Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2014.art24d
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Forschungsrezeptionen zur Wirksamkeit: Kuckuckseier in pädagogisch-therapeutischen Berufen?
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Martin Vetter
Zusammenfassung: Psychomotorik hat nach traditionellem Wissenschaftsverständnis mit fehlenden Wirksamkeitsnachweisen zu kämpfen. Faktisch ist die Wirksamkeitsforschung in diesem pädagogisch-therapeutischen Beruf bis heute sehr übersichtlich geblieben. Der Beitrag zeigt auf, dass eine oberflächliche Rezeption von Forschungsergebnissen aus anderen Forschungsfeldern oder -regionen problematisch sein kann. Dazu werden eine einflussreiche US-amerikanische Metastudie, ihre Adaption auf den hiesigen Kontext der Psychomotorik und die daraus entstandenen Folgen beleuchtet. Als Konsequenz daraus wird dargelegt, was Forschungsergebnisse aus angrenzenden Disziplinen im Hinblick auf psychomotorische Forschung leisten könnten und wie neue Forschungsansätze im Fach darauf Bezug nehmen sollten. Die zentrale These ist die, dass Metastudien Fingerzeige und Hinweise für eine zu entwickelnde fachspezifische Forschung liefern können, eine lediglich oberflächliche Adaption und Diskussion ihrer Ergebnisse dagegen nicht hilfreich ist
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151 VHN, 84. Jg., S. 151 -162 (2015) DOI 10.2378/ vhn2014.art24d © Ernst Reinhardt Verlag FACH B E ITR AG Forschungsrezeptionen zur Wirksamkeit: Kuckuckseier in pädagogischtherapeutischen Berufen? Martin Vetter Pädagogische Hochschule Schwyz Zusammenfassung: Psychomotorik hat nach traditionellem Wissenschaftsverständnis mit fehlenden Wirksamkeitsnachweisen zu kämpfen. Faktisch ist die Wirksamkeitsforschung in diesem pädagogisch-therapeutischen Beruf bis heute sehr übersichtlich geblieben. Der Beitrag zeigt auf, dass eine oberflächliche Rezeption von Forschungsergebnissen aus anderen Forschungsfeldern oder -regionen problematisch sein kann. Dazu werden eine einflussreiche US-amerikanische Metastudie, ihre Adaption auf den hiesigen Kontext der Psychomotorik und die daraus entstandenen Folgen beleuchtet. Als Konsequenz daraus wird dargelegt, was Forschungsergebnisse aus angrenzenden Disziplinen im Hinblick auf psychomotorische Forschung leisten könnten und wie neue Forschungsansätze im Fach darauf Bezug nehmen sollten. Die zentrale These ist die, dass Metastudien Fingerzeige und Hinweise für eine zu entwickelnde fachspezifische Forschung liefern können, eine lediglich oberflächliche Adaption und Diskussion ihrer Ergebnisse dagegen nicht hilfreich ist. Schlüsselbegriffe: Forschungsmethoden, Psychomotorik, Wirksamkeit, Evidenz Receptions of Efficacy in Research: Cuckoo Eggs in Educational-Therapeutic Professions? Summary: According to traditional scientific understanding, psychomotricity has to fight against an absence of proven efficacy. Until today, research in this field is rather sparse. The article shows that superficially accepting research results from other research areas or regions can be problematic. For this purpose, an influential US meta-study, its adaptation to the local context of psychomotor therapy in the German speaking part of Europe, and the ensuing effects are examined. As a consequence, the article provides a perspective on which research results from related disciplines could contribute to psychomotor research and how new research approaches in the field of psychomotricity should specifically refer to them. The main thesis of the article is that meta-studies should provide hints and indications for subjectspecific research but that a superficial adaption and discussion of their results is not helpful. Keywords: Research methods, psychomotor therapy, efficacy, evidence 1 Kavale/ Mattson: Eine einflussreiche Metastudie im Bereich des perceptual motor learning Eine im deutschsprachigen Raum im Umfeld der Psychomotorik in den letzten Jahrzehnten häufig rezipierte Forschungsarbeit ist die Metastudie von Kenneth Kavale und P. Dennis Mattson von 1983 zur Wirksamkeit des perceptual motor training aus den USA. Die Metastudie hat unzweifelhaft die Diskussion und die Forschung im Bereich der Psychomotorik bis heute beeinflusst. Es stellt sich allerdings aus heutiger Sicht die Frage, ob daraus gezogene Schlüsse tatsächlich hilfreich und zielführend waren, was die Entwicklung des Faches und das Selbstverständnis von Psychomotoriktherapeutinnen und -therapeuten betrifft. VHN 2 | 2015 152 MARTIN VETTER Forschungsrezeptionen zur Wirksamkeit FACH B E ITR AG Es ist außerordentlich interessant, zunächst einen Blick auf das amerikanische Verständnis des perceptual motor training, in Abgrenzung zum Verständnis von Psychomotorik, zu werfen, um dann die so oft zitierten Datenquellen der Kavale/ Mattson-Studie noch einmal vertieft anzuschauen. Im Fortgang dieses Beitrages können dann die bisherigen Rezeptionen und die Auswirkungen in der Praxis auf dieser Grundlage an Beispielen diskutiert und Vorschläge für eine veränderte Forschungspraxis unterbreitet werden. Die Ergebnisse der Metastudie wurden von den Autoren in einem Artikel mit dem Titel „One Jumped Off The Balance Beam: Meta- Analysis of Perceptual-Motor Training“ (Kavale/ Mattson 1983) veröffentlicht. Die Autoren erklären in ihrem Artikel die gewünschte Konnotation mit dem Buch „Einer flog über das Kuckucksnest“ von Ken Kesey (171). Datenbasis der Analysen von Kavale und Mattson waren Arbeiten, die durch „standard literature search procedures that identified both published and unpublished studies“ (Kavale/ Mattson 1983, 166) gefunden wurden. Einziges Einschlusskriterium war „the presence of a control group“. „Of the 180 studies, 110 (61 %) were from journals, 39 (22 %) were dissertations, and 31 (17 %) were from other sources (ERIC documents, USOE reports, books, and conference proceedings).“ (166) Somit handelte es sich also scheinbar um eine solide Datenbasis. Die Autoren ermittelten vier „outcome classes“: perceptual/ sensory motor, academic achievement, cognitive/ aptitude und adaptive behavior (167). Diese Klassen wurden im Verlauf weiter verfeinert in Unterkategorien und diese noch einmal in „special outcome categories“ unterteilt (168). Für alle diese Klassen und Kategorien berechneten die Autoren nun Effektstärken und Standardfehler und bezogen die Berechnungen auf „percentile ranks“ (166), um eine Einordung der Interventionsgruppen gegenüber den Kontrollgruppen vornehmen zu können. Ihre zentrale Interpretation der Daten war, „that perceptual motor training is not an effective intervention technique for improving academic, cognitive, or perceptual-motor variables“ (165). Die Ergebnisse wurden von verschiedener Seite aufgegriffen und deren Bedeutung für Psychomotorik unterschiedlich interpretiert, in deutscher Sprache in chronologischer Folge u. a. bei Zimmermann (1996), Walter (2002), Gallinat/ Rix (2004), Eggert (2009), Gebhard/ Kuhlenkamp (2011), Richter (2010) oder Vetter (2013). Bezüglich der Bedeutung von Bewegungsinterventionen auf Lernen finden sie sich aktuell gar in der vielbeachteten Metaanalyse „Lernen sichtbar machen“ des Neuseeländers John Hattie (2013, engl. Original 2009) wieder. 2 Das aktuelle Verständnis von Psychomotorik im Hinblick auf die Datenbasis der US-amerikanischen Studie Bei aller Vielfalt versteht sich Psychomotorik im deutschsprachigen Raum schon spätestens seit Beginn der 80er Jahre als „ganzheitlichhumanistische, entwicklungs- und kindgemäße Art“ (Kiphard 1984, 49) der Intervention mittels Bewegung. Es geht heute entweder darum, das Selbstkonzept zu stärken (z.B. Zimmer 2012), Entwicklungsaufgaben zu bewältigen (z. B. Fischer 2009) oder auch mit der Klientel im Sinne des Fallverstehens phänomenologisch, hermeneutisch oder tiefenhermeneutisch über psychomotorische Bewegungssituationen an Themen zu arbeiten bzw. Erkenntnisse zu gewinnen (z. B. Seewald 2007). Selbst bei vordergründig funktional wirkenden Zugängen werden persönlichkeitsbildende Aspekte nicht außer Acht gelassen (Naville/ Marbacher 2012). In nahezu allen derzeit gebräuchlichen Ansätzen wird ein multidimen- VHN 2 | 2015 153 MARTIN VETTER Forschungsrezeptionen zur Wirksamkeit FACH B E ITR AG sionales Verständnis von Entwicklung deutlich (vgl. Haas 1999; Vetter 2001): Es geht dabei zwar auch um die Förderung der Bewegungsfertigkeiten an sich, mehr aber um die Verbesserung der persönlichen Situation, um, beispielsweise bezogen auf den Bildungskontext, Teilhabe an Gesellschaft, Lernen und Bildung zu ermöglichen. Es handelt sich konzeptionell also nicht um ein Training zur Verbesserung der Motorik, sondern mehr um eine Unterstützung der Selbstwerdung und des Findens von eigenen Ressourcen mittels Bewegungsangeboten. Dass bewegungsbezogene Funktionen sich dabei verbessern, ist in einer zeitgemäß verstandenen psychomotorischen Förderung oder Therapie also ein Aspekt im Rahmen eines bio-psycho-sozialen Verständnisses von Diagnose und Intervention. In den USA existiert neben dem Begriff des perceptual motor training, der, wie ausgeführt, oftmals dem deutschsprachigen Begriff Psychomotorik gleichgesetzt wird, der Begriff des movement skill training. Beywl und Zierer (2013, 182) übersetzen den Begriff des perceptual motor training mit „Bewegungserziehung“ und „perzeptueller Motorik“, während movement skill training eher das Training von Bewegungsfertigkeiten meint (vgl. auch Pless/ Carlsson 2000). Für ihre Metaanalyse haben Kavale/ Mattson bei der Auswahl der Studien diesbezüglich nicht weiter unterschieden: In ihre Metastudie wurden Studien aller Methoden, gleichgültig, ob sie ein Bewegungstraining, eine Bewegungs- oder eine Lernförderung intendierten, einbezogen. Folglich finden sich in der Datenbasis der Metastudie einerseits Studien, die der psychomotorischen Förderung nach unserem Verständnis eventuell zuzurechnen sind, andererseits auch Einzelstudien, welche das Training von Bewegungsfertigkeiten fokussieren (vgl. Nolan 2004, 68). Selbst diejenigen Studien, die einer amerikanischen Definition von psychomotorischem Training (perceptual motor training) zu folgen scheinen, entsprechen nur in wenigen Fällen einem Verständnis von Psychomotorik, wie wir es in den deutschsprachigen Ländern seit Jahren kennen. So findet sich das „patterning“ (Doman u. a. 1960), also die Einübung von Bewegungsfertigkeiten durch deren ständige Wiederholung mit dem Verweis auf hierarchische Stadienmodelle der Entwicklung, so gut wie gar nicht in psychomotorischen Zugangsweisen hierzulande, jedoch sind Werke der Vertreter dieses Zugangs in der Metaanalyse von Kavale/ Mattson vorhanden. In der Analyse von Kavale/ Mattson findet sich also eine erkleckliche Anzahl von Studien, welche nach hiesigem Verständnis der Psychomotorik gar nicht, nicht mehr oder nur ansatzweise entsprechen. 3 Analysen und Thesen zur Datenbasis Einziges benanntes Kriterium für die Berücksichtigung von Studien zum perceptual motor training in der Metaanalyse, die über „standard literature search“ identifiziert wurden, war die Existenz einer Kontrollgruppe: „The single inclusion criterion was the presence of a control group (…). This criterion eliminated clinical reports and case studies.“ (Kavale/ Mattson 1983, 166) Bewusst wurden außerdem methodisch schwache Studien in die Analyse mit einbezogen: „Almost half of the 180 studies reviewed being rated low in internal validity.“ (172) Ein Prüfstein für die Aussagekraft der Ergebnisse von Metastudien ist die gewissenhafte, nachvollziehbare und vor allem lückenlose Erfassung derjenigen Studien, welche die zuvor festgelegten und transparenten Einschlusskriterien erfüllen. Nolan (2004, 69) fand heraus, dass 14 der 180 Studien, die in der Analyse von Kavale/ Mattson berücksichtigt wurden, keine VHN 2 | 2015 154 MARTIN VETTER Forschungsrezeptionen zur Wirksamkeit FACH B E ITR AG Kontrollgruppe hatten (und er benennt auf S. 67 alle 14 Studien namentlich), zudem weitere (ebenso namentlich genannte) sieben Studien, die mit ihren Ergebnissen in der Datenanalyse der Metastudie mehrfach Verwendung fanden, da sie, wie allgemein üblich, mit immer identischem Datenmaterial in unterschiedlichen wissenschaftlichen Artikeln publiziert wurden (67). Weitere sieben einbezogene Studien waren Fallstudien bzw. Literatur-Reviews ohne statistischen Inhalt. Zwei Studien hatten „no intervention or no motor intervention“ (69), zwölf namentlich benannte Studien „contained incomplete data, different measures used for pre-a and posttest or inconsistent handling of data“ (ebd.), 34 Studien besaßen eine Stichprobengröße < 20, 22 einbezogene Studien lediglich ordinalskalierte Daten (69f). Nolan fand außerdem mit einer EBSCO-Recherche und dem genannten Einschlusskriterium für den Zeitraum zwischen 1954 und 1979, also exakt für den Zeitraum, den Kavale/ Mattson in ihrer Studie umschließen, „after eliminating duplications“ (68), 105 zusätzliche Studien, die hätten berücksichtigt werden müssen, der Metastudie aber nicht zugeführt wurden (69). Allerdings bleibt deren Art und Aussage ohne weitere Analysen offen. Nolan vermisst zudem in der Veröffentlichung der Metastudie von Kavale/ Mattson wichtige Kenngrößen und Angaben: Es fehlten u. a. die Angabe der Such-Keywords zur Auswahl der Studien, die Benennung der Datenbanken, in denen gesucht wurde, exakte Zitation der Studien und die genaue Beschreibung des Vorgehens bei der Datenanalyse. Bezüglich des verwendeten Datenmaterials in der Metastudie von Kavale/ Mattson fällt aus heutiger Sicht auch auf, dass die Zeitspanne der eingespeisten Studien von 1954 bis 1979 reicht. Somit ist die jüngste berücksichtigte Studie in der Datenanalyse bereits deutlich über 30, die älteste sogar annähernd 60 Jahre alt (vgl. Nolan 2004, 68 und 72ff). Zusammenfassend kommt man, nicht zuletzt dank der vorzüglichen Analyse von Nolan (2004), deren Schlüsse so weit als möglich überprüft und durch eigene Überlegungen ergänzt wurden, zu folgendem Urteil: n Die US-amerikanischen Begriffsdefinitionen im Bereich der motorischen Förderung unterscheiden sich deutlich von den deutschsprachigen Definitionen der Psychomotorik. n Von den 180 berücksichtigten Studien bleiben nach Anlegen üblicher, strenger Maßstäbe an Metaanalysen, nach Abzug von Mehrfachnennungen, Studien mit anderer fachlicher Ausrichtung und Studien mit ungeeigneten Designs lediglich 70 übrig, die hätten Berücksichtigung finden sollen. Darunter findet sich m. E. nur noch eine (! ) Veröffentlichung einer Autorin, deren Konzepte in der deutschsprachigen Psychomotorik manchmal berücksichtigt werden (Ayres 1972). n Mindestens 105 weitere Studien, die nach Nolans Recherche hätten berücksichtigt werden müssen, sind seinerzeit nicht in die Metastudie von Kavale/ Mattson eingeflossen. n Die Datenbearbeitung und -darstellung scheint unklar und unvollständig. n Das Datenmaterial ist aus heutiger Sicht veraltet. Somit kann man, nach heutigen Maßstäben, die Ergebnisse der Metastudie von Kavale/ Mattson zu Effekten des perceptual motor training auf die akademischen, kognitiven oder perzeptuell-motorischen Leistungen für die Psychomotorik hierzulande für bedeutungslos halten. Eine weitere Beschäftigung mit den Ergebnissen der Studie, so wie sie bisher geschehen ist, ist offensichtlich in keiner Weise zielführend, ja kontraproduktiv: Sie lenkt ab von einer Forschung, deren Fragestellungen auf die hiesigen Bedingungen und Möglichkeiten zugeschnitten sind und die das Fach dringend braucht. Sie lenkt ebenso ab von Fragen des richtigen und angemessenen methodischen Zugangs zu komplexen Themen und unterschiedlichen Ansätzen des Faches. VHN 2 | 2015 155 MARTIN VETTER Forschungsrezeptionen zur Wirksamkeit FACH B E ITR AG 4 Beispiele für Adaptionen der Studie und Folgen für die Praxis: Methoden-Mix auf unglückliche Weise Wie problematisch es sein kann, Forschungsergebnisse aus anderen fachlichen oder kulturellen Kontexten zu übernehmen, soll hier zunächst an der Einordnung der beschriebenen Metaanalyse im deutschsprachigen Raum noch einmal an Beispielen aufgezeigt werden. Walter (2002) veröffentlichte einen Beitrag dazu mit dem an das Original angelehnten Titel „Einer flog übers Kuckucksnest oder welche Interventionsformen erbringen im sonderpädagogischen Feld welche Effekte? “. Unter Bezug auf die Originalquellen des Berichts von Kavale/ Mattson resümiert er, dass Psychomotorik im Prinzip wirkungslos sei (449f). Wesentlich später wird die Studie in einem Artikel von Eggert (2009) mit dem Titel „Probleme mit der Psychomotorik: Kann sie wirklich alle Kinder mit besonderem Förderbedarf wirkungsvoll fördern? “ wieder aufgegriffen. Auch Eggert bezieht sich auf den oben zitierten Forschungsbericht der amerikanischen Autoren und schreibt: „Nach den vorliegenden Ergebnissen wäre Psychomotorik praktisch wirkungslos. Ein Nachweis von messbaren Ergebnissen war nicht möglich.“ (ebd., 461) Im monumentalem Analysewerk zu schulischen Lerneffekten von John Hattie (2013), in welches weit über 700 Metaanalysen einflossen, findet sich als einer seiner 138 für schulisches Lernen benannten Faktoren der Faktor „Bewegungserziehung“ (182f, im engl. Original: „perceptual motor programs“) wieder. Aussage auch hier bezüglich der Effekte von Bewegungserziehung im typischen Hattie-Barometer: Von 138 Faktoren belegt Bewegungserziehung bezüglich der Effekte auf Lernen Platz 128 mit einer extrem schwachen Effektstärke von d = 0,08. Bezüglich der Anzahl der eingespeisten Metastudien ist zu lesen, dass diesbezügliche Berechnungen von Hattie aus lediglich einer einzigen Metastudie erfolgten, nämlich aus derjenigen von Kavale/ Mattson (1983). Grundsätzlich ist Eggert in seinem Anliegen im oben genannten Beitrag (2009) zuzustimmen, dass eine kritische Haltung bezüglich der Erfolge der Psychomotorik hilfreich und notwendig ist. Auch ist der Autor ja selbst durch eine Vielzahl von Veröffentlichungen und Schriften als Protagonist der Psychomotorik ausgewiesen. Allerdings ist hier die Frage zu stellen, ob die exemplarisch geschilderte Art und Weise der Rezeption der Forschungsergebnisse und die bisher zum Teil daraus abgeleitete Forschung im Fach ausreichen oder geeignet sind, die Probleme und Stärken des Faches in der nötigen Exaktheit aufzuzeigen bzw. das Problem der fehlenden Wirksamkeitsnachweise langfristig zu lösen. Sie können sogar, dies wird bei näherer Betrachtung seines Beitrages deutlich, in die falsche Richtung lenken: Mögliche Wirkungen der Psychomotorik sieht Eggert selbst im weiteren Fortgang seines Artikels (Eggert 2009) und als Konsequenz aus den Ergebnissen von Kavale/ Mattson in folgenden Bereichen: Es sei in einer Studie, an der er selbst beteiligt war (Beckmann u. a. 2003), festgestellt worden, „dass ein hoher Zusammenhang zwischen der Förderung des Bewegungs- und des Sozialverhaltens“ (Eggert 2009, 464) bestehe. Er resümiert diesbezüglich: „Psychomotorische Förderung kann also bei Kindern mit Migrationshintergrund wirksam sein.“ (ebd.) In einer Veröffentlichung zu dieser von Eggert als Ausweg aus den mangelnden Effekten bei Kavale/ Mattson betrachteten und als Wirksamkeitsbeleg zitierten Studie ist nachzulesen, dass sich in der Interventionsgruppe des 13-monatigen Förderprojekts in einer Grund- VHN 2 | 2015 156 MARTIN VETTER Forschungsrezeptionen zur Wirksamkeit FACH B E ITR AG schule im Hannoveraner Stadtteil Linden-Nord zehn Versuchspersonen befanden, in der Kontrollgruppe, welche kein Treatment erhielt, 13 Versuchspersonen, also insgesamt eine Stichprobengröße von n = 23 Versuchspersonen. Als Messinstrumente, um Unterschiede in der Entwicklung in den beiden Gruppen nach Intervention zu eruieren, wurden nichtnormierte und nicht-standardisierte, qualitativ ausgerichtete Mess- und Dokumentationsverfahren eingesetzt, und zwar offenbar von denjenigen, die auch die Intervention selbst durchführten (u. a. Verfahren von Cardenas 1996; Eggert 1993; Eggert 1997; Videoanalysen). Die Darstellung des Untersuchungsablaufs und der Ergebnisse, ausgewiesen vorwiegend über Mittelwertberechnungen der qualitativen Diagnostikergebnisse, ist interessant, aber an verschiedenen Stellen unvollständig: Die genaue Vorgehensweise wird nicht dokumentiert, es erfolgen außerdem Weglassungen: „Im Verlauf der Untersuchung hat sich eine zusammenfassende graphische Darstellung der Ergebnisse der motorischen Entwicklung mit Hilfe der Diagnostik mit Pfiffigunde als sehr schwierig erwiesen.“ (Beckmann u. a. 2003, 8) Beobachtet wurden mit den eingesetzten Instrumenten Effekte in psychomotorischen Förderbereichen. Nach der Darstellung dieser Effekte im Artikel werden sie selbstkritisch hinterfragt: „In diesem Zusammenhang sollte weiterhin erwähnt werden, dass unser Förderkonzept und unsere Handlungsprinzipien im hohen Maße mit den pädagogischen Zielsetzungen der Klassenlehrerinnen übereinstimmten. Deshalb ist die Effektivität der psychomotorischen Intervention in Abhängigkeit der Wechselwirkungen an der Förderung indirekt oder direkt beteiligter Personen zu sehen.“ (ebd., 12) Im geschilderten Beispiel kommt es somit zu einer methodisch unglücklichen Vermischung zwischen Elementen quantitativer und qualitativer Forschungsmethoden: Die Studie ist zunächst methodisch so angelegt, dass sie quantitative Ergebnisse erzeugen soll, die mit eher qualitativen Diagnostikinstrumenten erhoben wurden. Die Interpretation erfolgt wiederum eher quantitativ. Ohne hier weiter ins Detail zu gehen, kann angezweifelt werden, ob die Ergebnisse solcher Studien generalisierbar sind. Die methodischen Möglichkeiten wurden offenbar nicht ausgereizt. Der Umstand beispielsweise, dass die Effekte der Studie nach Einschätzung der Autoren selbst nicht tatsächlich auf die psychomotorische Intervention, sondern auf Wechselwirkungen mit anderen Parametern zurückzuführen sein könnten, ist ein lange bekanntes Phänomen, welchem in modernen Längsschnittstudien mit mehrgruppigen Designs methodisch entgegengewirkt wird. Denn ein Effekt alleine, und dies wird scheinbar in der erwähnten Untersuchung nicht unterschieden, bedeutet nicht zugleich, dass die Maßnahme wirksam war: Vermutlich waren in der skizzierten Studie, wie im Beitrag dort auch benannt, andere Faktoren wirksam. Somit hätten wohl viele andere, nicht-psychomotorische Interventionen einen sehr ähnlichen Effekt hervorgerufen. Die Studie ist folglich für den Nachweis von Effekten der Psychomotorik nicht geeignet. Payr (2011) untersuchte in ihrer Metaanalyse den Zusammenhang zwischen motorischer und kognitiver Entwicklung im Kindesalter in 53 Korrelations- und 17 Interventionsstudien. Sie findet bei ihrer Recherche zunächst eine sehr heterogene Situation vor, was den exakten Untersuchungsgegenstand und die methodische Qualität der Studien angeht. Sie ermittelt anschließend keine klaren Effekte oder Korrelationen und schließt auch Studien der Psychomotorik ein, wenn sie bezüglich der Gründe für die unklare Datenlage resümiert: „Die Ergebnisse zur methodischen Qualität zeigen bei einem großen Teil der Primärstudien Mängel bei der Publikationspraxis, der Theoriefundierung, der Repräsentativität der Stichproben sowie der Randomisierung bei Interventionsstudien.“ (Payr 2011, 415) Schwarz, der in einem Review längsschnittlicher Evaluations- VHN 2 | 2015 157 MARTIN VETTER Forschungsrezeptionen zur Wirksamkeit FACH B E ITR AG studien Effekte der Bewegungsförderung beschreibt und dabei auch psychomotorische Studien analysierte, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: „Für zukünftige Studien bleibt somit die Aufgabe weiterhin, die Intention, Implementation, Instrumentation/ Evaluation und die Ist-Situation methodisch präziser zu verknüpfen.“ (Schwarz 2014, 62) Die Folgen der unklaren Forschungslage für die Praxis können an einem Beispiel kurz skizziert werden: Typisch für die derzeitige Situation ist die Legitimation von psychomotorischen Förder- und Therapie-Maßnahmen über motorische Defizite der Klientel (z. B. durch umfangreich nach Testgütekriterien normierte und standardisierte Tests wie den MOT 4 - 6, Zimmer/ Volkamer 1987), obwohl die Beseitigung dieser Defizite doch, wie ausgeführt, nicht zwingend den Kern des heutigen beruflichen Selbstverständnisses trifft. Somit kommt die mit aktuellen Konzepten arbeitende Psychomotoriktherapeutin womöglich in das Dilemma, dass die Inhalte ihrer von einem biopsycho-sozialen Verständnis geplanten Förder- und Therapiestunden nicht an die ursprünglich vereinbarte, eher motorische Aspekte fokussierende Legitimation ihres Tätigwerdens im Fall rekurrieren. Die mögliche Folge ist eine häufig diffuse Situation zum Ende der Therapie oder Förderung: Die Therapeutin schließt ihre Intervention allenfalls dann als erfolgreich ab, wenn sich die Situation in einem anderen Bereich als dem motorischen verbessert hat. Vielleicht wird dabei auch klar, dass die Verbesserung der motorischen Situation nicht das eigentliche Therapieziel war, sondern die Messung der motorischen Fähigkeiten zu Beginn der Intervention mit wissenschaftlich abgesicherten Tests lediglich als eine Art Argumentationshilfe für die Zuweisung zu Therapie oder Förderung benutzt wurde. Dahinter steckt vermutlich der Wunsch, die Entscheidung zur Durchführung einer Psychomotoriktherapie auf evidenzbasierterer Basis herzuleiten. Damit wird die erlebte Verunsicherung durch den Mangel an Evidenznachweisen in den heutzutage eigentlichen Kernbereichen der Psychomotorik umgangen. 5 Hattie: Was kann an Metastudien bedeutsam sein für Psychomotorik? Zugänge zu den Themen Effekte und Wirksamkeit der Psychomotorik werden in den letzten Jahren nun neu durchacht und geschickter, beispielsweise im Sinne von Methodentriangulation und Mixed-methods-Designs, angewandt, so etwa in Beiträgen in der Zeitschrift motorik (vgl. u. a. Behrens 2010; Böcker u. a. 2013; Ruploh u. a. 2013; Vetter 2013). Denn dass Fragen nach Effekten und Wirkungen dezidiert im Fach beantwortet werden müssen und dass eine Fokussierung in der Forschung stattfinden muss, wird deutlich, wenn man das vielbeachtete Werk von Hattie (2013) studiert: Da Begriffsdefinitionen und Daten für Bewegungserziehung quasi 1 : 1 aus der einzigen eingespeisten, oben kritisierten Metastudie von Kavale/ Mattson übernommen wurden, trifft zwar das zuvor ausgeführte Statement auch hier zu, nämlich dass Psychomotorik, wie sie hierzulande verstanden wird, von Hattie nicht gemeint ist (und er dies natürlich auch nicht behauptet). Ohne eine Fokussierung und eigene Forschung ist es aber vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis die Befunde von Hattie erneut unreflektiert auf die Psychomotorik bezogen werden. Nebenbei hat Hattie die Halbwertszeit der Daten aus der 30 Jahre alten Studie von Kavale/ Mattson vermutlich um viele Jahre verlängert. Was kann also aus Metastudien für Psychomotorik überhaupt herausgelesen werden, wo sie doch eigentlich das Fach gar nicht im Blick haben? Zunächst einmal ist den Autoren des VHN 2 | 2015 158 MARTIN VETTER Forschungsrezeptionen zur Wirksamkeit FACH B E ITR AG Vorwortes und den Übersetzern der deutschsprachigen Ausgabe von Hatties Werk beizupflichten, wenn sie vor vorschnellen Interpretationen und Schlüssen warnen: „Wenn man in die Rezeption von Hatties ,Visible Learning‘ blickt, so lassen sich ohne längeres Suchen viele Beispiele für eine solche vorschnelle und oberflächliche Interpretation finden.“ (Beywl/ Zierer 2013, VIII) Auch hier sollen daher keine zu kurz gegriffenen Interpretationen abgeliefert werden. Wohl aber kann man sich fragen, welchen Nutzwert die Hattie-Befunde nun für die Erforschung von Effekten in der Psychomotorik, die in vielen europäischen Ländern mit Kindern im Schul- und Kindergartenalter arbeitet, haben könnten. In diesem Zusammenhang ist es interessant zu sehen, dass Hattie (2013) unter dem Kapitel „Beiträge der Lernenden“ (ab S. 47) Effektstärken für das Selbstkonzept (55 - 57) und unter „Beiträge der Curricula“ (ab S. 154) die Lerneffektstärken für Schreibförderung, für Spielförderung, für taktile Stimulation sowie für die Förderung der visuellen Wahrnehmung berechnet. Diese Bereiche bieten zumindest mehr oder weniger große Schnittstellen zu psychomotorischen Interventionen, wenn sie auf das Interventionsfeld Schule bezogen sind. Alle hier genannten Förderbereiche erzielen bei Hattie mittlere oder gar hohe Effektstärken. Bezogen auf das Selbstkonzept beispielsweise, ein ausgewiesener Schwerpunkt psychomotorischer Therapie und Förderung, gibt es gemäß der Hattie-Systematik hohe erwünschte Effekte auf schulisches Lernen (d = 0,43) (ebd., 55). Methodisch zu beachten ist hier aber (neben ganz anderer, grundsätzlicherer Methodenkritik, wie sie beispielsweise Brügelmann [2013] formuliert) die Gerichtetheit der Forschungsfragen: Während Hattie sich vor allem für den Effekt eines guten Selbstkonzepts im Hinblick auf Lernleistungen interessiert, ist die psychomotorische (Forschungs-)Frage eher die nach Effekten von Methoden und Techniken zur Verbesserung des Selbstkonzeptes an sich. Hattie selbst benennt zudem die schwierigen Kausalitäten und Direktionalitäten bei der Untersuchung von Fragen des Selbstkonzeptes (56). Was selbstverständlich außerdem in diesem Zusammenhang erwähnt werden muss, ist die Notwendigkeit der anspruchsvollen, fachspezifischen Aufarbeitung der Begrifflichkeiten rund um das Thema Selbstkonzept, wie sie für Psychomotorik in Teilen u. a. von Zimmer (2012) geleistet wurde, die jedoch hier aus Platzgründen nicht weiter thematisiert werden kann. Unabhängig davon lassen sich aber erste Ansatzpunkte erkennen, wo fruchtbare Hinweise aus einer solchen Metastudie liegen könnten: Mit Verweis auf die Meta-Studie von Valentine, Du Bois und Cooper (2004) zitiert Hattie u. a. verschiedene Erklärungsmodelle für den Zusammenhang von Lernleistungen und Selbstkonzept. Interessant ist dabei seine Konklusion: „Die Lernleistung wird eher gesteigert, wenn Lernende das Lernen statt Leistungsstrategien aktivieren, wenn sie Feedback annehmen statt es zurückzuweisen (…) und wenn sie Selbstregulierung und persönliche Kontrolle ausüben, anstatt Hilflosigkeit in Lernsituationen zu zeigen.“ (2013, 56f) Hier finden sich also erste Hinweise darauf, wie eine Selbstkonzeptförderung, zielt sie denn auf Verbesserung von Lernleistungen ab, angelegt werden könnte: „Die Bereitschaft (…), Offenheit gegenüber neuen Erfahrungen zu zeigen, sind die entscheidenden Faktoren der persönlichen Disposition, die mit der Lernleistung in Beziehung stehen.“ (ebd., 57) Daraus vorsichtig abgeleitet müssten also nicht funktionale Übungsprogramme im Vordergrund des Untersuchungsinteresses stehen, die, wie oben beschrieben, auch eher nicht zum Selbstverständnis von Psychomotorik passen. Interessanter sind demnach Fragestellungen, die Effekte einer Persönlichkeitsbildung in den VHN 2 | 2015 159 MARTIN VETTER Forschungsrezeptionen zur Wirksamkeit FACH B E ITR AG Blick nehmen. Diese Hinweise legen somit Forschungsfragen nahe, die der Psychomotorik in ihrem aktuellen Verständnis entgegenkommen: „Ziel Psychomotorischer Erziehung ist es, die Eigentätigkeit des Kindes zu fördern, es zum selbstständigen Handeln anzuregen, durch Erfahrungen in der Gruppe zu einer Erweiterung seiner Handlungskompetenz und Kommunikation beizutragen.“ (Zimmer 2013, 186) 6 Wie ist psychomotorische Forschung nun anzulegen? Beispielhaft wurde aufgezeigt, dass einerseits die bisherige Rezeption von quantitativer Forschung und andererseits die Forschung selbst in der Psychomotorik zum Teil mit Problemen behaftet waren, oder mehr noch, diese sogar erst geschaffen haben: Einige Studien mischten auf ungeschickte Weise qualitative und quantitative Methoden. Sowohl Studien aus dem Fachgebiet selbst als auch Rezeptionen von Studien angrenzender Fachgebiete unterschieden hier und dort nicht klar zwischen Effekten und Wirkfaktoren und weckten somit vielleicht auch falsche Illusionen. Warum ist in der Vergangenheit so wenig im Fach selbst geforscht worden? Die Erschwernisse für gute Forschung, hier im Hinblick auf die Besonderheiten in der Psychomotorik, sind auf den Punkt zu bringen (vgl. Vetter 2013): n Die als potenziell wirksam betrachteten Bereiche der Psychomotorik, folglich auch die Ausrichtung von Forschung, waren sehr unterschiedlich: Ging es um einen Nachweis der Verbesserung motorischer Funktionen (Trivialhypothese), um die Verbesserung schulischer Lernleistungen (Transferhypothese) oder um die Stabilisation der Gesamtpersönlichkeit (Stabilitätshypothese) (Eggert 1995, zit. n. Kuhlenkamp 2003, 66)? n Es stehen nur wenige personelle und finanzielle Ressourcen zur Verfügung, um originär psychomotorische Forschung zu ermöglichen. Dies wird sich vermutlich auch in den kommenden Jahren kaum ändern. n Der Forschungszugang ist sehr anspruchsvoll: Methodisch hohe Herausforderungen stellen gemäß Grohmann (1997, 89) Maßnahmen dar, die a) lange andauern, b) komplex sind und c) variabel ausgestaltet werden können. Psychomotorik erfüllt alle diese Merkmale, Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge sind somit schwierig zu identifizieren (vgl. auch Payr 2011, 99). n Psychomotorik wird in Deutschland (im Gegensatz zur Schweiz) in vielen verschiedenen Formen von ganz unterschiedlich ausgebildeten Fachkräften angeboten. Die Feldbedingungen sind für viele Forschungszugänge also nicht optimal, weil hochgradig heterogen. Ebenso stellt sich die Frage nach dem exakten Forschungsgegenstand im Hinblick auf die Vielgestaltigkeit des Faches, welches sich an einer Schnittstelle zwischen Pädagogik und Therapie befindet. Wenn also Eggert in der Überschrift seines Artikels fragt, ob Psychomotorik „wirklich alle Kinder mit besonderem Förderbedarf wirkungsvoll fördern“ kann (2009, 460), so wird eine mangelnde Differenzierung auch hier deutlich. Gebhard und Kuhlenkamp (2011) fragen in einer Replik zu Recht, ob die Psychomotorik diesen Anspruch überhaupt erhebt und wohin eine solche Aussage forschungsmethodisch führt. Denn unter einem solchen Omnibus-Anspruch können die konkreten psychomotorischen Forschungsfragen und die Methodik gar nicht exakt sein. Repräsentative Studien, die zum Beispiel originär eine psychomotorische Selbstkonzeptförderung in den Blick nehmen, wurden bisher, oft mit dem Verweis auf das komplexe Konstrukt, nicht umfassend geliefert. Es existieren also kaum Belege darüber, ob eine psychomo- VHN 2 | 2015 160 MARTIN VETTER Forschungsrezeptionen zur Wirksamkeit FACH B E ITR AG torische Selbstkonzeptförderung Effekte zeigt. Auch Hattie liefert natürlich keine Belege für eine psychomotorische Selbstkonzeptförderung an sich. Es ist aber auch für die Psychomotorik ein wichtiges Ergebnis, dass Selbstkonzept und Lernen positiv miteinander zu korrelieren scheinen, entlastet es doch das Fach ein wenig von Grundsatzfragen, die es selbst gar nicht klären kann oder sollte. Der Hattie-Befund schlägt sozusagen, aus psychomotorischem Blickwinkel betrachtet, die Richtung und die Fokussierung vor: Nicht das Selbstkonzept und sein Effekt „an sich“ müssen untersucht werden in der Psychomotorik, denn der positive Zusammenhang kann nach Hattie zunächst einmal als gesetzt gelten und dient somit als Ausgangsbasis für fachspezifische Überlegungen. Konkret bedeutet dies, dass Forschungsdesigns zur Selbstkonzeptförderung durch Psychomotorik einzelne Variablen in der Therapie modulieren und evaluieren könnten: Arbeiten mit Feedbacktechniken, Selbststrategien und Selbstregulationstechniken sind laut Hattie bedeutsame Bereiche, die in psychomotorischen Forschungszugängen fach-, regionen- oder settingspezifisch ergänzt oder erweitert werden könnten. Somit hilft die Metastudie, sich fachlich zu fokussieren (Selbstkonzept als bedeutsamer Faktor schulischen Lernens und die psychomotorische Relation dazu), den richtigen Ansatzpunkt zu finden (z. B. bedeutsame Variablen der Hattie-Daten fachspezifisch diskutieren und überprüfen) oder die psychomotorischen Besonderheiten herauszuarbeiten (durch Benennung und Untersuchung spezieller, ergänzender Faktoren, beispielsweise die Bedeutung und die Effekte des Interventionsmediums Bewegung im Vergleich zu anderen Interventionen im Bereich des Selbstkonzepts). Aus forschungsmethodischer Sicht und als Konklusion könnten folgende Fragen womöglich zu einem Erkenntnisgewinn beitragen: 1. Welche subjektiven Theorien und Überzeugungen haben psychomotorisch tätige Fachkräfte zur Selbstkonzeptförderung in der Psychomotorik und wie werden diese in der Anwendung sichtbar? 2. Wie verändern sich das Therapeutinnenverhalten und/ oder die Interaktion zwischen Therapeutin und Schüler/ innen in unterschiedlichen Settings? 3. Welche Effekte haben unterschiedliche Interventionssettings (Klassenbzw. Therapieraum/ Turnhalle; Gruppe/ Einzeltherapie) einer psychomotorischen Selbstkonzeptförderung auf schulisches Lernen? Wie schneiden bestimmte Techniken oder Zugänge innerhalb der psychomotorischen Arbeit im Vergleich ab? 4. Hat die Beziehungsgestaltung zwischen Therapeutin und Schüler/ in einen Einfluss auf den Erfolg der Therapie? Methodisch verlangen diese Fragen eine Bandbreite an Forschungszugängen: Qualitative Designs (z. B. für Fragen 1 und 4 mit an Grounded Theory angelehnten Auswertungen von Interviews und für Frage 2 in Form von Videoanalysen) und RCT-angelehnte Designs (z. B. für Frage 3 als Querund/ oder Längsschnitterhebung) würden sich ergänzen, um den Besonderheiten der psychomotorischen Selbstkonzeptförderung nachzugehen. 7 Fazit und Ausblick Metastudien können also - und genau das ist ja ihre eigentliche Funktion - wichtige Fingerzeige für den Fachdiskurs und für die Formulierung fachspezifischer Forschungsfragen liefern. Der bisher zuweilen erfolgte Versuch einer direkten Übertragung von Ergebnissen aus Metaanalysen ist, wie ausgeführt, eher kontraproduktiv und nicht zielführend. Exemplarisch (und derzeit noch eher hypothetisch) konnte aufgezeigt werden, dass eine Orientie- VHN 2 | 2015 161 MARTIN VETTER Forschungsrezeptionen zur Wirksamkeit FACH B E ITR AG rung an forschungsmethodischer Vielfalt unter Einhaltung von Forschungsstandards ein möglicher Weg ist, der potenziell vorhandene Effekte von psychomotorischen Interventionen herausarbeiten kann. Dass fachspezifische, durchdachte Forschungsfragen und die methodische Vielfalt bei deren Beantwortung gewinnbringend sein können, zeichnet sich in derzeit laufenden und vielversprechenden (zum Teil in bereits genannten, zum Teil in zur Veröffentlichung anstehenden) Forschungsprojekten von Kollegen und Kolleginnen ab und stimmt durchaus optimistisch. Literatur Ayres, A. J. (1972): Improving academic scores through sensory integration. In: Journal of Learning Disabilities 5, 338 -343. http: / / dx.doi.org/ 10.1177/ 002221947200500605 Ayres, A. J. (1979): Lernstörungen. 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Modifizierte Version online unter: http: / / paedpsych.jk.unilinz.ac.at: 4711/ LEHRTEXTE/ ZIMMERMANN/ Zimmermann3.html, 8. 12. 2013 Anschrift des Autors Prof. Dr. Martin Vetter Pädagogische Hochschule Schwyz Zaystrasse 42 CH-6410 Goldau martin.vetter@phsz.ch Tel.: +41 (0) 41 8 59 05 60
