eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 84/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2015.art16d
41
2015
842

Trend: Präimplantationsdiagnostik: Wo setzen wir die Grenzen?

41
2015
Christa Schönbächler
Stefanie Dadier
„Vielleicht wird man mir und meiner Frau in 10 Jahren vorhalten, dass wir vor der Geburt unseres Kindes auf verfügbare Diagnostiken verzichtet haben, und wir werden uns für die Geburt unseres Sohnes mit einer Trisomie 21 rechtfertigen müssen.“ Dies war eines von vielen ähnlichen Voten in einer Diskussion der Elternselbsthilfeorganisation insieme zur Fortpflanzungsmedizingesetzgebung in der Schweiz.
5_084_2015_2_0009
163 VHN, 84. Jg., S. 163 -166 (2015) DOI 10.2378/ vhn2015.art16d © Ernst Reinhardt Verlag Präimplantationsdiagnostik: Wo setzen wir die Grenzen? Das medizinisch Machbare stellt die Gesellschaft als Ganze vor grundsätzliche ethische Fragen Christa Schönbächler, Stefanie Dadier insieme Schweiz, Bern TRE ND „Vielleicht wird man mir und meiner Frau in 10 Jahren vorhalten, dass wir vor der Geburt unseres Kindes auf verfügbare Diagnostiken verzichtet haben, und wir werden uns für die Geburt unseres Sohnes mit einer Trisomie 21 rechtfertigen müssen.“ Dies war eines von vielen ähnlichen Voten in einer Diskussion der Elternselbsthilfeorganisation insieme zur Fortpflanzungsmedizingesetzgebung in der Schweiz. Angehörige von Menschen mit einer geistigen Behinderung verfolgen die Entwicklung in der Fortpflanzungsmedizin mit Besorgnis. Genetisch bedingte Krankheiten und chromosomale Veränderungen werden immer einfacher feststellbar. Neue technische Möglichkeiten werden entwickelt und immer mehr Anwendungsverfahren rechtlich zugelassen. Und die Forderungen sind bereits gestellt, dass die Krankenversicherungen diese bezahlen sollen. Ethisch besonders heikel und politisch umstritten ist die Präimplantationsdiagnostik. Präimplantationsdiagnostik - Selektion des „Besten“ im Reagenzglas Die Präimplantationsdiagnostik (PID) ist eine Form vorgeburtlicher Diagnostik, die bei der künstlichen Befruchtung angewendet wird. Dabei wird die befruchtete Eizelle am Erbgut untersucht, bevor sie in den Körper der Frau eingepflanzt wird. Mit der Untersuchung ist es möglich, den Embryo auf Gendefekte und chromosomale Anomalien (bspw. Trisomien), aber auch auf eine Fülle anderer im Erbgut gespeicherter Informationen und Veranlagungen (Geschlecht, Augenfarbe usw.) zu testen (vgl. Harper/ SenGupta 2012). Aufgrund des Ergebnisses werden gewisse Embryonen verworfen und die für gut befundenen für den Transfer in den Mutterleib ausgewählt. Bei den künstlich erzeugten Embryos wird im Labor eine Auswahl vorgenommen: die Auswahl des „Besten“. Diese Auswahl des „Besten“ zwingt zu einer Unterscheidung in lebenswertes und nicht lebenswertes Leben. Von der Ausnahmesituation zur Regelselektion Irreführenderweise wird häufig versucht, die PID mit der Pränataldiagnostik gleichzusetzen. Doch die Begründung, dass mit beiden Methoden die gleichen Krankheiten oder chromosomalen Veränderungen festgestellt werden können, greift zu kurz. Bei der Pränataldiagnostik haben die werdenden Eltern, vor allem die schwangere Frau, zu entscheiden, ob der Embryo in der Gebärmutter der Frau VHN 2 | 2015 164 CHRISTA SCHÖNBÄCHLER, STEFANIE DADIER Präimplantationsdiagnostik: Wo setzen wir die Grenzen? TRE ND ausgetragen werden und leben soll. Sie wählen nicht den „besten“ Embryo aus mehreren aus. Sie stehen vor der Frage, ob sie das eine Kind behalten wollen und sich für ein Leben mit einem behinderten Kind entscheiden können. Für die PID dagegen wird künstlich eine Auswahl an Embryonen hergestellt, das Paar bzw. medizinisches Personal trifft die Entscheidung, welcher Embryo aufgrund seiner genetischen Disposition eingepflanzt werden soll. Wenig bekannte Fakten Als Motiv für die Einführung der PID wird hauptsächlich angeführt, Paaren mit Fertilitätsproblemen helfen zu wollen. Medizinische Studien belegen jedoch, dass die PID die Chance auf eine Schwangerschaft bei künstlicher Befruchtung nicht erhöht (vgl. Harper u. a. 2010). Auch belasten die Hormonstimulationen den Körper einer Frau erheblich, da bis zu 12 Eizellen und mehr für die PID benötigt werden. Die Möglichkeit der PID zusammen mit dem „Social Egg Freezing“ weckt bei vielen Frauen falsche Erwartungen auf eine problemlose Mutterschaft in fortgeschrittenem Alter (vgl. insieme 2014 a). Zu beachten ist weiter, dass die Einführung der PID auch ökonomisch sehr große Vorteile bringen wird. In Österreich und in Italien ist die PID noch gänzlich verboten, in Frankreich und in Deutschland ist sie restriktiv geregelt. Mit einer liberalen Gesetzeslösung wird die Schweiz als Behandlungsort für unfruchtbare Paare aus umliegenden Ländern attraktiv. Schweiz: Entwicklung mit zunehmender Dynamik und ungewissem Ausgang In der Schweiz ist die Präimplantationsdiagnostik heute noch verboten, doch hat das Parlament die Aufhebung dieses grundsätzlichen Verbots bereits vor mehreren Jahren (2005) beschlossen. Allerdings stand lange Zeit eine restriktive Regelung der PID im Vordergrund der Diskussion. Die in mehreren Etappen erarbeiteten Gesetzesentwürfe sahen die Zulassung der PID nur innerhalb klarer Schranken vor. Zugang zur PID sollten nur Paare erhalten, die eine Veranlagung für eine schwere Erbkrankheit aufweisen, die an das Kind übertragen werden könnte. Paare also, die die Auswirkungen der betreffenden schweren Krankheit aus Erfahrung in der eigenen Familie kennen und die sich erst nach intensiver Auseinandersetzung und Beratung für die PID entscheiden (s. Botschaft zur Änderung … 2013). Bei der Behandlung und der Verabschiedung des Gesetzes ging das Parlament aber einen bedeutenden Schritt weiter. Die Eingrenzung auf schwere Erbkrankheiten wurde in zweifacher Hinsicht aufgegeben: Das Parlament will, dass alle unfruchtbaren Paare, die eine künstliche Befruchtung vornehmen, auch die PID anwenden dürfen. Es soll zulässig sein, die künstlich erzeugten Embryonen auch auf spontan auftretende chromosomale Veränderungen wie etwa Trisomie 21 auszutesten und aufgrund des Resultats zu verwerfen (sog. Chromosomen-Screening). Damit droht die PID von der Ausnahme zu einer Standardanwendung zu werden, denn ursprünglich war nur von 50 - 100 Paaren jährlich die Rede, die PID zur Erkennung schwerer Erbkrankheiten in Anspruch nehmen würden (s. Botschaft zur Änderung … 2013). Die Zahl der künstlichen Befruchtungsverfahren liegt jedoch deutlich höher. Bisher nehmen sie über 6000 Paare jährlich in Anspruch, sie alle dürften die PID anwenden. Noch ist das im Dezember 2014 verabschiedete Gesetz nicht wirksam, es wird erst nach einer Volksabstimmung 2015 in Kraft treten können. VHN 2 | 2015 165 CHRISTA SCHÖNBÄCHLER, STEFANIE DADIER Präimplantationsdiagnostik: Wo setzen wir die Grenzen? TRE ND Vermeintlicher Wertewandel in der Gesellschaft Der Richtungswechsel im Parlament wurde zeitgleich begleitet von einer Haltungsänderung in der nationalen Ethikkommission NEK (vgl. NEK-CNE 2005; 2007; 2013). In ihrer Stellungnahme 22/ 2013 gab sie ihre bisherige kritische Haltung gegenüber der PID auf und befürwortete deren Zulassung auch für den Nachweis von spontan auftretenden chromosomalen Veränderungen. Nicht nur das: Die NEK sprach sich mehrheitlich auch dafür aus, künftig die Eizellenspende und die Embryonenspende sowie grundsätzlich auch die Leihmutterschaft zuzulassen. Die NEK stellt eingangs des Berichts fest, dass sich „die Wahrnehmung der Gefahren im Zusammenhang mit der medizinisch unterstützten Fortpflanzung und ihren Anwendungen in der Bevölkerung verändert“ habe (NEK-CNE 2013, 7). Dabei verkennt die NEK, dass das Gefahrenpotenzial der neuen Technologien im Gegenteil in breiten Bevölkerungskreisen zu wenig bekannt und die grundsätzlichen ethischen Fragen, die sich damit stellen, erst noch zu diskutieren sind. Volksabstimmung 2015: Chance für eine gesellschaftliche Diskussion Am 14. Juni 2015 wird das Schweizer Volk darüber abstimmen, ob Art. 119 der Bundesverfassung so geändert wird, dass Embryonen künftig in größerer Zahl außerhalb des Mutterleibs hergestellt und aufbewahrt werden dürfen. Diese Verfassungsänderung ist Voraussetzung, damit das abgeänderte Fortpflanzungsmedizingesetz in Kraft treten kann. insieme und weitere Behindertenorganisationen sehen die Volksabstimmung als Chance für eine gesellschaftliche Debatte über vorgefasste Werturteile gegenüber behinderten Menschen. Sie wollen die Bedenken und Warnungen aus Sicht von Menschen mit einer Behinderung einbringen (insieme 2014 b): „ n Krankheiten und Behinderungen sind Teil des Lebens, sie bestimmen aber nicht dessen Wert. Bei der PID findet eine wertende Auswahl von Leben statt. Diese Bewertung hat zwangsläufig Auswirkungen auf die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Menschen, die Träger einer als unerwünscht bezeichneten genetischen Beeinträchtigung sind. n Die meisten Behinderungen entstehen während oder nach der Geburt und sind nicht genetisch bedingt. Die PID weckt die irreführende Vorstellung, Behinderungen und Krankheiten ließen sich durch Inanspruchnahme vorgeburtlicher Diagnostik vermeiden. n Mit einer Zulassung des Chromosomen- Screenings wird der Erwartungsdruck auf alle angehenden Eltern weiter zunehmen, alles technisch Machbare zu unternehmen, um ein Kind mit Behinderung zu vermeiden. Frei und selbstbestimmt zu entscheiden wird damit zunehmend schwieriger. n Es darf nicht dazu kommen, dass Eltern einem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt werden oder im Extremfall negative Konsequenzen tragen müssen, wenn sie sich gegen vorgeburtliche Diagnostik oder bewusst für ihr Kind mit Behinderung entscheiden.“ Während Jahrhunderten bildeten Menschen mit einer Trisomie einen Teil unserer Gesellschaft. Wenn die Entwicklung bei der PID uneingeschränkt weitergeht, ändert sich dies vielleicht. Wollen wir das? Beim Testen von Erbkrankheiten und Trisomien wird es nicht bleiben. Der Anspruch wird kommen, weitere „unerwünschte“ Veranlagungen und Eigenschaften zu selektionieren. Nur: welche werden das sein? An welchem Menschenbild orientieren wir uns dabei? VHN 2 | 2015 166 CHRISTA SCHÖNBÄCHLER, STEFANIE DADIER Präimplantationsdiagnostik: Wo setzen wir die Grenzen? TRE ND Zeit also, sich der Frage zu stellen: Strebt unsere Gesellschaft die Auswahl des „perfekten Menschen“ an, oder schaffen wir Rahmenbedingungen, die der Verletzlichkeit und Vergänglichkeit von uns Menschen gerecht werden und alle teilhaben lassen? Literatur Botschaft zur Änderung der Verfassungsbestimmung zur Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich (Art. 119 BV) sowie des Fortpflanzungsmedizingesetzes (Präimplantationsdiagnostik) (2013). Online unter: http: / / www.admin.ch/ opc/ de/ federal-gazette/ 2013/ 5853.pdf, 20. 12. 2014 Harper, J.; Coonen, E.; de Rycke, M.; Fiorentino, F.; Geraedts, J.; Goossens, V. u. a. (2010): What next for preimplantation genetic screenings (PGS)? A position statement from the ESHRE PGD Consortium steering committee. In: Human Reproduction 25, 821 -823. http: / / dx.doi.org/ 10.1093/ humrep/ dep476 Harper, J. C.; SenGupta, S. B. (2012): Preimplantation genetic diagnosis: State of the ART 2011. In: Human Genetics 131, 175 -186. http: / / dx.doi. org/ 10.1007/ s00439-011-1056-z insieme (2014 a): Brief an den Nationalrat, zusammen mit 16 Organisationen. Online unter: http: / / insieme.ch/ wp-content/ uploads/ 2010/ 04/ Aufruf-gegen-Ausweitung-der-PID1.pdf, 20. 12. 2014 insieme (2014 b): Präimplantationsdiagnostik (PID) - Wo setzen wir die Grenzen? Online unter: http: / / insieme.ch/ wp-content/ uploads/ 2010/ 04/ Flyer_PID_d.pdf, 20. 12. 2014 NEK-CNE/ Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (2005): Präimplantationsdiagnostik. Stellungnahme Nr. 10/ 2005. Online unter: http: / / www.nek-cne.ch/ fileadmin/ nek-cnedateien/ Themen/ Stellungnahmen/ pid_de.pdf, 20. 12. 2014 NEK-CNE/ Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (2007): Präimplantationsdiagnostik II. Spezielle Fragen zur gesetzlichen Regelung und zur HLA-Typisierung. Stellungnahme Nr. 14/ 2007. Online unter: http: / / www.nek-cne.ch/ fileadmin/ nek-cne-dateien/ Themen/ Stellungnahmen/ PID_II_d.pdf, 20. 12. 2014 NEK-CNE/ Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (2013): Die medizinisch unterstützte Fortpflanzung. Ethische Überlegungen und Vorschläge für die Zukunft. Stellungnahme Nr. 22/ 2013. Online unter: http: / / www.nekcne.ch/ fileadmin/ nek-cne-dateien/ Themen/ Stellungnahmen/ NEK_Fortpflanzungsmedizin _De.pdf, 20. 12. 2014 Anschrift der Autorinnen Christa Schönbächler Co-Geschäftsführerin insieme Schweiz Stefanie Dadier Wissenschaftliche Mitarbeiterin insieme Schweiz insieme Schweiz Elternvereinigung für Menschen mit einer geistigen Behinderung Aarbergergasse 33 Postfach 6819 CH-3001 Bern Tel.: +49 (0) 31 3 00 50 20 www.insieme.ch sekretariat@insieme.ch