eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 84/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2015.art18d
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Die ausführliche Rezension: Wocken, Hans (2014): Bayern integriert Inklusion. Über die schwierige Koexistenz widersprüchlicher Systeme

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Winfried Kronig
Es ist ein Buch wie ein Paukenschlag. Mit unverhohlener Absicht sollen hier die süßen Klänge einer oberflächlichen Inklusionsrhetorik gestört, die simplen Realitäten den euphorischen Versprechungen entgegengehalten werden. Ein spürbar zorniger Hans Wocken schreibt gegen eine Bildungspolitik an, welche die Inklusion genüsslich inszeniert, ohne sich deren Grundideen auch nur ansatzweise anzunähern. Es mag vielleicht die gefühlte Ohnmacht eines Wissenschaftlers sein, der seine jahrzehntealten und weitbekannten Warnungen nunmehr an jeder Ecke bestätigt sieht, die diesem gerechten Zorn durch immer neue und doch immer gleiche Beobachtungen Nahrung gibt.
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VHN 2 | 2015 175 REZE NSION E N Die ausführliche Rezension Wocken, Hans (2014): Bayern integriert Inklusion. Über die schwierige Koexistenz widersprüchlicher Systeme Hamburg: Feldhaus Verlag. 136 S., € 19,95 Es ist ein Buch wie ein Paukenschlag. Mit unverhohlener Absicht sollen hier die süßen Klänge einer oberflächlichen Inklusionsrhetorik gestört, die simplen Realitäten den euphorischen Versprechungen entgegengehalten werden. Ein spürbar zorniger Hans Wocken schreibt gegen eine Bildungspolitik an, welche die Inklusion genüsslich inszeniert, ohne sich deren Grundideen auch nur ansatzweise anzunähern. Es mag vielleicht die gefühlte Ohnmacht eines Wissenschaftlers sein, der seine jahrzehntealten und weitbekannten Warnungen nunmehr an jeder Ecke bestätigt sieht, die diesem gerechten Zorn durch immer neue und doch immer gleiche Beobachtungen Nahrung gibt. Aber der Reihe nach. Nach einer fast schon belletristisch anmutenden Einführung bereitet Wocken dramaturgisch geschickt den ausführlichen Kommentar zum Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetz vor. Das Gesetz beteuert die unangezweifelte Priorität der Inklusion, nur um dieses Bekenntnis in späteren Artikeln laufend zu hintergehen. Es bleibt bei einem viergliedrigen Schulsystem, dem die Inklusion nun als „ornamentale Verzierung“ (S. 19) angehängt ist. Es ist eben nicht ein Inklusionsgesetz, wie es die im März 2009 von Bundestag und Bundesrat ratifizierte Behindertenrechtskonvention verlangen würde, sondern ein „Struktursicherungsgesetz“, das die Rolle der Inklusion zum „Feigenblatt“ (S. 21) des herkömmlich gegliederten Schulwesens degradiert. Fünf Gesamtschulen von insgesamt etwa 4000 in Bayern (S. 27) müssen da schon ausreichen, um die frevlerische Eleganz dieser Art der Okkupation der Integrationsidee nachweisen zu können. Wocken belässt es jedoch nicht bei der Wanderung durch juristische Unwägbarkeiten, sondern stellt im Anschluss die pädagogisch entscheidende Frage, ob die Inklusion das bestehende Schulsystem verändert oder ob das bestehende Schulsystem die Inklusion verändert. Die Frage ist wohl weit weniger eine Provokation, wie es mancher gerne interpretieren würde, als der Versuch, Verhältnisse klarzustellen. Mit seinen gewohnt wortgewaltigen Antworten hält sich Wocken nicht zurück. Er entschleiert liebgewonnene Leitsätze wie den, dass von nun an so viel Integration wie möglich und so wenig Separation wie nötig gelten solle. Eine solche Devise zeugt allein schon deshalb von frappierender ahistorischer Sorglosigkeit, weil sie möglicherweise ungewollt unterstellt, dass es früher mehr Separation als nötig gegeben hätte. Etwas später lässt Wocken die Inklusionskritiker auftreten, die allesamt die Götterdämmerung des von ihnen als leistungsfähig deklarierten gegliederten Schulsystems heraufbeschwören. Es ist ein, vielleicht sogar intendierter, Irrtum, der gänzlich an allen bildungsstatistischen Wirklichkeiten vorbeizielt. Die Analysen sind einfach. Der Autor definiert - nachvollziehbar - die Inklusion nicht nur über den Zuwachs integrierter Schüler, sondern auch über den Rückgang separierter Schüler. Der findet zwar tatsächlich statt. Aber in weit geringerem Ausmaß, als man dies angesichts des allgemeinen Rückgangs der Schülerzahlen erwarten dürfte. Für alle, die Muth, Schröder oder Opp kennen, kann Wocken wenig überraschend, aber dennoch eindrücklich nachweisen, dass sich der durchaus messbare Zuwachs der Inklusionsschüler nicht aus Sonderschülern, dafür aber aus Regelschülern rekrutiert. Das ernüchternde Fazit: Inklusion findet bislang weitgehend ohne behinderte Kinder und Jugendliche statt. Dass Sonderschulen wegen Inklusion geschlossen werden, „ist ein Märchen“ (S. 89). Wie Wocken akribisch nachweist, haben im Fall von Bayern die Sonderschulen sogar etwa 5000 Schüler mehr, als man es aufgrund der demografischen Entwicklung erwarten müsste. Es gibt dort sechs Jahre nach der Inklusion nun relativ mehr Sonderschüler als zuvor. Bayern federt also die Inklusionsidee gekonnt ab, indem neue Behinderte erfunden werden. Am Schluss der Analyse erlaubt Wocken der Leserschaft die bange Frage, wo „Bayern“ im deutschsprachigen Europa wohl überall stattfinden mag. Und man könnte die Fra- VHN 2 | 2015 176 REZE NSION E N ge hinzufügen, ob die pädagogische Taktik im Umgang mit Migranten in den letzten vier Jahrzehnten nicht erschreckend ähnlich gewesen ist und immer noch ist. Die Abschiebung der inhärenten Schuld an dieser inklusionspädagogischen Ungehörigkeit auf eine mehr oder minder anonyme Bildungspolitik lässt Wocken nicht zu. Mit dem schon früher bekannt gemachten „Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma“ nimmt er die diagnostische Praxis, aber auch die diagnostische Theorie mit in die Verantwortung. Der Profit einer Schule durch die Anwendung der oben beschriebenen Strategie ist ein doppelter: Die Diagnose einer Behinderung sichert neue Ressourcen, und man kann sich selbst als eine inklusiv denkende Schule auszeichnen. Das ist ein unwiderstehlicher Anreiz, der nicht nur aus der Aussicht auf zusätzliche Förderstunden besteht. Er beinhaltet auch die intuitive Erkenntnis, dass Inklusion etwas sozial Erwünschtes darstellt. Auch wenn diese pragmatisch motiviert ist, bedeutet das doch einen - zugegebenermaßen bescheidenen - Fortschritt gegenüber früher. Natürlich muss das für Wocken, der bisher schon viel Geduld bewiesen hat, zu wenig sein. Aber man sollte nicht unterschätzen, dass soziale Erwünschtheit bisweilen nicht nur ein technischer Messfehler ist. Sie ist, historisch betrachtet, immer auch der Beginn eines neuen Denkens. Selbst dann, wenn das pädagogisch unschwer zu rechtfertigende Ziel der Inklusion von dessen bildungssoziologischer Naivität überschattet würde. Dem Quellennachweis ist zu entnehmen, dass es sich bei dem Buch um eine Sammlung von Zeitschriftenartikeln handelt, die durch drei Originalbeiträge ergänzt worden sind. Eine zusätzliche redaktionelle Anstrengung hätte die Redundanzen der Aussagen für den Leser allerdings erträglicher gemacht. Aber selbst für jene, die Wocken kennen, ist der Preis der Bemühung im Verhältnis zum Erkenntnisgewinn durchaus bezahlbar. Und so bleibt am Schluss zu fragen, ob es legitim ist, sich als Wissenschaftler derart in einer sozialen und politischen Frage zu engagieren. Der Aufschrei der Popperianer dürfte spätestens bei der offen eingestandenen Parteinahme Wockens (z. B. S. 59) unüberhörbar werden. Aber Karl Raimund Popper selbst hat den Unterschied zwischen wissenschaftlicher Analyse und gesellschaftlicher Einmischung gelebt. Selbst unter orthodoxen Gesichtspunkten ist die Mischung zwischen beidem in diesem Buch überaus erträglich. Aufgrund seiner biografischen Erfahrungen darf man sogar vermuten, dass Popper das Werk mit Begeisterung gelesen hätte. Und so fällt es nicht schwer, das Buch all jenen sehr zur Lektüre zu empfehlen, die wie ich geglaubt haben, bereits einiges über Integration, Inklusion, oder wie man sie morgen auch nennen mag, zu wissen. Prof. Dr. Winfried Kronig CH-1700 Freiburg DOI 10.2378/ vhn2015.art18d