehr als fraglich. Weder im Ersten Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (2011) noch im Nationalen Aktionsplan (2011) findet die Situation dieses Personenkreises hinreichend Beachtung. Zudem fehlen aussagekräftige Daten zur gegenwärtigen Situation und zum konkreten Handlungsbedarf in diesem Bereich, die Ansatzpunkte für weiterführende Maßnahmen geben könnten. VHN 1 | 2015 62 MONIKA SEIFERT, CHRISTIAN BRADL Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung DIALOG Wie beurteilst du die Situation? Sind wir auf gutem Weg? Oder nähern wir uns - angesichts immer knapper werdender Ressourcen - einem Rollback in Zustände, die wir überwunden zu haben glaubten? Ich bin gespannt auf deine Antwort. Herzliche Grüße Monika Christian Bradl an Monika Seifert 19. August 2014 Liebe Monika, unser gemeinsames Interesse, das wir nun schon seit über 20 Jahren zusammen in der Deutschen Heilpädagogischen Gesellschaft (DHG) verfolgen, ist von dir treffend beschrieben: Auf der einen Seite Hilfe- und Handlungskonzepte in der Behindertenhilfe in Richtung der Leitziele Selbstbestimmung, Teilhabe und Inklusion voranzutreiben, auf der anderen Seite aber auch fortbestehende Missstände und Ausgrenzungen zu benennen, mit besonderem Blick auf Menschen mit geistiger Behinderung mit hohem und/ oder spezifischem Unterstützungsbedarf. Was hat sich seit damals für diese Menschen verändert? Sind die Forderungen Wirklichkeit geworden? Hat die UN-Behindertenrechtskonvention neue Impulse gegeben? Erkennbar und erfreulich ist in jedem Falle, dass in den letzten Jahren einzelne Personenkreise zumindest in der Fachwelt - Wissenschaft, Fachtagungen, Fachverbände, Fort- und Weiterbildungen - größere Aufmerksamkeit erfahren: Menschen mit komplexer Mehrfachbehinderung, Menschen mit geistiger Behinderung und herausforderndem Verhalten, Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen. Viele positive Impulse ermöglichten seit Ende der 1990er Jahre eine Reihe von sozialpolitischen und sozialrechtlichen Reformen: Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsgesetze, die Verankerung der Teilhabeorientierung im SGB IX, im Weiteren die Wohn- und Teilhabegesetze in den Ländern, schließlich die Behindertenrechtskonvention mit dem Inklusionsparadigma und mit Aktionsplänen auf allen Ebenen. Die Bürgerrechte von Menschen mit Behinderung sind in diesen Jahren enorm weiterentwickelt worden. Nicht unterschätzen sollte man auch neue Paradigmen in der Behindertenhilfe und deren konzeptionelle und praktische Konkretisierung, wie wir sie auch auf unseren DHG-Tagungen thematisiert haben: Personenorientierter Ansatz; Selbstbestimmung; Hilfe-, Assistenz- und Zukunftsplanung; Teilhabeorientierung; Sozialraumorientierung und Quartiersentwicklung. Gerade die zuletzt genannten Paradigmen bewegen dich in besonderem Maße. Ich behaupte, dass sich hier zu einem bestimmten Grad das Bewusstsein von Politik, Gesellschaft, aber auch in der Behindertenhilfe von Trägern und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern positiv verändert hat. Weiter sehe ich mit dir viele hoch engagierte Praxisbeispiele, erfolgreiche Teilhabemodelle, beispielhafte Weiterentwicklungen von Unterstützungsleistungen und Angebotsstrukturen, wie wir sie vielfach mit der DHG auf unseren Tagungen und dem DHG-Preis vorgestellt und befördert haben. Es hat überhaupt den Anschein, dass vieles, was schon seit den 1980ern aus der Selbsthilfebewegung und von fortschrittlichen Fachleuten gefordert worden ist, derzeit in größerem Umfang umgesetzt wird, sei es im Kontext selbstbewusst formulierter Rechte und Interessen von behinderten Menschen und ihren Angehörigen, sei es im Kontext fachlicher Weiterentwicklung - oder unter dem Kostendruck steigender Fallzahlen in der Eingliederungshilfe. Zunehmend mehr Komplexeinrichtungen beschreiten die VHN 1 | 2015 63 MONIKA SEIFERT, CHRISTIAN BRADL Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung DIALOG Dezentralisierung und Konversion, entwickeln regionalisierte Angebotsstrukturen, konkretisieren soziale Integration in die Gemeinden, entwickeln Wohn- und Beschäftigungsangebote auch für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf, bieten in wachsendem Umfang Unterstützung in eigenen Wohnungen an. Nach wie vor denke ich, dass wir im Rheinland Entwicklungen frühzeitig und weit vorangetrieben haben, zum einen mit den LVR-HPH- Netzen die Dezentralisierung, die Regionalisierung und den Aufbau von regionalen Hilfeverbünden, auch und gerade für Menschen mit geistiger Behinderung und hohem Unterstützungsbedarf, zum anderen in der Eingliederungshilfe des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR) mit der Umsteuerung auf individuelle Hilfeplanung, dem Aufbau ambulanter Wohnhilfen verbunden mit regionaler Koordinierung und der Etablierung von flächendeckenden Beratungsstellen (KoKoBe). Nicht zuletzt der Aufbau der Konsulentenarbeit nach niederländischem Vorbild zur Beratung von Menschen mit geistiger Behinderung, Angehörigen und Einrichtungen in schwierigen Situationen sei hier genannt. All diese positiven Entwicklungen müssen wir sehen und weiter vorantreiben, aber es gilt auch, den Blick auf die gesellschaftliche Lage, auf die gesamte Behindertenhilfe in Deutschland und auf den konkreten Lebensalltag sowie die - von dir gut beschriebene - Lebensqualität zu richten. Und hier ist meine Einschätzung im Moment viel pessimistischer. Die Formulierung von Leitbildern sowie von rechtlichen Anforderungen und Normierungen ist viel weiter fortgeschritten als die derzeit gesellschaftlich zur Verfügung gestellten Ressourcen und die konkrete Praxis in den Diensten und Einrichtungen. Politik und Gesellschaft verteilen ihre verfügbaren Ressourcen generell (Arbeitsmarkt, Migration, Globalisierung, Finanzwirtschaft) und auch innerhalb des Sozialstaats (Altenpolitik) mit anderen Prioritäten. Die zunehmende Ökonomisierung der Behindertenhilfe unterwirft auch Einrichtungen der Behindertenhilfe dem scharfen Primat der Wirtschaftlichkeit. Die wachsende Anzahl von Menschen mit Behinderungen in allen Generationen einerseits und die weitere Verknappung der Mittel für Eingliederungshilfen in den Kommunalhaushalten andererseits führen schon jetzt dazu, dass sich die Lebens- und Betreuungsbedingungen in den Diensten und Einrichtungen zunehmend verschärfen und immer weiter hinter die selbst formulierten Standards zurückfallen. Was die Situation im Alltag der Einrichtungen angeht, haben die in fortschrittlicher Absicht formulierten rechtlichen Normierungen auch eine sehr negative Wirkung: Die Fülle von Reglementierungen der Wohn- und Teilhabegesetze, ergänzt neuerdings durch Pflegestandards und Hygienebestimmungen, haben eindeutig nicht zu einer Verbesserung der Lebens- und Betreuungsbedingungen geführt. Im Gegenteil: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fühlen sich vielfach erschlagen von Qualitätsstandards, Dokumentationspflichten, zu hinterlegenden Konzepten und anderen Bestimmungen, die auch als Verlust von Energie und Zeit für direkte Unterstützungsleistungen und zwischenmenschlichen Bezug empfunden werden. Den gewachsenen Ansprüchen von Kundinnen und Kunden stehen im Alltag gerade in Einrichtungen mit hohem Anteil von Menschen mit geistiger Behinderung und hohem Unterstützungsbedarf immer weniger Realisierungsmöglichkeiten zur Verfügung, weil dafür schlicht die entsprechenden personellen und zeitlichen Ressourcen fehlen bzw. für indirekte Betreuungsleistungen eingesetzt werden müssen. All das führt meiner Erfahrung nach nicht nur zu wachsender Unzufriedenheit mit Zunahme entsprechender Verhaltenspotenziale bei den Kundinnen und Kunden, sondern auch zu wachsender Arbeitsunzufriedenheit bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. So erfolgt VHN 1 | 2015 64 MONIKA SEIFERT, CHRISTIAN BRADL Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung DIALOG in der konkreten Arbeit in vielen Wohnbereichen häufig eine Beschränkung auf das „Notwendigste“; und selbst das aufrechtzuerhalten verlangt von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu manchen Zeiten größte Anstrengung und viel Kreativität. Weitergehende Konzepte von Teilhabe, Sozialraumorientierung und Inklusion werden dann (leider) als unerreichbare Visionen oder gar neue Belastungen erlebt. In der Konsequenz ist gerade für unseren Personenkreis eine zunehmende Verschlechterung der Lebens- und der Betreuungsqualität, verbunden mit einer Abkoppelung von Inklusions- und Teilhabeprozessen, festzustellen. Ohne dass ich hier Daten vorlegen kann, leben auch weiterhin Menschen mit geistiger Behinderung mit hohem Unterstützungsbedarf zu einem großen Teil in größeren Einrichtungen der Behindertenhilfe, teils auch in reinen Pflegeeinrichtungen. Die Konzentration von Menschen mit geistiger Behinderung mit hohem Unterstützungsbedarf in Wohneinheiten oder kompletten Einrichtungen nimmt wieder erheblich zu, verstärkt auch durch eine selektive „Ambulantisierung“ sowie institutionelle Spezialisierungen. Effektiver Personaleinsatz zwingt Einrichtungen dazu, ihre Wohneinheiten bzw. Wohnverbünde größer zu gestalten, um z.B. Personalpräsenzen oder Nachtbetreuung überhaupt noch leisten zu können. Maximalgrößen werden zu Mindestgrößen. Eine spürbare Reduzierung direkter Betreuungsleistungen, also Zeit für Assistenz und Betreuung ohne Hektik, und vor allem für psychosoziale Unterstützung, für Gespräche, für präventive Krisenintervention und für begleitete Aktivitäten, verschlechtert die Betreuungsbedingungen gerade für unseren Personenkreis. Wachsende Hürden bestehen auch in der Befriedigung von intensiven Hilfebedarfen. Für spezielle Förderbedarfe, z. B. bei komplexen Behinderungen, massiv herausforderndem Verhalten, bei therapeutischer Unterstützung oder multiprofessionellen Ansätzen, lässt sich der Aufwand kaum begründen oder wird von den Kostenträgern negiert, gelegentlich sogar mit Verweis auf Inklusion und Sozialraum. Dies widerspricht nicht nur den achtenswerten und auch von der DHG vertretenen Leitzielen von Inklusion und Teilhabe für alle. Es steht auch im Widerspruch zur verbreiteten „fulminanten Inklusionsprogrammatik“, wie es Uwe Becker von der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe in seiner „Kritik an Irrwegen der Inklusionsdebatte“ (2013) formuliert hat. Zugegebenermaßen habe ich meine Einschätzungen hier sehr schwarz-weiß und holzschnittartig skizziert, um meine ambivalente Bewertung deutlich zu machen. Die jetzt angestrebte Reform der Eingliederungshilfe könnte neue Impulse bringen, wenn es nicht lediglich um eine Fiskalreform, sondern auch um eine sozialpolitische Reform zur Entwicklung eines modernen Teilhaberechts für alle geht; deshalb müssen wir uns mit der DHG offensiv daran beteiligen. Ich freue mich auf Deine kompetente Mitwirkung. Herzliche Grüße Christian Monika Seifert an Christian Bradl 25. August 2014 Lieber Christian, in deiner Einschätzung der Entwicklungen der letzten Jahre schwingen Sorge und Enttäuschung mit. Die Früchte unseres jahrelangen Engagements für Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf nehmen vor der Ernte Schaden, weil sie - im Zeichen knapper Kassen und einer zunehmenden gesamtgesellschaftlichen „Ideologie der Ungleichheit“, wie sie VHN 1 | 2015 65 MONIKA SEIFERT, CHRISTIAN BRADL Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung DIALOG Heitmeyer in seinen Studien zu Deutschen Zuständen beschreibt - der rauer werdenden Wetterlage nicht gewachsen sind. Gleichzeitig siehst du Chancen in der bevorstehenden Reform der Eingliederungshilfe, wenn es gelingt, über leistungsrechtliche Fragen hinausgehend auch sozialpolitische Eckpunkte für die Gestaltung der Hilfen zu verankern, die die Gewährleistung spezifischer Unterstützungsleistungen für Menschen mit schweren Beeinträchtigungen auf eine sichere Basis stellen. Genau diesem Themenfeld ist unsere nächste DHG-Fachtagung im Frühjahr 2015 gewidmet, die wir in Kooperation mit der DGSGB (Deutsche Gesellschaft für seelische Gesundheit bei geistiger Behinderung) durchführen. Im Mittelpunkt werden die fachlichen und konzeptionellen Herausforderungen stehen sowie die Weiterentwicklung der gegenwärtigen Unterstützungssysteme für diesen Personenkreis in den Bereichen Wohnen und Leben in der Gemeinde, Arbeit und Gesundheit, unter besonderer Berücksichtigung der Leistungen an Schnittstellen zu benachbarten Systemen, z. B. zum Gesundheitssystem, zur Pflegeversicherung und zur sozialräumlichen Infrastruktur. In der Reformdebatte muss unbedingt vermieden werden, dass Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf auf die Verliererseite geraten und in der Verwirklichung von Teilhabechancen benachteiligt werden! Dafür brauchen wir viele Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Bis bald - herzliche Grüße Monika Literatur Becker, U. (2013): Behindert oder fördert Inklusion? Eine Kritik an Irrwegen der Inklusionsdebatte. Online unter: http: / / www.diakonierwl.de/ cms/ media/ / pdf/ aktuelles/ 2013-pdf/ Zwischenrufe_3_Inklusion_Internet.pdf, 15. 9. 2014 Bielefeldt, H. (2010): Inklusion als Menschenrechtsprinzip: Perspektiven der UN-Behindertenrechtskonvention. In: Moser, V.; Horster, D. (Hrsg.): Ethik der Behindertenpädagogik. Menschenrechte, Menschenwürde, Behinderung. Eine Grundlegung. Stuttgart: Kohlhammer, 149 -166 Erster Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland (2011): Online unter: http: / / www. bmas.de/ SharedDocs/ Downloads/ DE/ staaten bericht-2011.pdf? __blob=publicationFile, 15. 9. 2014 Nationaler Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (2011): Online unter: http: / / www.bmas.de/ SharedDocs/ Downloads/ DE/ PDF-Publikatio nen/ a740-nationaler-aktionsplan-barrierefrei. pdf? __blob=publicationFile, 15. 9. 2014 Autorenanschriften Dr. phil. Monika Seifert Inselstraße 6 A D-14129 Berlin monikaseifert@gmx.de Dr. phil. Christian Bradl Deutsche Heilpädagogische Gesellschaft e.V. Am Schulzentrum 9 D-52428 Jülich christian.bradl@t-online.de