eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 84/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2015.art14d
41
2015
842

Diagnostik und Therapie von kindlichen Aussprachestörungen in der Praxis

41
2015
Isabelle Züger-Kälin
Veronika Schradi
Julia Winkes
Erich Hartmann
Kinder mit Aussprachestörungen sind eine häufige logopädische Klientel in pädagogisch-therapeutischen Handlungsfeldern. Während in der Fachliteratur verschiedene Methoden zur Diagnostik und Therapie bei kindlichen Ausspracheproblemen empfohlen werden, ist noch wenig darüber bekannt, wie Logopädinnen aussprachegestörte Kinder in der Praxis diagnostizieren und therapeutisch betreuen. Die vorliegende Erhebung schließt eine Forschungslücke, indem sie eine erste Bestandsaufnahme für die Deutschschweiz vornimmt. 331 Praktikerinnen konnten mittels online-Fragebogen zu ihrer logopädischen Praxis bei kindlichen Aussprachestörungen befragt werden. Die Erhebung ergab, dass in der Diagnostik im Allgemeinen unterschiedliche Methoden kombiniert werden, vor allem Auswertungen von Spontansprachproben und einige Aussprachetests. Die Behandlung der Kinder erfolgt überwiegend in Pull-out-Einzeltherapien, wobei vorwiegend spezifische Interventionen implementiert werden. Unspezifische Methoden, abgesehen von Mundmotorikübungen, werden vergleichsweise seltener genutzt. Die Untersuchungsbefunde sprechen insgesamt dafür, dass wesentliche Best-practice-Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie von Aussprachestörungen von den Befragten mehrheitlich berücksichtigt werden.
5_084_2015_2_0006
123 VHN, 84. Jg., S. 123 -139 (2015) DOI 10.2378/ vhn2015.art14d © Ernst Reinhardt Verlag Diagnostik und Therapie von kindlichen Aussprachestörungen in der Praxis Eine Deutschschweizer Bestandsaufnahme Isabelle Züger-Kälin, Veronika Schradi, Julia Winkes, Erich Hartmann Universität Freiburg/ CH Zusammenfassung: Kinder mit Aussprachestörungen sind eine häufige logopädische Klientel in pädagogisch-therapeutischen Handlungsfeldern. Während in der Fachliteratur verschiedene Methoden zur Diagnostik und Therapie bei kindlichen Ausspracheproblemen empfohlen werden, ist noch wenig darüber bekannt, wie Logopädinnen aussprachegestörte Kinder in der Praxis diagnostizieren und therapeutisch betreuen. Die vorliegende Erhebung schließt eine Forschungslücke, indem sie eine erste Bestandsaufnahme für die Deutschschweiz vornimmt. 331 Praktikerinnen konnten mittels online-Fragebogen zu ihrer logopädischen Praxis bei kindlichen Aussprachestörungen befragt werden. Die Erhebung ergab, dass in der Diagnostik im Allgemeinen unterschiedliche Methoden kombiniert werden, vor allem Auswertungen von Spontansprachproben und einige Aussprachetests. Die Behandlung der Kinder erfolgt überwiegend in Pull-out-Einzeltherapien, wobei vorwiegend spezifische Interventionen implementiert werden. Unspezifische Methoden, abgesehen von Mundmotorikübungen, werden vergleichsweise seltener genutzt. Die Untersuchungsbefunde sprechen insgesamt dafür, dass wesentliche Best-practice-Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie von Aussprachestörungen von den Befragten mehrheitlich berücksichtigt werden. Schlüsselbegriffe: Befragung, Aussprachestörung, Diagnostik, Therapie, Deutschschweiz Assessment and Intervention for Speech Sound Disorders: A Swiss-German Survey Summary: Among children who need a speech-language therapy, speech sound disorders represent the majority of cases. For the diagnostic evaluation of this heterogeneous group as well as for therapy, several methods are proposed in the literature. Surveys in English-speaking countries show that in practice, both for assessment and therapy, different methods were frequently used in combination. The present survey provides a first inventory of diagnostic and therapeutic practice in the German-speaking part of Switzerland. 331 speech-language pathologists working with children’s speech sound disorders were surveyed. The results show that in general, various diagnostic procedures were used, among which the assessment of spontaneous speech and several tests are the most frequent ones. Furthermore, the majority of children receive a weekly pull-out oneto-one lesson and a combination of mostly specific interventions. Unspecific methods, apart from nonspeech oral motor exercises, are rarely used. This survey indicates that Swiss-German speech-language pathologists consider many aspects of best practice recommendations. Keywords: Survey, speech sound disorders, assessment, therapy, German-speaking Switzerland FACH B E ITR AG VHN 2 | 2015 124 ISABELLE ZÜGER-KÄLIN U. A. Diagnostik und Therapie kindlicher Aussprachestörungen FACH B E ITR AG 1 Problemkreis kindliche Aussprachestörungen Kinder mit Ausspracheproblemen gehören zur häufigsten Klientel von Kindersprachtherapeutinnen. Gemäß englischsprachiger Literatur können sie je nach Altersstufe 50 - 70 % des logopädischen Caseloads ausmachen (Baker/ McLeod 2004; Joffe/ Pring 2008; Mann Brumbaugh/ Bosma Smit 2013). Bezogen auf die Gesamtheit aller Kinder eines Jahrgangs weisen zwischen 5 % (Welling/ Grümmer 2007) und 7,5 % (Shriberg/ Kwiatkowski 1994) eine Aussprachebeeinträchtigung auf. Kommunikationsschwierigkeiten und Störungsbewusstsein sind bei Kindern mit ausgeprägten Sprechproblemen eher die Regel als die Ausnahme. Persistierende Aussprachestörungen gehen oft mit negativen sozial-emotionalen Folgen einher (McCormack u. a. 2009) und bergen ein erhöhtes Risiko für Probleme beim Schriftspracherwerb (Hartmann 2002). Eine beeinträchtigte Aussprachefähigkeit kann somit vielschichtige Auswirkungen auf die Ebenen der Aktivität und Partizipation gemäß ICF nach sich ziehen (Schauß-Golecki 2009). Diese und weitere Befunde (z. B. Fehlen von Spontanremissionen) unterstreichen die Notwendigkeit von frühen und effektiven Interventionen für aussprachegestörte Kinder (Fox 2007; Mann Brumbaugh/ Bosma Smit 2013). Kinder mit Sprechproblemen bilden bekanntermaßen eine heterogene Gruppe. Es wurden verschiedene Versuche der Subgruppenklassifikation unternommen, wobei vor allem die folgenden relevant sind (vgl. Baker u. a. 2001; Fox 2007; Howard 2010): a) Klassifikation nach Schweregrad (z. B. partielle, multiple und universelle Dyslalie), b) medizinische Klassifikation nach organischen oder funktionellen Ursachen, c) linguistische Klassifikation zwischen Störungen der motorischen Lautbildung (phonetisch) und Störungen der linguistisch-strukturellen Organisation von Sprachlauten (phonologisch) und d) psycholinguistische Klassifikation mit Fokus auf Output und zugrundeliegende Informationsverarbeitungsprozesse. In Anbetracht der verschiedenen Klassifikationsansätze erstaunt es nicht, dass die diagnostischen Konzepte und Termini bezüglich Aussprachestörungen in Literatur und Praxis heterogen sind. Für die geplante Befragung war daher eine vorgängige Klärung des interessierenden Phänomens der (funktionellen) Aussprachestörung unumgänglich. In Anlehnung an Wildegger- Lack (2001) wurde den Teilnehmenden eine linguistisch basierte Begriffsbestimmung bzw. Klassifikation präsentiert, die zwischen phonetischer (motorischer, perzeptiver), phonologischer (lautstruktureller) und kombinierter phonetisch-phonologischer Störung differenziert. Dieser in der Praxis wohl weitgehend bekannte Vorschlag erschien auch sinnvoll, weil er dem Umstand Rechnung trägt, dass phonetische Störungen funktionell oder organisch bedingt sein können. Zudem wird berücksichtigt, dass phonetische Störungen mit myofunktionellen Problemen einhergehen können, beide Phänomene jedoch auch unabhängig voneinander auftreten. Darüber hinaus bringt die Kategorie der phonetisch-phonologischen Störung zum Ausdruck, dass sich Ausspracheprobleme auch als kombinierte Beeinträchtigungen manifestieren können. In diesem Fall ist die differentialdiagnostische Abgrenzung zwischen phonetischen und phonologischen Anteilen oft nur schwer möglich (Wildegger-Lack 2001). 2 Diagnostik und Therapie von Aussprachestörungen in der Fachliteratur 2.1 Diagnostische Möglichkeiten und Empfehlungen Derzeit liegen nicht genügend wissenschaftliche Daten vor, um das „beste“ evidenzbasierte diagnostische Vorgehen bei kindlichen Aussprachestörungen benennen zu können. In der Fachliteratur besteht aber Konsens, dass im VHN 2 | 2015 125 ISABELLE ZÜGER-KÄLIN U. A. Diagnostik und Therapie kindlicher Aussprachestörungen FACH B E ITR AG Sinne von best practice verschiedene Methoden hypothesengeleitet kombiniert werden sollen, welche aber alle Vor- und Nachteile haben. Dazu gehören neben der Anamneseerhebung insbesondere standardisierte Aussprachetests sowie informelle und systematische Spontansprachanalysen, die sich über die Eingangsdiagnostik hinaus auch für die Therapieevaluation nutzen lassen. Ergänzend sind weitere Untersuchungsmethoden zur Klärung von Bedingungshintergründen und Begleitproblemen bei Aussprachestörungen erforderlich (Hacker/ Wilgermein 2002; Joffe/ Serry 2004; Romonath 2007). Die im deutschsprachigen Raum verfügbaren Verfahren zur Aussprachediagnostik beziehen sich auf die Funktionsebene. Informationen zu den Ebenen Aktivität und Partizipation im Sinne der ICF können Fachleute demgegenüber durch Beobachtungen und Gespräche mit den Betroffenen selbst und deren Bezugspersonen gewinnen (Schauß-Golecki 2009). Eine Besonderheit der Aussprachediagnostik in den deutschsprachigen Ländern ist ein Mangel an altersnormierten Untersuchungsverfahren. Abgesehen von der PLAKSS (Fox 2005) lassen Instrumente wie der AVAK (Hacker/ Wilgermein 1999), die LOGO-Ausspracheprüfung (Wagner 1995) und der SCHUBI Artikulationstest (Willikonsky 2006), die auch für einzelne Schweizer Dialekte existieren, eine Normierung vermissen. Sprachtherapeutinnen, die solche oder andere informelle Verfahren nutzen, müssen diese Lücke durch ihr Fachwissen schließen (Romonath 2007). Ergänzend zur Beurteilung der Aussprachefähigkeit werden weitere Schritte empfohlen, um das Bild zu vervollständigen und eine fundierte Therapieplanung zu ermöglichen: Überprüfung der Lautdifferenzierung bzw. der phonematischen Unterscheidungsfähigkeit und der Stimulierbarkeit von Lauten, Evaluation der phonologischen Bewusstheit sowie ggf. eine myofunktionelle Diagnostik. Bei Verdacht auf organische Sprechstörungen sind medizinische Zusatzuntersuchungen angezeigt. Sollten sich im diagnostischen Prozess Hinweise auf weitere Sprachauffälligkeiten ergeben, sind diese eingehender zu diagnostizieren (Joffe/ Serry 2004; Weinrich/ Zehner 2005; Jahn 2007). 2.2 Therapeutische Methoden und Bausteine Im engen Sinn lässt sich zwischen phonetischen und phonologischen Ansätzen bzw. Methoden bei Aussprachestörungen unterscheiden (Joffe/ Serry 2004; Bernthal u. a. 2009). Traditionelle, phonetische Interventionen zielen auf Einzellaute ab, die noch nicht (korrekt) gebildet werden können und daher Schritt für Schritt erarbeitet werden. Klassische Elemente dieser Therapie sind die perzeptive Unterscheidung bzw. Lokalisation von Ziellauten, die Lautanbahnung und die Lautstabilisierung (isoliert, Silben-, Wort-, Reihensatz- und Spontansprachebene). Phonologische Interventionen fokussieren demgegenüber auf linguistisch-kognitive Aspekte, d. h. auf die Phoneme und deren Funktion (Bedeutungsunterscheidung) und Organisation in der Sprache. Zu den bekanntesten phonologischen Therapieverfahren bzw. Bausteinen gehören die Arbeit mit Minimalpaaren, die Erarbeitung und Symbolisierung von Phonemen bzw. distinktiven Merkmalen und die Förderung metaphonologischer Kompetenzen. In der phonetischen wie in der phonologischen Therapie gelangen spezifische Modellierungs- und Feedbacktechniken zum Einsatz (Mann Brumbaugh/ Bosma Smit 2013). In der deutschsprachigen Literatur werden neben der klassischen Artikulationstherapie nach van Riper/ Irwin (1984) vor allem die Minimalpaartherapie, das Metaphon-Konzept (Jahn 2007) und die Psycholinguistisch orientierte Phonologie Therapie (P.O.P.T.) (Fox 2007) empfohlen. Unklar ist, inwieweit Logopädinnen je- VHN 2 | 2015 126 ISABELLE ZÜGER-KÄLIN U. A. Diagnostik und Therapie kindlicher Aussprachestörungen FACH B E ITR AG weils strikt an einem dieser Konzepte festhalten. Im Lichte erfolgter Befragungsstudien (vgl. Kap. 3) ist zu vermuten, dass Praktiker/ innen vielmehr eklektisch bzw. pragmatisch vorgehen, indem sie verschiedene Elemente aus den genannten Ansätzen nutzen und kombinieren. Aus diesem Grund wurde in unserer Studie nicht nach therapeutischen Konzepten gefragt, sondern nach dem Einsatz von verschiedenen methodischen Bausteinen der Aussprachetherapie. Jüngere Forschungsübersichten legen nahe, dass phonetische und phonologische Therapien prinzipiell effektiv sind. Jedoch profitieren nicht alle Kinder gleichermaßen von allen Interventionen; je nach Art der Störung - phonetisch, phonologisch, kombiniert - sind unterschiedliche methodische Vorgehensweisen angezeigt und besonders wirksam (Joffe/ Serry 2004; Williams u. a. 2010). Befragungen aus dem englischsprachigen Raum haben indes ergeben, dass Logopädinnen bei aussprachegestörten Kindern oft unabhängig von der individuellen Symptomatik die gleichen Therapieelemente kombinieren (Baker/ McLeod 2004; Joffe/ Pring 2008). Ein weiteres Resultat bisheriger Surveys ist, dass Therapeutinnen sich bevorzugt an anekdotischer (interner) Evidenz orientieren und an „altbewährten Methoden“ festhalten, ungeachtet der theoretischen Plausibilität und der tatsächlichen Wirksamkeit derselben (vgl. Kap. 3). Hier sind besonders unspezifische Therapieverfahren angesprochen. Als prominentes Beispiel sind die allgemeinen Mundmotorikübungen mit dem Ziel der Verbesserung von Sprechfähigkeiten zu nennen, eine verbreitete Praxis, gegen die in der neueren Literatur kritische Einwände vorgetragen werden (Lof 2009; Hartmann 2010). Allerdings mangelt es auch vielen spezifischen Therapiemethoden noch an hochstehenden empirischen Belegen für ihre Wirksamkeit. Insgesamt liefert der aktuelle Forschungsstand der Praxis nur unvollständige Anhaltspunkte für die Auswahl von strikt evidenzbasierten Interventionen bei Aussprachestörungen (Joffe/ Pring 2008; Hartmann 2012). 2.3 Therapiemodalitäten Bei der Planung von Interventionen für aussprachegestörte Kinder müssen über die Therapiemethoden hinaus auch die Implementationsmodalitäten bestimmt werden, die einen Einfluss auf die Wirksamkeit logopädischer Maßnahmen haben können. Darunter fallen Aspekte wie Häufigkeit und Dauer von Therapieeinheiten, Einzel- oder Gruppentherapie und das Setting (Pull out oder klassenintegriert). Derzeit existiert noch wenig Wissen darüber, welche dieser service delivery Faktoren bei welchen Kindern mit Sprechbeeinträchtigungen besonders hilfreich sind. Bisherige Forschungsbefunde sprechen dafür, dass Einzelwie auch Gruppentherapie effektiv sein kann. Darüber hinaus gibt es Evidenz für den Nutzen von indirekten Interventionen durch Eltern, die sich mit direkten Therapien verknüpfen lassen, um einen Mangel an Behandlungszeit kompensieren zu können (Joffe/ Pring 2008; Hartmann 2012; Mann Brumbaugh/ Bosma Smit 2013). 3 Bisherige Surveys zur logopädischen Praxis bei Aussprachestörungen Es ist erst relativ wenig darüber bekannt, wie Logopädinnen kindliche Aussprachestörungen in der alltäglichen Praxis diagnostizieren und behandeln. Wie zu zeigen sein wird, stammen erste Antworten auf diese Frage aus internationalen Befragungsstudien. Systematische Befragungen von Logopädinnen sind erforderlich, wenn aussagekräftige Informationen über Merkmale der diagnostischen oder therapeutischen Praxis gewonnen werden sollen. Durch solche Bestandsaufnahmen lassen sich nicht nur etwaige Diskrepanzen zwischen forschungsbasierten Empfehlungen und Praxishandeln oder ungünstige Rahmenbedingungen logopädischer Tätigkeit aufzeigen; VHN 2 | 2015 127 ISABELLE ZÜGER-KÄLIN U. A. Diagnostik und Therapie kindlicher Aussprachestörungen FACH B E ITR AG wiederholte Befragungen können zudem Veränderungen in der Praxis über die Zeit dokumentieren. Schließlich kann die einzelne Logopädin die Ergebnisse aus Befragungen heranziehen und die gewonnenen Daten mit der eigenen Praxis vergleichen (Skahan u. a. 2007; Joffe/ Pring 2008). Studie von Skahan u. a. (2007): Um zu klären, wie amerikanische Speech-Language Pathologists (nachfolgend: SLP) Vorschul- und Schulkinder mit Aussprachestörung diagnostizieren, wurden 1000 zufällig ausgewählte ASHA-Mitglieder befragt. Ein Drittel der Angeschriebenen schickte den Fragebogen zurück. Die SLP nutzen in der Diagnostik am häufigsten Sprechverständlichkeitsbeurteilungen (75 %), Tests (74 %), Hörscreenings (71 %), Prüfverfahren zur Stimulierbarkeit von Lauten (68 %) und zur Mundmotorik (58 %). Nach der Einschätzung der Forscher setzen die befragten SLP im Allgemeinen diagnostische Verfahren ein, die geeignet sind, Kinder mit Aussprachestörungen zu erfassen und therapeutische Ziele abzuleiten. Studie von Lof und Watson (2008): Die Befragung fokussierte auf den Einsatz von Mundmotorikübungen in der Therapie aussprachegestörter Kinder. 2000 zufällig ausgewählte ASHA-Mitglieder erhielten einen Fragebogen. Wie die Auswertung von 537 Fragebögen (Rücklauf 28 %) ergab, nutzen 85 % der Befragten Mundmotorikübungen, und zwar mehrheitlich mit anderen Methoden kombiniert. Dieser hohe Anteil an Mundmotorik-Nutzern deckt sich mit einem kanadischen Befund von Hodge u. a. 2005 (zit. nach Lof 2009, 1), liegt aber über den Angaben von Joffe und Pring (2008) aus England (72 %) und denjenigen einer aktuellen amerikanischen Befragung (70 %) (Mann Brumbaugh/ Bosma Smit 2013). Wie sich weiter zeigte, kommt Mundmotoriktherapie bei diversen Diagnosen - u. a. Dysarthrie, Sprechapraxie, phonologische Störung, Hörstörung, Artikulationsstörung - zur Anwendung. Studie von Joffe und Pring (2008): Englische SLP wurden zum Einsatz von diagnostischen und therapeutischen Verfahren bei „phonologischen Störungen“ befragt. Wie die Auswertung von 98 retournierten Fragebogen ergab (Rücklaufquote unklar), machen aussprachegestörte Kinder bei der Hälfte der SLP über 40 % des Caseloads aus. Zur Diagnostik wird am häufigsten das South Tyneside Assessment of Phonology eingesetzt. Da damit keine vertiefte Diagnostik möglich ist, werden weitere Verfahren hinzugezogen. Die SLP sind in der Regel mit verschiedenen Interventionen vertraut (u. a. Artikulationstherapie, Minimalpaar-Therapie, Metaphon-Therapie, Mundmotorikübungen), die sie häufig kombinieren. Zudem beziehen die meisten Praktikerinnen wenn möglich die Eltern in die Therapie ein. Studie von Pascoe u. a. (2010): 155 südafrikanische SLP erhielten einen Fragebogen in Anlehnung an das Instrument von Joffe und Pring (2008). Laut den Analyseergebnissen (Rücklaufquote 19 %) kombinieren die Praktikerinnen zumeist informelle Verfahren mit standardisierten Tests. Nur ein Drittel verwendet routinemäßig eine therapeutische Kernmethode. Demgegenüber präferiert die Mehrheit keinen spezifischen Ansatz und nutzt stattdessen eklektisch verschiedene Methoden. Trainings zur auditiven Diskrimination und zur phonologischen Bewusstheit, Elternprogramme, Sprechmotorik- und Artikulationsübungen, Wortschatzarbeit und Minimalpaar-Therapie sind die populärsten Interventionen. Studie von Mann Brumbaugh und Bosma Smit (2013): Diese Erhebung adressierte die Therapie bei Vorschulkindern mit phonologischen Störungen. 24 % der 2000 angeschriebenen SLP füllten den Fragebogen vollständig aus. Nach diesem Survey erhalten aussprachegestörte Vorschulkinder typischerweise 30 -60 Minuten Therapie pro Woche, wobei die Mehrheit der SLP individuelle Therapie und Gruppentherapie kombiniert. 97 % der SLP nutzen traditionelle phonetische Therapiemethoden bei phonologischen Störungen, allgemeine Mundmotorikübungen setzen 70 % ein. Zusätzlich verwenden viele Befragte einige prominente phonologische Interventionen (v. a. Minimalpaar-Therapie, zyklische Therapie), was insgesamt einen „hybriden Behandlungsansatz“ nahelegt. Die komprimiert rezipierten Befunde vorliegender Befragungsstudien sind aus inhaltlichen und methodischen Gründen (differierende Fragestellungen und Instrumente, tiefe Rücklaufquoten u. a.) nur bedingt vergleichbar und müssen mit Vorsicht interpretiert werden. Insgesamt legen sie nahe, dass Logopädinnen in VHN 2 | 2015 128 ISABELLE ZÜGER-KÄLIN U. A. Diagnostik und Therapie kindlicher Aussprachestörungen FACH B E ITR AG der Diagnostik und Therapie von Aussprachestörungen bevorzugt verschiedene Methoden nutzen, die im Lichte von Forschungsliteratur und best-practice-Empfehlung prinzipiell adäquat erscheinen. Anlass für kritische Anmerkungen ergibt sich mitunter aus dem verbreiteten Gebrauch von kontrovers diskutierten Mundmotorikübungen in der Aussprachetherapie (Lof/ Watson 2008) und dem Einsatz von phonetischen Vorgehensweisen in der Therapie von phonologischen Störungen bzw. aus einer unzureichenden Passung von Methoden(-kombination) und individuellen Störungsbildern (Baker/ McLeod 2004; Joffe/ Pring 2008; Mann Brumbaugh/ Bosma Smit 2013). Die erörterten Forschungsresultate können nicht ungeprüft auf andere Kontexte übertragen werden, zumal Ausbildung und professionelles Selbstverständnis von Logopädinnen sowie Rahmenbedingungen und Ressourcen für logopädisches Arbeiten je nach Land bzw. Region differieren (können), was sich auf die jeweilige Praxis auswirkt (Joffe/ Serry 2004). Aus diesem Grund ist es sinnvoll und begründet, Befragungen zur diagnostischen und therapeutischen Praxis von Sprachtherapeutinnen auch hierzulande zu lancieren. 4 Deutschschweizer Befragung zur logopädischen Praxis mit aussprachegestörten Kindern 4.1 Zielsetzung Die Befragungsstudie zielt darauf ab, aussagekräftige Informationen über Klientel, Rahmenbedingungen und methodische Vorgehensweisen der Diagnostik und Therapie von funktionellen Aussprachestörungen in der aktuellen logopädischen Praxis der Deutschschweiz zu gewinnen, zu analysieren und zu präsentieren. Die Ergebnisse der deskriptiven Bestandsaufnahme gilt es vor dem Hintergrund der Forschungsliteratur einzuordnen und zu diskutieren. Darüber hinaus soll anhand eines Vergleichs von zwei Untergruppen der gewonnenen Stichprobe geklärt werden, inwieweit sich Logopädinnen in regelpädagogischen (REG) bzw. sonderpädagogischen (SEP) Handlungsfeldern hinsichtlich ausgewählter Variablen (Rahmenbedingungen, logopädische Praktiken) unterscheiden. 4.2 Methodik Ausgangsstichprobe: Da für die Deutschschweiz kein Verzeichnis der im Kinderbereich praktizierenden Logopädinnen existiert, wurde der Deutschschweizer Logopädinnen- und Logopädenverband (DLV) um die Mailadressen seiner Mitglieder gebeten, die in pädagogisch-therapeutischen Handlungsfeldern tätig sind. Diese Anfrage führte zu 770 Adressen. Aus einer Praktikumsleitenden-Datei der Abteilung Logopädie der Universität Freiburg wurden zudem alle im Kinderbereich arbeitenden Logopädinnen herausgefiltert, was 365 zusätzliche Adressen generierte. Internetrecherchen ergaben 89 weitere Adressen. Nach Erhebungsbeginn kamen neun Logopädinnen dazu, die von der Umfrage erfahren, aber keine Einladung dazu erhalten hatten. Von den insgesamt 1233 verfügbaren Mailadressen erwiesen sich acht als ungültig, womit die Ausgangsstichprobe 1225 Logopädinnen umfasste. Instrument: Der eingesetzte Fragebogen 1 wurde auf der Basis einschlägiger Literatur zur Diagnostik und Therapie von Aussprachestörungen und einer Sichtung bestehender Befragungsstudien zum Thema entwickelt (Kap. 1 - 3) und mithilfe der Online-Umfrage- Applikation LimeSurvey erstellt. Acht erfahrene Logopädinnen erprobten eine Testversion und gaben Rückmeldungen zur Verständlichkeit, Handhabbarkeit und Bearbeitungsdauer. Der Fragebogen wurde daraufhin leicht überarbeitet und die endgültige Version erstellt. VHN 2 | 2015 129 ISABELLE ZÜGER-KÄLIN U. A. Diagnostik und Therapie kindlicher Aussprachestörungen FACH B E ITR AG Das Instrument umfasst 50 Fragen zu folgenden thematischen Blöcken: a) demografische Daten über Teilnehmende, b) aktuelle Klientel und therapeutische Rahmenbedingungen, c) diagnostische Praxis und d) therapeutische Praxis bei Aussprachestörungen. Zur Informationsgewinnung wurden Fragen mit verschiedenen Antwortarten (Checkbox, Dropdown- List, Text-box) eingesetzt. Um sicherzustellen, dass nur im pädagogisch-therapeutischen Bereich tätige Logopädinnen an der Umfrage teilnehmen, fungierte die erste Frage als Filter. Mit weiteren Filterfragen sollte vermieden werden, dass die Teilnehmenden mit vertiefenden Fragen konfrontiert werden, die sie nicht betreffen. Bei den zu erhebenden Informationen handelt es sich vorwiegend um nominale Daten, daneben erfasst das Instrument einige ordinale und metrische Variablen. Wie bei früheren Befragungsstudien zum Thema wurde aus inhaltlichen und methodischen Gründen auf eine quantitative Evaluation des Instruments verzichtet. Datenerhebung: Die anonyme Befragung erfolgte zwischen November 2012 und Januar 2013. Die Ausgangsstichprobe erhielt per E- Mail eine Einladung zur Teilnahme mit individualisiertem Zugangsschlüssel. Anfang Dezember wurden Personen, die nicht reagiert hatten, per E-Mail an die Umfrage erinnert und erneut um Teilnahme gebeten. Datenanalyse: Die gewonnenen Daten wurden in das Statistikprogramm SPSS (Version 21) exportiert und für deskriptive (absolute/ prozentuale Häufigkeit, Mittelwert, Standardabweichung, Säulendiagramm u. a.) und korrelative Analysen (punktbiseriale Korrelation) aufbereitet. In diese Auswertungen flossen Daten aus 331 Fragebögen ein (s. Kap. 4.3.1). In die weiterführenden Auswertungen von settingspezifischen Unterschieden gingen nur Daten von Befragten ein, die ausschließlich in einer regelpädagogischen Institution (n = 178) oder in einer sonderpädagogischen Einrichtung (n = 53) tätig waren. Um gleich große Teilstichproben zu erhalten, wurde der Gruppe der sonderpädagogischen Logopädinnen (SEP) eine Gruppe von 53 zufällig ausgewählten Logopädinnen aus regelpädagogischen Einrichtungen gegenübergestellt (REG). Diese beiden Gruppen (unabhängige Stichproben) wurden mit statistischen Verfahren (t-Test, Chi-Quadrat-Test) hinsichtlich ausgewählter Variablen (Demografie, Rahmenbedingungen, diagnostische und therapeutische Praktiken) verglichen. Für diese Zusatzauswertungen wurden einige Variablen aggregiert bzw. umcodiert (z. B. Reduktion der Anzahl von Analysekategorien). Es wurde zweiseitig getestet bei einem Signifikanzniveau von a = 5 %. Wie es sich zeigte, waren die weiter zu kontrastierenden Gruppen REG und SEP vergleichbar hinsichtlich der (Kontroll-)Variablen Alter (REG: M = 46.26; SD = 11.34; SEP: M = 43.92; SD = 11.06; t[104] = 1.08, p = .29) bzw. Abschluss (Jahre seit Diplomierung) (REG: M = 17.45; SD = 11.52; SEP: M = 15.96; SD = 11.01; t [98] = .66, p = .51) und Arbeitspensum (in %) (REG: M = 74.45; SD = 25.24; SEP: M = 76.00; SD = 17.36; t [92] = -.37, p = .71). 4.3 Ergebnisse 4.3.1 Rücklaufquote und Stichprobenmerkmale 362 der 1225 Angeschriebenen beantworteten den Fragebogen vollständig (Rücklaufquote = 29,55 %). 31 Personen arbeiteten nicht mit Kindern oder hatten keine Klientel mit Aussprachestörungen. Somit gingen definitiv 331 Fragebögen von Logopädinnen aus 20 Deutschschweizer Kantonen in die Auswertung ein. VHN 2 | 2015 130 ISABELLE ZÜGER-KÄLIN U. A. Diagnostik und Therapie kindlicher Aussprachestörungen FACH B E ITR AG Die Antwortenden sind durchschnittlich 46jährig (M = 45.47; SD = 10.96), vorwiegend weiblich (95 %) und besitzen im Allgemeinen mehr- oder langjährige Praxiserfahrung. Fast ausnahmslos sind sie in Besitz eines Diplombzw. Bachelorabschlusses; weniger als 5 % verfügen über einen Lizentiats-/ Masterabschluss oder ein Doktorat. Mit Blick auf die aktuellen Handlungsfelder (kumulative prozentuale Beschäftigung) zeigt sich, dass 61,8 % der Logopädinnen an Regelschulen und/ oder -kindergärten (Ambulatorien) tätig sind, was in der Deutschschweiz das verbreitetste pädagogisch-therapeutische Angebot ist. Weit weniger wird an Sprachheilschulen (10,6 %), Sonderschulen (9,8 %) oder in Privatpraxen (10,5 %) gearbeitet, noch seltener in Spitälern/ Kliniken (1,9 %), in Sprachheilkindergärten (1,8 %), an Frühberatungsstellen (0,9 %), Erziehungsberatungsstellen/ schulpsychologisch-kinderpsychiatrischen Diensten (0,8 %) oder in anderen Institutionen (1,9 %). 4.3.2 Klientel Zum Befragungszeitpunkt betreuten die 331 Fachkräfte insgesamt 7533 Kinder (M = 22.76; SD = 13.31). Von diesen hatte etwas mehr als die Hälfte (52,99 %) eine - isolierte oder kombinierte - funktionelle Aussprachestörung. 865 der 3992 (21,67 %) aussprachebeeinträchtigten Kinder wurden aktuell nicht wegen Sprechproblemen betreut. Die restlichen Kinder (n = 3127/ 100 %) erhielten eine der folgenden Interventionen: Einzeltherapie (62,52 %), Kombination aus direkter und indirekter Therapie (13,27 %), Beratung oder Anleitung der Bezugspersonen (12,44 %), Gruppentherapie (6,5 %), Kombination von Gruppen- und Einzeltherapie (3,26 %) und andere (1,95 %). 11 % der betreuten aussprachegestörten Kinder waren im Vorschul-, 39,9 % im Kindergarten- und 49,2 % im Schulalter. 4.3.3 Diagnostik Die Antwortenden erheben bei Aussprachestörungen immer (55,6 %) oder häufig (24,8 %) eine Anamnese, 18,1 % gelegentlich und 1,5 % nie. Das diagnostische Gespräch wird vorwiegend mit Erziehungsberechtigten geführt (95,9 %), außerdem mit Lehrpersonen (40,9 %). Die Ergebnisse für die Gruppen REG und SEP indizieren keinen deutlichen Unterschied hinsichtlich der Anamneseerhebung (c 2 [3, 106] = 6.10, p = .11). Was die Diagnostikverfahren zur Erfassung von Sprechfertigkeiten betrifft, wurde ersichtlich, dass die überwiegende Mehrheit der Logopädinnen mehrere bzw. verschiedene Möglichkeiten nutzt; nur 4,5 % der Befragten beschränken sich auf ein einziges diagnostisches Instrument. Zwei Drittel (65,3 %) setzen zwei bis drei Verfahren ein, die restlichen Befragten vier bis fünf (29,3 %) oder noch mehr Methoden (0,9 %). Dabei werten neun von zehn Logopädinnen informelle Spontansprachbeobachtungen aus (89,4 %). Mehr als die Hälfte (53,2 %) führt auch systematische Spontansprachanalysen und den SCHUBI Artikulationstest (57,7 %) durch, und jede dritte befragte Person nutzt die PLAKSS (35,6 %). Vergleichsweise weniger Praktikerinnen greifen auf „sonstige Verfahren“ (25,1 %), die Patholinguistische Diagnostik (16,9 %), die LOGO-Ausspracheprüfung (13,3 %) und den AVAK-Test (9,4 %) zurück. Die Pyrmonter Ausspracheprüfung (2,1 %) und die Aachener Dyslaliediagnostik (1,8 %) werden kaum eingesetzt. Tabelle 1 gibt Auskunft darüber, welche Bereiche eingangsdiagnostisch zusätzlich überprüft werden. Am häufigsten (> 80 %) sind dies Mundmotorik, Lautdifferenzierung, verbales Kurzzeitgedächtnis und Mundschluss, gefolgt von Gehör, phonologischer Bewusstheit, Stimulierbarkeit von Lauten, Zungenruhelage, wei- VHN 2 | 2015 131 ISABELLE ZÜGER-KÄLIN U. A. Diagnostik und Therapie kindlicher Aussprachestörungen FACH B E ITR AG teren Sprachebenen und Schluckmuster (58 - 78 %). Grob- und Feinmotorik, visuelle Wahrnehmung oder Geräuschdifferenzierung spielen eine eher untergeordnete Rolle (< 50 %). Wie die Befunde zur Eingangsdiagnostik weiter zeigen, veranlasst mehr als die Hälfte der Praktikerinnen (55 %) immer oder häufig eine Hörprüfung durch Spezialisten, 42,9 % tun dies gelegentlich und nur 2,1 % nie. Fast alle Logopädinnen geben an, therapeutische Verlaufskontrollen durchzuführen (99 %). Dabei wird primär auf die Aussprache fokussiert (94 %). In welchen weiteren Bereichen kindliche Fortschritte überprüft werden, ist in Tabelle 1 ausgewiesen. Die häufigsten zehn Zielbereiche decken sich weitgehend mit denjenigen der Eingangsdiagnostik, allerdings in unterschiedlicher Reihenfolge. Eingangsdiagnostik n % Mundmotorik Lautdifferenzierung Verbales Kurzzeitgedächtnis Mundschluss Gehör Phonologische Bewusstheit Stimulierbarkeit von Lauten (isoliert) Zungenruhelage Weitere Sprachebenen (Lexikon, Grammatik u. a.) Schluckmuster Grob- und Feinmotorik Diadochokinese Nonverbal-auditives Kurzzeitgedächtnis Visuelle Wahrnehmung Orale Sensibilität Geräuschdifferenzierung 300 284 271 267 256 252 210 209 206 195 156 106 87 82 80 79 90.6 85.8 81.9 80.7 77.3 76.1 63.4 63.1 62.2 58.9 47.1 32.0 26.3 24.8 24.2 23.9 Verlaufsdiagnostik n % Lautdifferenzierung Phonologische Bewusstheit Mundmotorik Mundschluss Stimulierbarkeit von Lauten (isoliert) Zungenruhelage Verbales Kurzzeitgedächtnis Weitere Sprachebenen (Lexikon, Grammatik u. a.) Schluckmuster Geräuschdifferenzierung Diadochokinese Nonverbal-auditives Kurzzeitgedächtnis Grob- und Feinmotorik Orale Sensibilität Visuelle Wahrnehmung Gehör 266 226 221 190 174 144 136 130 114 57 50 46 41 37 28 17 80.4 68.3 66.8 57.4 52.6 43.5 41.1 39.3 34.4 17.2 15.1 13.9 12.4 11.2 8.5 5.1 Tab. 1 Zielbereiche der Eingangs- und Verlaufsdiagnostik (n = 331) VHN 2 | 2015 132 ISABELLE ZÜGER-KÄLIN U. A. Diagnostik und Therapie kindlicher Aussprachestörungen FACH B E ITR AG Eine Abschlussuntersuchung am Therapieende führen 38,4 % aller Antwortenden immer durch, 26,3 % häufig, 28,1 % gelegentlich und 7,3 % nie. Eine Nachuntersuchung wird nur von 8,5 % stets durchgeführt, 28,7 % tun dies häufig, 49,5 % gelegentlich und 13,3 % nie. Die Gruppen REG und SEP sind vergleichbar in Bezug auf die Variablen Diagnostikverfahren (c 2 [3, 106] = 3.86, p = .28) und Abschlussuntersuchung (c 2 [3, 106] = .74, p = .86), hingegen unterscheiden sie sich in der Variable Nachuntersuchung (c 2 [3, 106] = 23.55, p = .00); führt annähernd die Hälfte der REG-Logopädinnen immer oder häufig eine solche durch, tut dies in separierenden Settings nur jede vierte Logopädin. 4.3.4 Typische Behandlungsmodalitäten Die Befragung der Teilnehmenden zu ihren häufigsten Behandlungsmodalitäten bei Aussprachestörungen ergab die folgenden Resultate (n = 331): n Aussprachegestörte Kinder werden hauptsächlich 1 x pro Woche (74,3 %) therapiert, weniger häufig 2 x wöchentlich (15,4 %) und nur selten weniger als 1 x (4,5 %) oder häufiger als 2 x (5,7 %) pro Woche. n Die häufigste Sitzungsdauer beträgt 40-50 Minuten (64,7 %), gefolgt von 30 Minuten (23,0 %). Kürzere (15 -20 Min., 8,1 %) oder längere Therapieeinheiten (60 Min. oder mehr, 4,2 %) werden seltener gewählt. n Als typisches Therapiesetting überwiegt die Einzeltherapie außerhalb der Klasse (84,9 %). Eine Kombination von Pull-out-Einzel- und Gruppentherapie nutzen 6,0 % der Antwortenden bevorzugt, eine indirekte Intervention 4,5 % und Pull-out-Gruppentherapie 1,8 %. Klassenintegrierte Therapie wird sowohl in Kombination (Gruppen- und Einzeltherapie, 1,8 %) als auch als reine Gruppentherapie (0,3 %) oder kombiniert mit Pull out und Einzeltherapie (0,6 %) sehr selten bevorzugt implementiert. n Etwas mehr als die Hälfte der Praktikerinnen führt keine Gruppentherapie durch (51,4 %), die anderen Befragten nutzen diese Interventionsform grundsätzlich. Wird in der Gruppe gearbeitet, umfasst diese bevorzugt 2 -3 Kinder (95 %), nur selten ist sie größer (5 %). n 80,4 % der Befragten geben den Kindern immer oder häufig Hausaufgaben, 17,8 % tun dies gelegentlich und 1,8 % nie. Aussprachegestörte Kinder in regelpädagogischen Settings erhalten weniger Sitzungen pro Woche als Kinder in separierenden Settings (REG: M = 1.19; SD = 1.23; SEP: M = 1.98; SD = .82; t [104] = -3.912, p = .00). Für die Sitzungsdauer resultierte ebenfalls ein Gruppenunterschied (c 2 [2, 106] = 8.02, p = .018): SEP-Logopädinnen nutzen häufiger kürzere Einheiten (bis 20 Min. bzw. 20 - 40 Min.) als REG-Kolleginnen, die bevorzugt Therapieeinheiten von 40 - 60 Min. wählen. Während zwei Drittel der REG-Logopädinnen grundsätzlich Interventionen in Gruppen durchführen, tut dies nur jede dritte SEP-Logopädin (c 2 [1, 106] = 10.97, p = .001). Für das typische Therapiesetting (Pull out, klassenintegriert, kombiniert) resultierte kein Gruppenunterschied (c 2 [2, 103] = 2.03, p = .36): in beiden Handlungsfeldern werden vorwiegend Pull-out- Therapien implementiert. Was schließlich die Hausaufgaben betrifft, ergab sich ein deutlicher Unterschied (c 2 [3, 106] = 45.07, p = .00): 50 von 53 REG-Logopädinnen erteilen den Kindern häufig oder immer Hausaufgaben, während dies nur 21 von 53 SEP-Therapeutinnen tun. 4.3.5 Therapiemethoden Die Praktikerinnen nutzen im Allgemeinen eine Vielzahl von erfragten methodischen Elementen (M = 11.43; SD = 2.41; Max. 16). Tabelle 2 weist aus, wie viele Logopädinnen die verschiedenen Bausteine in der Aussprachetherapie einsetzen (absteigende Reihenfolge). Dabei fällt auf, dass bevorzugt spezifische Verfahren zur Verbesserung von artikulatorischen, perzeptiven und (meta-)phonologischen Fähigkeiten genutzt werden. Im Unterschied zu Mundmotorikübungen, die 85 % der Befragten einset- VHN 2 | 2015 133 ISABELLE ZÜGER-KÄLIN U. A. Diagnostik und Therapie kindlicher Aussprachestörungen FACH B E ITR AG zen, finden andere unspezifische Methoden deutlich weniger häufig Anwendung. Die Variable Mundmotorik-Nutzer korreliert weder mit dem Alter (r punktbis = .05, p = .38) der Befragten noch mit der Anzahl Jahre seit ihrer Diplomierung (r punktbis = .05, p = .41). Aus dem diesbezüglichen Vergleich der Gruppen REG und SEP resultierten identische Befunde: jeweils 47 von 53 Praktikerinnen arbeiten mundmotorisch und die restlichen sechs nicht. Was die Gesamtzahl der genutzten Methoden angeht, ergab sich hingegen ein Unterschied zugunsten der Logopädinnen in sonderpädagogischen Einrichtungen (REG: M = 11.15; SD = 2.21; SEP: M = 12.11; SD = 2.14; t [104] = -2.28, p = .03). Die Nutzerinnen der oben aufgeführten methodischen Bausteine gaben weiter an, bei welchen Störungsbildern sie die verschiedenen Elemente einsetzen. Wie Abbildung 1 erkennen lässt, variiert die Auswahl der Methoden je nach Störungsbild mehr oder weniger deutlich. Beispielsweise erfolgt die Lautanbahnung (phonetische Intervention) vorwiegend bei phonetisch basierten Schwierigkeiten und weniger oft bei isolierten phonologischen Störungen. Demgegenüber gelangen die Minimalpaar-Therapie und die metaphonologische Förderung (phonologische Interventionen) vor allem bei Sprechproblemen mit phonologischer Komponente zur Anwendung. Andere Methoden wie Modellierungs- und Feedbacktechniken werden bei allen Störungsbildern relativ häufig genutzt. Für unspezifische Mundmotorikübungen zeigt sich schließlich, dass diese primär bei phonetisch basierten Problemen zum Einsatz kommen. Die Nutzerinnen von Mundmotoriktherapie (n = 280) beantworteten weitere Fragen zum Thema Mundmotorikübungen. Eine Darstellung all dieser Zusatzergebnisse ist im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, weshalb hier nur ausgewählte Aspekte referiert werden. Von Interesse sind zunächst die Ziele, die mit Mundmotorikübungen in der Arbeit mit aussprachebeeinträchtigten Kindern verfolgt werden. Die am häufigsten genannten Ziele (> 90 %) sind: Verbesserung der Luftstromlenkung und -dosierung, Kräftigung der orofazialen Mus- Methodische Elemente n % Lautstabilisierung auf Wortebene Lautanbahnung Lautstabilisierung auf Silbenebene Auditive Unterscheidung von Lauten oder Silben Auditive Lokalisation der Lautposition Mundmotorik* Minimalpaare Phonologische Bewusstheit Symbolkärtchen für Laute Lautstabilisierung auf Reihensatzebene Modellierungs- und Feedbacktechniken Erarbeitung distinktiver Merkmale Geräuschdifferenzierung* Symbolkärtchen für distinktive Merkmale Lautstabilisierung auf Pseudowortebene Orale Stereognose* 323 319 313 292 283 280 271 259 259 255 253 200 142 125 120 88 97.6 96.4 94.6 88.2 85.5 84.6 81.9 78.2 78.2 77.0 76.4 60.4 42.9 37.8 36.3 26.6 Tab. 2 Methodische Elemente in der Aussprachetherapie (n = 331) * Unspezifische Methoden VHN 2 | 2015 134 ISABELLE ZÜGER-KÄLIN U. A. Diagnostik und Therapie kindlicher Aussprachestörungen FACH B E ITR AG kulatur, Verbesserung der taktil-kinästhetischen Wahrnehmung, Erhöhung der Beweglichkeit, Aktivierung der Muskulatur, Verbesserung der Koordination orofazialer Bewegungen und Sensibilisierung des intraoralen Raumes. Viele Logopädinnen (70 - 90 %) nutzen Mundmotorikübungen auch, um einzelne Schritte komplexer Sprechbewegungen einzuüben, Muskelgruppen bewusst zu machen, die Bewegungsübertragung auf die Artikulation zu erleichtern und um Spannung abzubauen. Immerhin die Hälfte der Befragten setzt solche Übungen zur Auflockerung der Lektion bzw. zum Anwärmen der Sprechmuskulatur ein. Auditive Unterscheidung Laute/ Silben (n = 292) Auditive Lokalisation (n = 283) Lautanbahnung (n = 319) Lautstabilisierung Silbe (n = 313) Lautstabilisierung Pseudowort (n = 120) Lautstabilisierung Wort (n = 323) Lautstabilisierung Reihensatz (n = 255) Erarbeitung distinktiver Merkmale (n = 200) Symbolkärtchen für distinktive Merkmale (n = 125) Symbolkärtchen für Laute (n = 259) Minimalpaare (n = 271) Phonologische Bewusstheit (n = 259) Modellierungs-/ Feedbacktechniken (n = 253) Mundmotorik* (n = 280) Geräuschdifferenzierung* (n = 142) Orale Stereognose* (n = 88) 0 % 10 % 20 % 30 % 40 % 50 % 60 % 70 % 80 % 90 % 100% Phonetische Störung Phonetische Störung kombiniert mit Myofunktioneller Störung Phonologische Störung Phonetisch-phonologische Störung Prozent der Befragten * Unspezifische Methoden Abb. 1 Einsatz methodischer Elemente bei verschiedenen Störungsbildern (n = 331) VHN 2 | 2015 135 ISABELLE ZÜGER-KÄLIN U. A. Diagnostik und Therapie kindlicher Aussprachestörungen FACH B E ITR AG Die Nutzerinnen von Mundmotorikübungen gaben weiter an, ob sie vorgegebene Übungstypen generell (alle Laute), partiell (bestimmte Laute) oder nicht (keine Laute) einsetzen. Abbildung 2 dokumentiert das breite Spektrum an genutzten Übungstypen. Es wird ersichtlich, dass die Praktikerinnen die erfragten Typen nicht bevorzugt für alle Laute einsetzen, sondern diese vielmehr spezifisch für die Arbeit an bestimmten Lauten auswählen. Zum anderen werden Kieferübungen, passive Übungen und Schluckübungen von 40 - 60 % der Logopädinnen nicht für die lautspezifische Arbeit verwendet, während andere Übungsarten deutlich seltener ungenutzt bleiben. 5 Zusammenfassung und Diskussion Die wesentlichen Befunde der aktuellen Bestandsaufnahme zur Praxis der Diagnostik und Therapie bei kindlichen Aussprachestörungen in der Deutschschweiz werden nachfolgend verdichtet zusammengefasst, eingeordnet und kritisch gewürdigt. Klientel: Die Feststellung, dass insgesamt etwas mehr als die Hälfte der Klientel der von uns befragten Kindersprachtherapeutinnen eine funktionelle Aussprachestörung zeigt, deckt sich mit den Angaben in der internationalen Literatur. 100 % 90 % 80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % 0 % Lippenübungen Zungenübungen Kieferübungen Gurgelübungen Schluckübungen Blasübungen Saugübungen Zungenruhelage Mundschluss Passive Übungen alle Laute bestimmte Laute keine Laute Abb. 2 Einsatz von Mundmotorikübungen in Abhängigkeit der zu behandelnden Laute (n = 280) VHN 2 | 2015 136 ISABELLE ZÜGER-KÄLIN U. A. Diagnostik und Therapie kindlicher Aussprachestörungen FACH B E ITR AG Gemäß Angaben der Befragten war etwa die Hälfte der Kinder, die wegen einer Aussprachestörung in Behandlung waren, bereits in der Schule. Dieser beachtliche Anteil erstaunt insofern, als Aussprachestörungen schon im Vorschulbzw. Kindergartenalter logopädisch erfasst und gezielt behandelt werden können (Mann Brumbaugh/ Bosma Smit 2013). Aufgrund fehlender Angaben bleibt offen, ob die besagten Schulkinder im Vorschulalter identifiziert worden sind und seither eine Intervention erhalten haben oder ob sie erst nach der Einschulung auffielen und in Therapie genommen wurden. Bemerkenswert ist ferner, dass gut jedes fünfte Kind mit Aussprachestörung zum Untersuchungszeitpunkt keine aussprachespezifische Intervention erhielt. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass diese Klientel weitere Sprachauffälligkeiten zeigte, die von den Logopädinnen als gravierender beurteilt wurden als die Sprechprobleme und dementsprechend therapeutische Priorität erhielten. Diagnostik: Die Ergebnisse legen nahe, dass im diagnostischen Prozess in der Regel verschiedene Methoden zur Anwendung gelangen. Fast alle Befragten nutzen informelle Spontansprachbeobachtungen, die bei leichteren Sprechproblemen bereits ausreichende Informationen zur Symptomatik liefern können. Über die Hälfte der Therapeutinnen führt trotz hohen zeitlichen Aufwands auch systematische Spontansprachanalysen durch. Zudem kommt der SCHUBI Artikulationstest relativ häufig zum Einsatz, etwas weniger oft auch die PLAKSS. Andere Verfahren (z. B. LOGO-Ausspracheprüfung, AVAK-Test) werden seltener eingesetzt. Im Sinne eines hypothesengeleiteten Vorgehens überprüfen viele Logopädinnen weitere Bereiche, die mit der Ausspracheproblematik in Zusammenhang stehen können. Fast ausnahmslos führen die Befragten auch Verlaufskontrollen durch, um Fortschritte der Kinder zu überwachen. Zwei von drei Logopädinnen veranlassen überdies immer oder häufig eine Abschlussuntersuchung am Therapieende. Nachuntersuchungen sind weniger üblich, immerhin führt ein Drittel aller Antwortenden eine solche immer oder häufig durch. Nach unseren Befunden sind Logopädinnen in regelpädagogischen resp. separativen Einrichtungen vergleichbar in Bezug auf die Variablen Diagnostikverfahren und Abschlussuntersuchung, nicht aber hinsichtlich der Nachuntersuchung. Dass Logopädinnen in ambulanten Settings häufiger eine Nachkontrolle durchführen als ihre Kolleginnen in separierenden Einrichtungen, lässt sich u. a. dadurch erklären, dass sich sprachbeeinträchtigte Kinder vorübergehend in Sondereinrichtungen aufhalten und nach ihrem Übertritt in die Regelschule für die Logopädinnen nicht mehr so leicht erreichbar sind. Therapiemodalitäten: Aussprachebeeinträchtigte Kinder werden überwiegend einmal pro Woche behandelt, die Sitzungsdauer beträgt dabei meist 40 - 50 Minuten. Die in der Deutschschweiz dominierende Therapiemodalität könnte für einen Teil der Kinder suboptimal sein, da die Intervention zu wenig intensiv dosiert erfolgt. Den Logopädinnen scheint diese Problematik bewusst zu sein, nutzt der Großteil doch die Möglichkeit von Hausaufgaben für das Üben außerhalb der Therapie. Hier ergibt sich eine Übereinstimmung zu den Befunden von Joffe und Pring (2008) bzw. Pascoe u. a. (2010), wonach viele Logopädinnen die Eltern in die therapeutische Arbeit einbeziehen. Darüber hinaus macht unsere Befragung deutlich, dass eine eigentliche indirekte Intervention (z. B. gezielte Anleitung von Bezugspersonen) bzw. eine Kombination von direkter und indirekter Intervention von relativ wenigen Logopädinnen aktuell implementiert wurde (< 15 %). VHN 2 | 2015 137 ISABELLE ZÜGER-KÄLIN U. A. Diagnostik und Therapie kindlicher Aussprachestörungen FACH B E ITR AG Nicht unerwartet dominiert in der Deutschschweiz die Pull-out-Einzeltherapie. In der Literatur wird zudem die Gruppentherapie als aussichtsreiche Option bei Aussprachestörungen genannt (Grosstück 2010; Mann Brumbaugh/ Bosma Smit 2013). Obgleich die Hälfte aller Antwortenden grundsätzlich auch Gruppentherapie durchführt, wird tatsächlich eher selten mit Gruppen aussprachegestörter Kinder gearbeitet. Während diese Befunde für die Gesamtstichprobe gelten, zeigten sich in weiterführenden Auswertungen gewisse settingspezifische Unterschiede hinsichtlich typischer Behandlungsmodalitäten. So erhalten aussprachegestörte Kinder in sonderpädagogischen Einrichtungen mehr Sitzungen pro Woche als in regelpädagogischen Institutionen. Gleichzeitig werden in separierenden Settings häufiger kürzere Einheiten implementiert als in regelpädagogischen. Weitere Unterschiede resultierten in Bezug auf die Nutzung von Gruppentherapie und von Hausaufgaben, nicht aber für das typische Therapiesetting; in beiden Handlungsfeldern wird fast ausschließlich Pull-out-Therapie praktiziert. Therapiemethoden: Deutschschweizer Logopädinnen greifen auf ein breites Spektrum an spezifischen Methoden zurück. Vor allem Elemente der klassischen Artikulationstherapie werden sehr häufig eingesetzt, aber auch Bestandteile aus phonologischen Interventionen sowie Modellierungs- und Feedbacktechniken gelangen oft zur Anwendung. Während in früheren Befragungsstudien festgestellt wurde, dass viele Logopädinnen bei allen Kindern dieselben Therapieelemente anwenden (Baker/ McLeod 2004; Joffe/ Pring 2008), spricht unsere Erhebung dafür, dass der Einsatz der unterschiedlichen Therapiebausteine zumeist je nach Störungsbild variiert, was eine differenzierte bzw. problemspezifische Vorgehensweise anzeigt. Dies darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass zumindest ein Teil der Logopädinnen gewisse spezifische Methoden bei Störungsbildern einsetzt, für die sie nicht vorgesehen sind, so z. B. Lautanbahnung und Lautstabilisierung bei phonologischen Störungen. Ähnliche Beobachtungen machten Mann Brumbaugh und Bosma Smit (2013) in ihrer amerikanischen Befragungsstudie. Erwartungsgemäß finden in der Aussprachetherapie auch unspezifische Verfahren Verwendung. Insbesondere Mundmotorikübungen werden bevorzugt genutzt (85 % aller Logopädinnen), was sich mit entsprechenden Angaben in der internationalen Literatur deckt (vgl. Kap. 3). Dabei steht die Anwendung von Mundmotoriktherapie weder in Zusammenhang mit der Berufserfahrung oder dem Alter der Befragten noch differiert sie in regelpädagogischen versus sonderpädagogischen Settings. Mundmotorische Übungen werden nach dieser Befragung bevorzugt, wenn auch nicht ausschließlich bei Störungsbildern auf phonetischer Basis eingesetzt. Insgesamt legen die Befragungsergebnisse nahe, dass die derzeitige diagnostische und therapeutische Praxis bei kindlichen Aussprachestörungen in der Deutschschweiz in vielen Belangen mit best-practice-Empfehlungen übereinstimmen dürfte. Dieses positive Fazit erfolgt im Wissen um die Heterogenität der logopädischen Praxis, wie sie sich auch bei einem vertiefenden Blick auf unterschiedliche Handlungsfelder offenbarte. Im Rahmen der Diskussion bleibt methodenkritisch anzumerken, dass (auch) in der präsentierten Studie a) Selbstauskünfte von Sprachtherapeutinnen erhoben wurden und keine direkt beobachtete Praxis, b) kein quantitativ evaluiertes Instrument zum Einsatz kam und c) die Rücklaufquote relativ bescheiden war. In Anbetracht solcher methodischer Einschränkungen sollten die referierten Befunde denn auch vorsichtig interpretiert und entsprechend konstruktiv-kritisch zur Kenntnis genommen werden. VHN 2 | 2015 138 ISABELLE ZÜGER-KÄLIN U. A. Diagnostik und Therapie kindlicher Aussprachestörungen FACH B E ITR AG 6 Ausblick Die in der Gesamtschau ein günstiges Bild zeichnende Bestandsaufnahme gibt keinen Anlass zur wissenschaftlichen und praktischen Untätigkeit. Forschungsbedarf besteht einerseits im Bereich der Entwicklung von normierten Aussprachetests und von Instrumenten zur Fortschrittsmessung - speziell auch im Schweizerdeutschen. Andererseits ist die Interventionsforschung herausgefordert, weil es bislang erst wenig hoch stehende Evidenz für die Effektivität von diversen Therapieverfahren gibt, die in der aktuellen Praxis zur Anwendung gelangen. Insbesondere sollte noch besser untersucht werden, welche Methoden bzw. Methodenkombinationen bei welchen Störungsbildern am erfolgversprechendsten sind. Weiter zu erforschen sind ferner Effekte von verschiedenen Implementationsvarianten von Aussprachetherapie sowie Einflüsse von klientenspezifischen Faktoren auf den Behandlungserfolg. Schließlich wird es eine Herausforderung sein, neue Erkenntnisse aus künftiger Forschung der logopädischen Praxis konsequent zugänglich zu machen, um professionelles, evidenzbasiertes Handeln gezielt unterstützen zu können. Anmerkung 1 Der Fragebogen kann bei der Erstautorin angefordert werden. Literatur Baker, E.; Croot, K.; McLeod, S.; Paul, R. (2001): Psycholinguistic models of speech development and their application to clinical practice. In: Journal of Speech, Language, and Hearing Research 44, 685 -702. http: / / dx.doi.org/ 10.1044/ 1092-4388(2001/ 055) Baker, E.; McLeod, S. (2004): Evidence-based management of phonological impairment in children. In: Child Language Teaching and Therapy 20, 261-285. http: / / dx.doi.org/ 10.1191/ 026565 9004ct275oa Baker, E.; McLeod, S. (2011): Evidence-based practice for children with speech sound disorders: Part 1 narrative review. In: Language, Speech, and Hearing Services in Schools 42, 102 -139. http: / / dx.doi.org/ 10.1044/ 0161-1461(2010/ 09- 0075) Bernthal, J.; Bankson, N.; Flipsen, P. (2009): Treatment Approaches. In: Bernthal, J. E.; Bankson, N. W.; Flipsen, P. (eds.): Articulation and Phonological Disorders. Speech Sound Disorders in Children. Boston: Pearson, 278 -330 Fox, A. (2005): Psycholinguistische Analyse kindlicher Sprechstörungen (PLAKSS). 2. überarbeitete Aufl. Frankfurt: Harcourt Test Services Fox, A. (2007): Kindliche Aussprachestörungen: Phonologischer Erwerb - Differenzialdiagnostik - Therapie. 5. Aufl. Idstein: Schulz-Kirchner Grosstück, K. (2010): SIGMA PLUS. Gruppenkonzept zur Behandlung des Sigmatismus. Idstein: Schulz Kirchner Hacker, D.; Wilgermein, H. (Hrsg.) (1999): AVAK- Test. Analyseverfahren zu Aussprachestörungen bei Kindern. München: Reinhardt Hacker, D.; Wilgermein, H. (2002): Aussprachestörungen (Phonetik, Phonologie). In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Band 3. Stuttgart: Kohlhammer, 148 -159 Hartmann, E. (2002): Möglichkeiten und Grenzen einer präventiven Intervention zur phonologischen Bewusstheit von lautsprachgestörten Kindergartenkindern. Fribourg: Sprachimpuls Hartmann, E. (2010): Sinn und Nutzen von Mundmotorikübungen bei Sprechstörungen. In: Logos Interdisziplinär 18, 244 -252 Hartmann, E. (2012): Wirksamkeit von Kindersprachtherapie im Lichte systematischer Übersichten. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 81, 191 -209. http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ vhn2012.art09d Howard, S. (2010): Children with speech sound disorders. In: Damico, J.; Müller, N.; Ball, M. (Hrsg.): The Handbook of Language and Speech Disorders. Oxford: Wiley-Blackwell, 339 -361 Jahn, T. (2007): Phonologische Störungen bei Kindern. 2. Aufl. Stuttgart: Thieme Joffe, B.; Serry, T. (2004): The evidence base for the treatment of articulation and phonological disorders in children. In: Reilly, S.; Douglas, J.; Oates, J. (eds.): Evidence-based Practice in Speech Pathology. London: Whurr, 258 -287 VHN 2 | 2015 139 ISABELLE ZÜGER-KÄLIN U. A. Diagnostik und Therapie kindlicher Aussprachestörungen FACH B E ITR AG Joffe, B.; Pring, T. (2008): Children with phonological problems: A survey of clinical practice. In: International Journal of Language and Communication Disorders 43, 154 -164. http: / / dx.doi. org/ 10.1080/ 13682820701660259 Lof, G. (2009): Nonspeech oral motor exercises: An update on the controversy. Online unter: http: / / www.asha.org/ Events/ convention/ hand outs/ 2009/ 1955_Lof_Gregory_L.htm Lof, G.; Watson, M. (2008): A nationwide survey of non-speech oral motor exercise use: Implications for evidence-based practice. In: Language, Speech, and Hearing Services in Schools 39, 392 -407. http: / / dx.doi.org/ 10.1044/ 0161-1461 (2008/ 037) Mann Brumbaugh, K.; Bosma Smit, A. (2013): Treating children ages 3 -6 who have speech sound disorder: a survey. In: Language, Speech, and Hearing Services in Schools 44, 306 -319. http: / / dx. doi.org/ 10.1044/ 0161-1461(2013/ 12-0029) McCormack, J.; McLeod, S.; McAllister, L.; Harrison, L. (2009): A systematic review of the association between childhood speech impairment and participation across the lifespan. In: International Journal of Speech-Language Pathology 11, 155 -170. http: / / dx.doi.org/ 10.1080/ 1754 9500802676859 Pascoe, M.; Stackhouse, J.; Wells, B. (2006): Persisting Speech Difficulties in Children: Children’s Speech and Literacy Difficulties. Chichester: Whurr Pascoe, M.; Maphalala, Z.; Ebrahim, A.; Hime, D.; Mdladla, B.; Mohamed, N.; Skinner, M. (2010): Children with speech difficulties: An exploratory survey of clinical practice in the Western Cape. In: South African Journal of Communication Disorders 57, 66 -75 Romonath, R. (2007): Diagnostik von phonetischen und phonologischen Störungen bei Spezifischer Sprachentwicklungsstörung: Theoretische Grundlagen, Vorgehensweisen und Perspektiven. In: Schöler, H.; Welling, A. (Hrsg.): Handbuch Sonderpädagogik. Band 1. Göttingen: Hogrefe, 550 -573 Schauß-Golecki, K. (2009): ICF in der Therapie von kindlichen Aussprachestörungen unklarer Genese. In: Grötzbach, H.; Iven, C. (Hrsg.): ICF in der Sprachtherapie. Idstein: Schulz-Kirchner, 153 -162 Shriberg, L.; Kwiatkowski, J. (1994): Developmental phonological disorders I: A clinical profile. In: Journal of Speech and Hearing Research 37, 1100 -1126 Skahan, S.; Watson, M.; Lof, G. (2007): Speechlanguage pathologists’ assessment practices for children with suspected speech sound disorders: Results of a national survey. In: American Journal of Speech-Language Pathology 16, 246 -259. http: / / dx.doi.org/ 10.1044/ 1058-0360 (2007/ 029) van Riper, C.; Irwin, J. (1984): Artikulationsstörungen. Diagnose und Behandlung. 3. Aufl. Berlin: Marhold Wagner, I. (1995): LOGO-Ausspracheprüfung zur differenzierten Analyse von Dyslalien. Wildeshausen: LOGO Verlag für Sprachtherapie Weinrich, M.; Zehner, H. (2005): Phonetische und phonologische Störungen bei Kindern. 2. Aufl. Heidelberg: Springer Welling, A.; Grümmer, C. (2007): Phonologischphonetische Entwicklungsstörungen. In: Schöler, H.; Welling, A. (Hrsg.): Handbuch Sonderpädagogik. Band 1. Göttingen: Hogrefe, 213 -231 Wildegger-Lack, E. (2001): Aussprachestörungen - Phonetik. In: Grohnfeldt, M. (Hrsg.): Lehrbuch der Sprachheilpädagogik und Logopädie. Band 2. Stuttgart: Kohlhammer, 24 -36 Williams, A.; McLeod, S.; McCauley, R. (2010): Interventions for Speech Sound Disorders in Children. Baltimore: Brookes Willikonsky, A. (2006): SCHUBI Artikulationstest: Ein Screening zur Ermittlung von Lautbildungsstörungen. Schaffhausen: SCHUBI Lernmedien Anschrift der Autor/ innen Isabelle Züger-Kälin M A, dipl. Logopädin isabelle.zueger@bluewin.ch Veronika Schradi Sprachheilpädagogin M A veronika.schradi@unifr.ch Dr. phil. Julia Winkes dipl. Sprachheilpädagogin julia.winkes@unifr.ch Prof. Dr. phil. Erich Hartmann erich.hartmann@unifr.ch Universität Freiburg Departement für Heil- und Sonderpädagogik Abteilung Logopädie Petrus-Kanisius-Gasse 21 CH-1700 Freiburg