eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 84/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2015.art15d
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2015
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Autismus-Spektrum-Störungen in der Adoleszenz

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2015
Andreas Eckert
Susanne Störch Mehring
Die Lebensphase der Adoleszenz stellt sowohl für Heranwachsende mit einer Autismus-Spektrum-Störung als auch für ihre Angehörigen vielfach eine besondere Herausforderung dar. Im folgenden Artikel wird der Blick der Eltern auf diese Lebensphase fokussiert. Basierend auf den Ergebnissen einer qualitativen Befragung von Müttern und Vätern von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer Autismus-Spektrum-Störung in der deutschsprachigen Schweiz werden Herausforderungen und Handlungsbedarfe in den Themenfeldern Berufsvorbereitung und berufliche Integration, Wohnen und selbstständige Lebensführung sowie Freizeitgestaltung und Sozialkontakte präsentiert.
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140 VHN, 84. Jg., S. 140 -150 (2015) DOI 10.2378/ vhn2015.art15d © Ernst Reinhardt Verlag Autismus-Spektrum-Störungen in der Adoleszenz Herausforderungen und Handlungsbedarfe aus der Perspektive von Eltern Andreas Eckert, Susanne Störch Mehring Hochschule für Heilpädagogik Zürich Zusammenfassung: Die Lebensphase der Adoleszenz stellt sowohl für Heranwachsende mit einer Autismus-Spektrum-Störung als auch für ihre Angehörigen vielfach eine besondere Herausforderung dar. Im folgenden Artikel wird der Blick der Eltern auf diese Lebensphase fokussiert. Basierend auf den Ergebnissen einer qualitativen Befragung von Müttern und Vätern von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer Autismus-Spektrum-Störung in der deutschsprachigen Schweiz werden Herausforderungen und Handlungsbedarfe in den Themenfeldern Berufsvorbereitung und berufliche Integration, Wohnen und selbstständige Lebensführung sowie Freizeitgestaltung und Sozialkontakte präsentiert. Schlüsselbegriffe: Autismus-Spektrum-Störung, Autismus, Adoleszenz, berufliche Integration Autism Spectrum Disorders in Adolescence: Challenges and Needs for Action from the Perspective of Parents Summary: The life stage of adolescence often provides a particular challenge for adolescents with an autism spectrum disorder as well as for their relatives. The present article focuses the view of the parents on this life phase. Based on the results of a qualitative survey of mothers and fathers of adolescents and young adults with an autism spectrum disorder in the German-speaking Switzerland, challenges and needs for action in the areas of vocational preparation and professional integration, of accessible housing and independent living as well as recreational activities and social contacts are presented. Keywords: Autism spectrum disorders, autism, adolescence, professional integration FACH B E ITR AG 1 Autismus-Spektrum-Störungen in der Adoleszenz Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung im Jugend- und Erwachsenenalter sind in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus wissenschaftlicher Betrachtung in den Disziplinen Medizin, Psychologie und Sonderpädagogik gerückt. Insbesondere die diagnostisch zunehmend relevante Personengruppe der Erwachsenen mit einem Asperger-Syndrom oder einem Hochfunktionalen Autismus erhält gegenwärtig eine große Aufmerksamkeit in der Fachdiskussion. Im Vordergrund stehen dabei einerseits die Analyse der Lebenssituation dieser Gruppe, andererseits der Entwurf therapeutischer und lebensbegleitender Hilfen in Form von Therapiemanualen und Ratgebern für den Alltag (u. a. Ebert u. a. 2012; Gawronski u. a. 2012; Schirmer 2009; Spek 2012; Tebartz van Elst 2012; Vogeley 2012). Die in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich gestiegene Anzahl publizierter Autobiografien von Erwachsenen mit einer Autismus-Spektrum-Störung leisten ihrerseits einen wichtigen Beitrag zum Thema (Eckert/ Stieler 2009). VHN 2 | 2015 141 ANDREAS ECKERT, SUSANNE STÖRCH MEHRING ASS in der Adoleszenz: Die Perspektive der Eltern FACH B E ITR AG Einen in diesem Kontext weniger ausführlich behandelten Themenbereich stellt die (sonder-) pädagogisch besonders relevante Phase der Adoleszenz beim Vorliegen einer Autismus- Spektrum-Störung dar. Diese Lebensphase ist durch Übergänge sowie zahlreiche spezifische Entwicklungsaufgaben gekennzeichnet und bildet den Einstieg in das Erwachsenenleben. Gleichzeitig verfügt sie jedoch über eine Eigendynamik, die sie vom Erwachsensein unterscheidet (Fend 2003; Streeck-Fischer 2004). Die charakteristischen Besonderheiten von Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen in den Bereichen Interaktion, Kommunikation sowie Interessen und Aktivitäten können in der Adoleszenz mit einer Vielzahl an Auswirkungen auf die Bewältigung altersentsprechender Entwicklungsaufgaben verbunden sein. Wie bereits an anderer Stelle ausführlich dargestellt (Eckert/ Störch-Mehring 2013), lassen sich, orientiert am Modell der Entwicklungsaufgaben im Jugendalter von Dreher und Dreher (1985), die folgenden Bereiche bei Adoleszenten mit einer Autismus-Spektrum-Störung als potenziell besonders problematisch hervorheben: n Aufbau eines Freundeskreises (Gleichaltrigengruppe) n Aufnahme intimer Beziehungen zum Partner (Intimität) n Vorstellungen über zukünftige Partner und Familie (Partner/ Familie) n Unabhängigkeit vom Elternhaus (Ablösung) n Wissen, was man werden will (Beruf) Neben den möglichen Besonderheiten in diesen Entwicklungsbereichen ist dem vielfach vorliegenden Unterstützungsbedarf in der selbstständigen Lebensführung im Jugend- und Erwachsenenalter eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Einer Metaanalyse von Bölte (2009) zufolge erreichten ca. 15 % der in den Studien untersuchten Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung einen hohen Grad an autonomer Lebensführung und ca. 30 % eine moderate Selbstständigkeit. 55 % wiesen einen durchgehend hohen Betreuungsbedarf auf, d. h. sie waren ständig auf spezifische Unterstützungsangebote in der Lebensführung angewiesen. Vor diesem Hintergrund erscheint eine wissenschaftliche Analyse möglicher Herausforderungen und Handlungsbedarfe in der Begleitung von Adoleszenten mit einer Autismus-Spektrum-Störung als ein wichtiges Thema, dem sowohl im fachlichen Diskurs als auch im Theorie-Praxis-Vergleich eine erhöhte Beachtung zukommen sollte. Eine zentrale Perspektive, die einen umfangreichen Informationsgewinn zu der beschriebenen Thematik anbieten kann, stellt diejenige der Eltern von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer Autismus-Spektrum- Störung dar. Ihre Erfahrungen mit den Entwicklungen ihrer Töchter und Söhne in der Adoleszenz, mit den Hindernissen bei der Bewältigung von altersentsprechenden Entwicklungsaufgaben sowie mit dem Bedarf an zusätzlichen Unterstützungsangeboten kann einen wesentlichen Beitrag zur Fachdiskussion leisten. Diesen Gedanken folgend werden im Weiteren die Durchführung und Auswertung von Interviews mit Eltern von Adoleszenten mit einer Autismus-Spektrum-Störung präsentiert. 2 Durchführung der Elterninterviews 2.1 Forschungsmethode und -vorgehen Die Interviews fanden im Frühjahr 2013 im Rahmen des Forschungsprojektes Autismus- Spektrum-Störungen in der Adoleszenz: Übergänge, Herausforderungen, Handlungsbedarfe der Hochschule für Heilpädagogik Zürich VHN 2 | 2015 142 ANDREAS ECKERT, SUSANNE STÖRCH MEHRING ASS in der Adoleszenz: Die Perspektive der Eltern FACH B E ITR AG statt. Insgesamt wurden zwölf qualitative Interviews mit Müttern und Vätern von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer Autismus-Spektrum-Störung in der deutschsprachigen Schweiz durchgeführt. Die Interviews orientierten sich an der Methode des Problemzentrierten Interviews nach Witzel (1982). Der Interviewleitfaden diente der inhaltlichen Strukturierung der Gespräche und ermöglichte gleichzeitig einen hohen Anteil narrativer Elemente. Zu Beginn der Interviews wurde ein Kurzfragebogen ausgefüllt, um einerseits einen Überblick in Bezug auf den Verlauf der bisherigen Unterstützungsmaßnahmen zu erhalten und andererseits Variablen für die computergestützte Auswertung in MAXQDA zu gewinnen. Die Akquise der Gesprächspartnerinnen und -partner erfolgte durch einen Aufruf zur Teilnahme an Forschungsprojekten im Themenfeld Autismus, der im Kontext der Anfang 2013 durchgeführten Elternbefragung „Leben mit Autismus in der Schweiz“ (Eckert, im Druck) veröffentlicht wurde. Die Teilnahmemotivation der befragten Eltern kann in diesem Zusammenhang als sehr hoch bezeichnet werden. Durchführungsort der Interviews waren in zehn Fällen die Privatwohnungen bzw. Büroräume der teilnehmenden Personen, zwei Gespräche fanden in den Räumen der Hochschule für Heilpädagogik statt. Die Interviews wurden aufgezeichnet und anschließend mit dem Transkriptionssystem von Dresing und Pehl (2013) transkribiert. Der Kodierleitfaden wurde anhand des in den Interviews verwendeten Leitfadens entwickelt, sodass eine mehrheitlich deduktive Kategorienauswertung stattgefunden hat. Die Daten wurden mithilfe des Programms MAXQDA als Qualitative Inhaltsanalyse in Anlehnung an Mayring (2010) und Kuckartz (2012) mit der Technik der Inhaltlichen Strukturierung ausgewertet, anschließend erfolgte eine Deskription entlang der Hauptkategorien „Berufsvorbereitung und berufliche Integration“, „Wohnen und selbstständige Lebensführung“, „Freizeitgestaltung und Sozialkontakte“ sowie „Weitere Unterstützungsangebote“. Jeder Themenbereich wurde in Hinblick auf beschriebene Herausforderungen, hilfreiche Angebote und Erfahrungen, Hindernisse und Problemlagen sowie Handlungsbedarfe und Optimierungsideen betrachtet. Im Verlauf der Auswertung zeigte sich, dass einige Textstellen mehreren Themen respektive Kategorien zugeordnet werden konnten. Dies lässt sich primär durch die inhaltliche Überschneidung institutioneller Angebote, z. B. in den Bereichen des Wohnens und Arbeitens, erklären, stellt aber nach Kuckartz (2012) bei thematischer Codierung kein methodisches Hindernis dar. 2.2 Stichprobe Insgesamt waren an der Befragung zehn Mütter und vier Väter beteiligt. Es wurden Eltern von drei weiblichen sowie neun männlichen Adoleszenten befragt, von denen sechs Personen der Altersgruppe 15 bis 18 Jahre und sechs Personen der Altersgruppe 19 bis 24 Jahre angehören. Die Verteilung im Hinblick auf die Diagnose aus dem Autismus-Spektrum zeigte sich folgendermaßen: Drei der Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben die Diagnose Frühkindlicher Autismus, vier die Diagnose Asperger-Syndrom, drei weitere die Diagnose Atypischer Autismus und zwei Adoleszente die Diagnose der Autismus-Spektrum-Störung ohne nähere Klassifikation. Der primäre Wohnort von fünf Adoleszenten befand sich zum Zeitpunkt der Befragung außerhalb der Familie (z. B. in einem Wohnheim), die anderen sieben Adoleszenten wohnten bei ihren Eltern. VHN 2 | 2015 143 ANDREAS ECKERT, SUSANNE STÖRCH MEHRING ASS in der Adoleszenz: Die Perspektive der Eltern FACH B E ITR AG 3 Ergebnisse der Elterninterviews Zentrale Ergebnisse des insgesamt 15 Stunden umfassenden Interviewmaterials werden folgend entsprechend der Struktur des Leitfadens und des Kategoriensystems als textnahe Auswertung dargestellt. Die wichtigsten Aussagen zu den benannten Hauptkategorien werden in diesem Sinne zusammengefasst und mit prägnanten Zitaten belegt. 3.1 Berufsvorbereitung und berufliche Integration Die Phase der Berufsvorbereitung und beruflichen Integration lässt sich in die drei Schritte der Vorbereitung in der Schulzeit, die Berufsausbildung sowie den Einstieg in den Beruf oder das Beschäftigungsangebot unterteilen. Für alle drei Schritte benennen die befragten Eltern sehr deutlich sowohl positive Erfahrungen als auch Herausforderungen bzw. Hindernisse und Handlungsbedarfe. Schwierigkeiten während der Berufsvorbereitung in der Schulzeit werden teilweise mit den autismusspezifischen Besonderheiten der Adoleszenten verbunden. Primär werden problematische Situationen jedoch auf das System bezogen. Als personenbezogene Faktoren nennen die Eltern vor allem die Fixierung auf einen Berufswunsch, das heterogene Fähigkeitsprofil sowie die Probleme in der Kommunikation und Interaktion. Letztere erschweren beispielsweise die eigenständige Kontaktaufnahme bei der Suche von Praktikumsplätzen. Im schulischen Kontext wird von den Eltern wiederholt eine unzureichende Vorbereitung auf bevorstehende Arbeitsprozesse bemängelt: „Also, der schulische Betrieb hat J. in dem Sinne nicht vorbereitet auf die Arbeit in einer Werkstatt. Was mir in der Schule gefehlt hat, im Nachhinein habe ich das erst gemerkt, war das selbstständige, zielgerichtete Arbeiten.“ (Interview 11) Ein geringes Wissen der Lehrpersonen über Autismus und dessen Auswirkungen auf die Berufsfindung wird von vielen Eltern als Hindernis bezeichnet, das sich verstärkt in integrativen Settings zeigt. Hinzu kommt das Fehlen von autismusspezifischen Standards, z. B. in Bezug auf eine spezifische Berufsabklärung, die nur selten stattzufinden scheint. Ebenso wird beanstandet, dass die Anschlusslösungen nicht hinreichend auf die Eignung für Menschen mit Autismus überprüft werden und notwendige Beratungen in diesem Kontext nicht ausreichend angeboten werden. Einige Eltern geben an, dass sie Finanzierungsprobleme in Bezug auf die vorgeschlagenen Anschlusslösungen hatten oder mit einer ungeklärten Zuständigkeit beim Übergang von der Schule in die Ausbildung konfrontiert waren. Besonders betont wird dies, wenn die Kinder zuvor integrativ beschult wurden. Von den Eltern wird in dieser Phase häufig eine hohe Eigeninitiative abverlangt. Eine offene und transparente Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen den Lehrpersonen der Schule, den Eltern und der Ausbildungsstätte wird demgegenüber als positive Erfahrung gewertet. Ebenso werden bestimmte Maßnahmen innerhalb des Unterrichts, wie z. B. das Formulieren von Lernzielen für das Erreichen des Berufsziels oder das Einbeziehen der Spezialinteressen in den Bewerbungsprozess, als förderlich empfunden. Von einigen Eltern werden die Berufsberatung der Invalidenversicherung, das Verlängern der Schulzeit bis zum 20. Lebensjahr, die Möglichkeit eines Vorlehrjahres oder die Begleitung in die zukünftige Institution als wichtige Angebote für den Übergang von der Schule in den Beruf genannt. Auch der Austausch mit anderen Eltern und das persönliche Engagement von Lehr- und Fachpersonen werden als hilfreich beschrieben: „[Hilfreich war,] dass ich mit der Lehrerin darüber zuerst auch gesprochen habe. Oder von ihr auch erfahren habe, wie es andere VHN 2 | 2015 144 ANDREAS ECKERT, SUSANNE STÖRCH MEHRING ASS in der Adoleszenz: Die Perspektive der Eltern FACH B E ITR AG Eltern gemacht haben. Und einfach, dass die Lehrerin da war, sie mich unterstützt hat. Auch bereit war an die Gespräche zu kommen. (…) Ich glaube, sie haben mich so weit unterstützt, wie es möglich war für die Lehrer selber.“ (Interview 8) Als Handlungsbedarfe beim Übergang von der Schule in die Ausbildung betonen die Eltern wiederholt die Entwicklung von autismusspezifischen Maßnahmen. So fordern sie eine kompetente und individualisierende Übergangsbegleitung, eine Spezialisierung der Berufsberater, eine behinderungsspezifische Berufsabklärung mit der Orientierung an den Fähigkeiten und Interessen der Adoleszenten sowie den Ausbau von Autismuskompetenzen in den Schulen und der Berufsberatung. Relevant in diesem Zusammenhang sind auch die Sicherstellung der intensiven Begleitung durch ausreichende Finanzierung und Personalabdeckung sowie die berufsbezogene Ausrichtung der schulischen Lernziele. Ebenso wird der Ausbau der Beratungsmöglichkeiten für Eltern thematisiert, z. B. in Form einer unabhängigen Vermittlungsstelle oder eines Kompetenzzentrums für Autismus: „Also, ich würde das nach wie vor sehr gut finden, wenn es wie eine Fachstelle gäbe, wo eben die Inhaberin oder Inhaber dieser Fachstelle sehr viel über Autismus wissen, viel Erfahrung haben. Und die wie das Bindeglied zwischen der Familie und dem Jugendlichen oder Erwachsenen sind. Und der Institution oder dem Arbeitgeber oder der dritten Person, die dann da noch wichtig ist.“ (Interview 12) Zum Thema Berufsausbildung lassen sich die von den Eltern benannten Hindernisse im Wesentlichen in zwei Punkten zusammenfassen. Als erster Aspekt wird von mehreren Eltern der eingeschränkte Zugang zu Ausbildungsstellen für Jugendliche mit einer Autismus-Spektrum- Störung genannt. Dies hängt ihrer Erfahrung nach u. a. mit der sehr begrenzten Aufnahmebereitschaft vieler Betriebe auf dem ersten Arbeitsmarkt zusammen. Als zweiter Aspekt wird auch in diesem Arbeitsfeld das fehlende Wissen über Menschen mit Autismus hervorgehoben, dem man häufig sowohl auf dem freien als auch dem geschützten Arbeitsmarkt begegnet. Mit dem fehlenden Wissen ist vielfach eine unzureichende Anpassung der Arbeitsbedingungen an die individuellen Bedürfnisse verknüpft: „Und die Ausbildungsstätten, die es gibt im geschützten Rahmen, die wollen nichts zu tun haben mit Jugendlichen mit Autismus. Also das sag ich jetzt relativ kategorisch. So ist es aber auch. Die sagen: ,Diese Betreuung können und wollen wir nicht leisten.‘ Und im Grunde haben sie einfach auch keine Ahnung von Autismus. (…) Man wird gezwungen, in den geschützten Werkstätten zu suchen und stellt dann sehr schnell fest, dass es dort kaum etwas gibt für Menschen, Jugendliche mit Autismus.“ (Interview 10) Die in den letzten Jahren entstandenen spezifischen Ausbildungsstätten für Jugendliche mit einer Autismus-Spektrum-Störung werden vorwiegend positiv bewertet. Skeptisch wird in diesem Zusammenhang die Eingrenzung der dort angebotenen Ausbildungsgänge, z. B. auf den IT-Bereich, betrachtet. Als weitere hilfreiche Aspekte während der Berufsausbildung werden vor allem der Einbezug der Eltern durch Elterngespräche sowie das Engagement und Interesse des Betriebs an der Thematik des Autismus genannt. Die Nutzung autismusspezifischer Beratungsangebote im Lehrbetrieb, die Weitergabe adäquater Informationen durch die Berufsberatung, kleine Klassen in der Berufsschule sowie die Gewährung von Nachteilsausgleichen werden ebenfalls positiv bewertet. Für den Einstieg in den Beruf oder die Beschäftigung werden ähnliche Herausforderungen und Handlungsbedarfe wie in der Phase der Berufsausbildung genannt. Was die Herausforderungen betrifft, stehen die Notwendigkeit individueller Ausrichtungen und Anpassungen bestehender Rahmenbedingungen und Handlungsabläufe im Arbeitsprozess im Vor- VHN 2 | 2015 145 ANDREAS ECKERT, SUSANNE STÖRCH MEHRING ASS in der Adoleszenz: Die Perspektive der Eltern FACH B E ITR AG dergrund. Dies stellt nach den Erfahrungen der Eltern sowohl für Betriebe auf dem freien als auch dem geschützten Arbeitsmarkt eine anspruchsvolle Aufgabe dar und verlangt eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Thema Autismus. Bei Adoleszenten mit einem hohen Betreuungs- und Unterstützungsbedarf wird zudem eine teils unzureichende personelle Betreuung bemängelt. Als hilfreich beim Einstieg in den Beruf bzw. die Beschäftigung erleben die Eltern dementsprechend individuelle Modifikationen mit Blick auf die Autismus-Spektrum-Störung. Dazu zählen z. B. die Anpassungen der Arbeitsabläufe, die Abstimmung der Beschäftigung auf Bedürfnisse und Interessen der Adoleszenten sowie eine breite Angebotspalette möglicher Arbeiten. Handlungsbedarf besteht zudem bei der Zusammenarbeit mit den Eltern, der Aufstockung der Betreuung und der Schaffung von Strukturen und klaren Abläufen. Darüber hinaus betonen einige Eltern ein ausgewogenes Verhältnis von Arbeit und Pausen. „Dass er jeden Tag außerhalb des Hauses mindestens einen halben Tag arbeiten kann. Wo er auch in längeren Sequenzen an einer Arbeit sein kann. Ich glaube, das ist für viele Menschen mit Autismus gut, dass man ein bisschen modulhaft arbeitet. Dass man nicht einen ganzen halben Tag an einer Maschine arbeitet, sondern dass man so kleinere Arbeitssequenzen hat. Man legt einen Weg zurück, macht eine Pause und dann kommt eine nächste Arbeit. Dass man aber diese Module, dass man die lernt zu beherrschen. Damit man sie auch gerne machen kann und sich kompetent fühlen kann.“ (Interview 12) 3.2 Wohnen und selbstständige Lebensführung Die Aussagen zum Themenbereich Wohnen und selbstständige Lebensführung umfassen Erfahrungen der Eltern, die sich zum einen auf Herausforderungen und Handlungsbedarfe im gemeinsamen familiären Leben, zum anderen auf diejenigen des außerfamiliären Lebens der Jugendlichen und jungen Erwachsenen beziehen. Als eine Herausforderung im familiären Leben beschreiben mehrere Eltern den Umgang mit in der Adoleszenz verstärkt auftretenden Verhaltensweisen wie Schlafproblemen, Unruhe und Wutanfällen. Neben den autismusspezifischen Besonderheiten wird dabei der Einfluss des Faktors Pubertät wahrgenommen. Das Erleben von Erschöpfungsbzw. Überforderungssituationen wird in diesem Zusammenhang von den Eltern wiederholt genannt. Für viele Eltern ist es eine schwierige Aufgabe, eine dem Alter der Jugendlichen entsprechende adäquate Balance zwischen Freiraum und Kontrolle zu finden. Sie sind gefordert, zwischen Schutzmaßnahmen und Selbstständigkeit abzuwägen, was je nach Schweregrad der Beeinträchtigung sehr anspruchsvoll sein kann. Es zeigt sich, dass Eltern von stärker betroffenen Adoleszenten ebenso wie andere Eltern das Ziel haben, ihren Kindern eine selbstständige Lebensweise zu ermöglichen. Die Themen Selbstorganisation und Selbstversorgung nehmen dabei jedoch einen veränderten Stellenwert ein: „Dass er unterstützungsbedürftig sein und bleiben wird, von dem gehe ich aus. Jetzt ist einfach die Frage, wie hoch ist der Grad? Musst du ihn von morgens bis abends begleiten oder kannst du irgendwann sagen, ,So, in diesem Bereich machst du es selbstständig, was auch immer.‘ Und die Frage ist, wie man damit vonseiten der Betreuer, auch von uns als Eltern umgeht. Welche Risiken man tragen kann, will. Welche Schutzmaßnahmen man für notwendig oder für akzeptabel hält. Das sind so die Fragen, die im Moment eigentlich kommen, und da sind wir dann bei dem ganzen Thema Selbstständigkeit.“ (Interview 10) Die Eltern von Adoleszenten, die weniger stark betroffen sind, berichten von ähnlichen Themen im Rahmen der Selbstständigkeit, aller- VHN 2 | 2015 146 ANDREAS ECKERT, SUSANNE STÖRCH MEHRING ASS in der Adoleszenz: Die Perspektive der Eltern FACH B E ITR AG dings auf einer anderen Ebene. So bezieht sich das Thema Selbstorganisation bei ihnen beispielsweise auf den Umgang mit Finanzen oder die Übernahme von Aufgaben in der Familie. Eine weitere herausfordernde Aufgabe im Leben innerhalb der Familie stellt die Pflege des familiären Zusammenhalts dar. Das Beachten der Bedürfnisse aller Familienmitglieder, die Notwendigkeit vermehrter Absprachen untereinander, die reduzierte Zeit für das Familienleben und die Verteilung der Aufgaben im Haushalt entwickeln sich häufig zu erhöhten Spannungen im Zusammenleben. „Und das muss man haben und das ist eines der Dinge, die ich am meisten vermisse, das ist die nötige Zeit. Man hat vieles, was man eigentlich tun müsste, zwischen Beruf, zwischen den anderen Kindern, Privatleben, Familien-, Beziehungsleben. All diese Dinge, die man ja eigentlich als normaler Mensch haben sollte, vieles bleibt liegen. Man muss sehr viel gegenseitigen Rückhalt haben.“ (Interview 2) Als hilfreiche Unterstützungsangebote in dieser Situation nennen die Eltern Entlastungsdienste, Familienpraktikantinnen sowie Möglichkeiten der Kurzzeitunterbringung in Wohnheimen, z. B. für ein Wochenende oder in den Ferien. Eine gute ärztliche Begleitung und passende Medikationen werden ebenfalls als wertvoll und entlastend beschrieben. Bei der Benennung von Handlungsbedarfen spiegeln sich die aufgeführten Problematiken deutlich wider. Um die Situation für die Familie sowie für die Adoleszenten angemessen zu gestalten, fordern die Eltern einen individuellen, schrittweisen Übergang in außerfamiliäre Wohnformen. „Also ich stelle mir vor, dass wir dann B. einfach mal eine Nacht, einen Tag dorthin bringen, wieder holen, ausprobieren, zwei Tage, drei Tage. Einfach so schrittweise.“ (Interview 6) Weiter wünschen sich Eltern Beratung und Unterstützung auf diesem Weg, um für sich persönlich Entlastung und für ihre adoleszenten Kinder eine möglichst selbstständige Lebensgestaltung erreichen zu können. Diejenigen Eltern, deren Töchter oder Söhne bereits außerhalb ihres Haushaltes leben, beschreiben sehr vielfältige Erfahrungen und formulieren deutliche Anregungen und Handlungsbedarfe. Als erlebte Hindernisse nennen mehrere Eltern die oftmals fehlende Passung der institutionellen Angebote zu den autismusspezifischen Bedürfnissen der Adoleszenten. Die unbefriedigende Betreuungssituation und fehlendes Autismuswissen in den Institutionen sind dabei die zentralen Kritikpunkte. Hinzu kommen eine eingeschränkte Kooperation mit den Eltern sowie unzureichende Anpassungen an die individuellen Ressourcen, Besonderheiten und Bedürfnisse des einzelnen Bewohners. Eltern, die bereits positive Erfahrungen gesammelt haben, heben hier die gelungene Vorbereitung und Kommunikation sowie die Offenheit und das Engagement der Fachleute besonders hervor. „Ganz wichtig war die Kommunikation mit den Betreuungspersonen. Er kann ja seine Befindlichkeiten am Telefon nicht äußern. Ich muss ihn face-to-face haben, um zu sehen, wie es ihm geht. An der Mimik und an der Körperhaltung merke ich es sofort. Und das war schon ein Stück Arbeit, dass die Betreuungspersonen sich darauf eingelassen haben. Dass sie es nicht als Misstrauensvotum aufgefasst haben, sondern dass sie sich darauf einlassen konnten. Sie und wir müssen uns zusammenschließen, damit es ihm da zwischen uns gut geht.“ (Interview 11) In der Vorbereitung des Auszugs bewerten die Eltern insbesondere Besichtigungs- und Probewohnangebote sowie die persönlichen Kontakte zur aufnehmenden Institution als hilfreich. Kriterien, die die Entscheidung für eine Institution erleichterten, sind neben der räumlichen Lage vor allem das Vorhandensein von individualisierten Wohnformen und die explizite Bereitschaft der Institution zur Aufnahme von Menschen mit Autismus. Überschaubar- VHN 2 | 2015 147 ANDREAS ECKERT, SUSANNE STÖRCH MEHRING ASS in der Adoleszenz: Die Perspektive der Eltern FACH B E ITR AG keit und Transparenz innerhalb einer Institution werden ebenfalls positiv bewertet. Als Handlungsbedarfe werden primär eine Ausweitung adäquater Angebote und ein erleichterter Zugang zu diesen genannt. Zudem wird wiederholt der Vorschlag eingebracht, eine autismusspezifische Fachberatung als Anlaufstelle zu installieren, welche Informationen über bestehende Angebote vermitteln sowie eine spezifische Beratung und Begleitung als Basis für den gelingenden Eintritt in eine passende Wohnform machen sollte. Der Wunsch nach einer engen Kooperation zwischen den Institutionen und den Eltern wird schließlich auch an dieser Stelle als wichtiger Bedarf deutlich formuliert: „Vertrauen. Offenheit. Vertrauen. Und auch irgendwie das Interesse. (…) Was isst der Junge gerne? Wie schläft er? Wie ist das mit Toilette? Mit Duschen? Mit Ankleiden? Wo braucht er Hilfe? Vor was hat er Angst? Wann gerät er in Panik? Braucht er Medikamente? All das - diese Sachen. Und das muss man einfach wissen. Und man muss auch wissen, wünschen die Eltern, dass bei Problemen die Eltern miteinbezogen werden? (...) Wollen Sie sich austauschen? Wollen wir gemeinsam den Weg gehen und die beste Linie suchen oder wie stellen Sie sich das vor? Und ich denke, Eltern die ihre Kinder so nahe begleitet haben, so viel auch heute noch machen für die Kinder. Da ist ganz klar, diese Eltern musst du einbeziehen. Also da profitierst du als Institution von.“ (Interview 6) 3.3 Freizeitgestaltung und Sozialkontakte Das Freizeitverhalten und die Gestaltung von Sozialkontakten der Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer Autismus-Spektrum- Störung sind den Erfahrungsberichten der Eltern zufolge stark geprägt durch die Besonderheiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation und gestalten sich je nach Betreuungsbedarf unterschiedlich. Adoleszente, die auf eine regelmäßige Begleitung durch Betreuungspersonen (Eltern oder Fachkräfte) angewiesen sind, sind in ihrer Freizeitgestaltung stark von diesen abhängig. Eltern von zu Hause lebenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einem hohen Betreuungsbedarf erleben ihre Zuständigkeit für diesen Lebensbereich als sehr problematisch. Spezifische Freizeitangebote für Heranwachsende mit einer Autismus-Spektrum-Störung sind aus Elternsicht sinnvoll, zugleich jedoch in vielen Regionen nur unzureichend vorhanden. Eine Problematik in der Nutzung von Freizeitangeboten sehen einige Eltern in der mangelnden Vorbereitung der Leitungsbzw. Betreuungspersonen auf das Thema Autismus. In diesem Kontext geraten die Eltern nicht selten in ein Dilemma bei der Wahl zwischen autismusspezifischen oder integrativen Angeboten. Bereits vorhandene autismusspezifische Freizeitmaßnahmen werden in der Regel als hilfreich und unterstützend bezeichnet, ebenso wie die Angebote der Entlastungsdienste. Als Handlungsbedarf im Freizeitbereich wird in erster Linie die Erweiterung bewährter Angebote genannt, um den Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein positives Freizeiterleben zu ermöglichen. „Also, was natürlich schön wäre, es gäbe eine Struktur, wo so junge Menschen Freizeit verbringen könnten. So zum Beispiel Jungs, die miteinander Fahrrad fahren gehen in Begleitung von ein, zwei Erwachsenen. So Freizeitangebote - am Wochenende, Nachmittag oder Abend, wo sie sich treffen können und etwas unternehmen. Halt begleitet, weil das anders nicht geht. Aber das wäre schon schön.“ (Interview 12) In der Gestaltung von Sozialkontakten zeigt sich nicht nur bei der Personengruppe von Adoleszenten mit einem hohen Betreuungsbedarf eine starke Fokussierung auf das primäre soziale Netzwerk. Auch die Eltern von Jugend- VHN 2 | 2015 148 ANDREAS ECKERT, SUSANNE STÖRCH MEHRING ASS in der Adoleszenz: Die Perspektive der Eltern FACH B E ITR AG lichen und jungen Erwachsenen mit einem Asperger-Syndrom oder einem Hochfunktionalen Autismus beschreiben eine starke Begrenzung der sozialen Kontakte ihrer adoleszenten Kinder, insbesondere außerfamiliär. Gleichzeitig sprechen die Eltern von individuell unterschiedlichen Bedürfnissen hinsichtlich der sozialen Kontakte. Von einigen Adoleszenten wird berichtet, dass sie gerne an Freizeitaktivitäten, vor allem mit ‚indirekten‘ Sozialkontakten, teilnehmen, von anderen, dass sie scheinbar keine außerfamiliären sozialen Beziehungen wünschen. Einige Eltern äußern die Vermutung, dass eine deutliche Differenz zwischen dem Wunsch der Eltern und dem Bedürfnis der Adoleszenten nach sozialen Kontakten vorliegt. Den Einfluss der Faktoren Autismus und Pubertät auf das Kontaktverhalten voneinander zu trennen, erscheint vielen Eltern zudem schwierig. Als besonders problematisch wird die Situation erlebt, wenn ein klares Bedürfnis nach Kontakt sichtbar ist, die notwendigen sozialen Kompetenzen beim Jugendlichen oder jungen Erwachsenen jedoch zu fehlen scheinen. „Er lernt ja auch Mädchen kennen. Und irgendwie gefällt er anfangs auch den Mädchen. Aber ich denke, er wird ihnen ganz schnell einfach irgendwie langweilig. Weil er erzählt ja keinen Smalltalk. Er erzählt ja dann nur leidenschaftlich von seinen Informatiksachen und ich denke mir mal, dass die Mädchen sich irgendwann überlegen: ,Was erzählt der mir da die ganze Zeit? ‘ Er kann auch keine Komplimente machen, nichts. Also er ist einfach völlig hölzern. Und ich denke, das ist ein großes Problem. Weil er möchte gerne einen Freund oder besten Freund und eine Beziehung, eine Freundin, oder. Und das hat er nicht. Und ich denke, da leidet er sehr, ja.“ (Interview 4) Als Handlungsbedarf bei der Gestaltung von Sozialkontakten wird von den Eltern zum einen der Wunsch nach Unterstützungsangeboten zum Erlernen entsprechender Fertigkeiten im Sinne eines Trainings sozialer Kompetenzen geäußert. Zum anderen wird die Hoffnung formuliert, dass die Heranwachsenden auf ein offenes Umfeld stoßen, in dem sie mit ihren Besonderheiten in der Kommunikation und Interaktion akzeptiert werden und sich entsprechend ihrer Bedürfnisse einbringen können. 3.4 Weitere Unterstützungsangebote Diese letzte Hauptkategorie der Interviews thematisiert ergänzende Erfahrungen und Handlungsbedarfe im Leben von und mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer Autismus-Spektrum-Störung, die nicht eindeutig den vorangehend aufgeführten Themenbereichen zugeordnet werden können. Einen zentralen Stellenwert nimmt themenübergreifend die Präsenz von kompetenten Fachpersonen ein. Diese sind aus Sicht der Eltern besonders dann hilfreich, wenn sie Fachkenntnisse, Erfahrung, Engagement und Vernetzung im Themengebiet des Autismus miteinander vereinen. Unterstützend ist zudem, wenn in diesem Kontext eine vertrauensvolle Beziehung entsteht, Bedürfnisse und Kompetenzen sowohl der Adoleszenten als auch der Eltern berücksichtigt werden und sich die Fachleute für deren Belange einsetzen. Regelmäßige Beratungsangebote, z. B. im institutionellen Rahmen von Kinder- und Jugendpsychiatrischen Diensten, Beratungsstellen oder bei freiberuflich tätigen Fachpersonen, werden ebenfalls als wichtige Ressource beschrieben. Als Beratungsinhalte wünschen sich die Eltern sowohl die Klärung konkreter rechtlicher oder medizinischer Fragen als auch die Begleitung und Unterstützung im familiären Alltag. Als weitere unterstützende Angebote in der Adoleszenz werden therapeutische Maßnahmen, familienentlastende Dienste sowie der Austausch der Eltern in Selbsthilfegruppen angesprochen. VHN 2 | 2015 149 ANDREAS ECKERT, SUSANNE STÖRCH MEHRING ASS in der Adoleszenz: Die Perspektive der Eltern FACH B E ITR AG Handlungsbedarf sehen die Eltern insbesondere im quantitativen Ausbau der regional häufig unzureichend vorhandenen Beratungs-, Entlastungs- und Therapieangebote. Eine besondere Bedeutung wird in diesem Kontext der kontinuierlichen und autismusspezifischen Begleitung über die komplette Lebensspanne der Kindheit und Adoleszenz zugesprochen. Dieses Angebot können sich einzelne Eltern in Form einer unabhängigen Anlauf- und Vermittlungsstelle vorstellen. Andere Eltern wünschen sich eine feste Ansprechperson, die die Familie gut kennt und über einen längeren Zeitraum persönlich begleitet. „Dass du phasenweise eine Begleitung hast. Oder wie jetzt auch noch, was ich mir nicht alleine zusammensetzen kann, wie sieht die Zukunft aus? Dass man das mit jemandem besprechen könnte. Das wäre schon noch schön, ja. Und es muss natürlich eine Vertrauensperson sein, dass wir nicht irgendeine 0800er- Nummer haben, wo du so schnell anrufen kannst, sondern wirklich eine Person, die auch die persönliche Situation zu Hause gut kennt.“ (Interview 10) Beiden Vorschlägen gemeinsam ist der Gedanke des Case-Managements in der Begleitung und Unterstützung des Heranwachsenden mit einer Autismus-Spektrum-Störung und seiner Familie. 4 Fazit Die dargestellten Ergebnisse geben aus der Elternperspektive einen Einblick in relevante Themen und Facetten des Lebens von und mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer Autismus-Spektrum-Störung. Der Analyse bisheriger Erfahrungen der Eltern sowie der Ableitung aktueller Handlungsbedarfe sind sehr konkrete Beiträge zur Weiterentwicklung bestehender fachlicher Angebote und Konzepte zu entnehmen. Die gewonnenen Erkenntnisse beziehen sich dabei primär auf die deutschsprachige Schweiz. Gleichzeitig beinhalten sie unseres Erachtens zahlreiche Anregungen, die überregional eine hohe Bedeutung für die Gestaltung professioneller Unterstützungsangebote in der Adoleszenz beim Vorliegen einer Autismus-Spektrum-Störung haben. Zusammenfassend lassen sich die folgenden Schlussfolgerungen und Empfehlungen formulieren: n Der Aufbau eines (Basis-)Wissens über Charakteristika der Autismus-Spektrum-Störungen sollte für alle Institutionen, die mit dieser Zielgruppe in der Lebensphase der Adoleszenz arbeiten, eine Priorität darstellen. n Auf der Basis vorhandener Kenntnisse und Kompetenzen zur Unterstützung und Begleitung von Adoleszenten mit einer Autismus-Spektrum-Störung sollte die adäquate Gestaltung des jeweiligen institutionellen Kontextes (u. a. durch Strukturierung und Klarheit von Abläufen und Arbeitsprozessen) verstärkt in den Fokus rücken. Selbstständigkeit und Zufriedenheit der Adoleszenten stellen dabei handlungsleitende Orientierungspunkte dar. n Individualisierung, Bedürfnisorientierung und die Kooperation mit den Eltern als Leitideen heil- und sonderpädagogischer Arbeit sollten auch in der Adoleszenz zentrale konzeptionelle Elemente sein. n Die Öffentlichkeit sollte vermehrt für das Thema Autismus-Spektrum-Störungen sowie die gesellschaftliche Integration und die Akzeptanz der individuellen Besonderheiten der Betroffenen sensibilisiert werden. n Die Ausweitung autismusspezifischer Angebote in den Bereichen Freizeitgestaltung, Berufsausbildung und Wohnen lässt sich aus der Elternperspektive als übergeordneter Ansatzpunkt für Weiterentwicklungen hervorheben. VHN 2 | 2015 150 ANDREAS ECKERT, SUSANNE STÖRCH MEHRING ASS in der Adoleszenz: Die Perspektive der Eltern FACH B E ITR AG n Die Bereitstellung spezialisierter und kontinuierlich zugänglicher Beratungsangebote sollte den Aussagen der Eltern von Adoleszenten mit einer Autismus-Spektrum-Störung zufolge ein besonderes Gewicht in der konzeptionellen Gestaltung von Unterstützungsangeboten erhalten. Literatur Bölte, S. (Hrsg.) (2009): Autismus. Spektrum, Ursachen, Diagnostik, Intervention, Perspektiven. Bern: Huber Dreher, M.; Dreher, E. (1985): Entwicklungsaufgaben im Jugendalter: Bedeutsamkeit und Bewältigungskonzepte. In: Liepmann, D.; Stikstrud, A. (Hrsg.): Entwicklungsaufgaben und Bewältigungsprobleme in der Adoleszenz. Sozial- und entwicklungspsychologische Perspektiven. Göttingen: Hogrefe, 56 -70 Dresing, T.; Pehl, T. (2013): Praxisbuch Interview, Transkription & Analyse. Anleitungen und Regelsysteme für qualitativ Forschende. 5. Auflage. 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