eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 84/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2015.art24d
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2015
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Kritik der Dekategorisierung

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2015
Markus Dederich
In diesem Beitrag wird die Bedeutung der Sprache für die Erkenntnis herausgearbeitet und in Hinblick auf die vor allem in der Inklusionsdebatte virulente Forderung nach Dekategorisierung diskutiert. Vor dem Hintergrund sprachphilosophischer und erkenntnistheoretischer Überlegungen wird die These entwickelt, dass pädagogische Konzeptionen, die der Komplexität der im Kontext von Behinderung erfahrbaren Phänomene und Problemlagen gerecht werden wollen, eine begrifflich-kategoriale Fundierung benötigen. Hieraus wird jedoch nicht abgeleitet, die bisherigen Kategorien seien schlicht beizubehalten. Vielmehr wird mit Adorno dafür plädiert, durch die Kategorie über die Kategorie hinauszugehen. Damit ist gemeint, dass Kategorien eine nicht einholbare Unbestimmtheit und Offenheit aufweisen, die sich daraus ergibt, dass Bezeichnung und Bezeichnetes niemals völlig zur Deckung kommen können. Daher gilt es, so lautet das Fazit, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass die Kategorie über sich in einen Bereich nicht einholbarer Differenz hinausweist.
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192 VHN, 84. Jg., S. 192 -205 (2015) DOI 10.2378/ vhn2015.art24d © Ernst Reinhardt Verlag Kritik der Dekategorisierung Ein philosophischer Versuch Markus Dederich Universität zu Köln Zusammenfassung: In diesem Beitrag wird die Bedeutung der Sprache für die Erkenntnis herausgearbeitet und in Hinblick auf die vor allem in der Inklusionsdebatte virulente Forderung nach Dekategorisierung diskutiert. Vor dem Hintergrund sprachphilosophischer und erkenntnistheoretischer Überlegungen wird die These entwickelt, dass pädagogische Konzeptionen, die der Komplexität der im Kontext von Behinderung erfahrbaren Phänomene und Problemlagen gerecht werden wollen, eine begrifflich-kategoriale Fundierung benötigen. Hieraus wird jedoch nicht abgeleitet, die bisherigen Kategorien seien schlicht beizubehalten. Vielmehr wird mit Adorno dafür plädiert, durch die Kategorie über die Kategorie hinauszugehen. Damit ist gemeint, dass Kategorien eine nicht einholbare Unbestimmtheit und Offenheit aufweisen, die sich daraus ergibt, dass Bezeichnung und Bezeichnetes niemals völlig zur Deckung kommen können. Daher gilt es, so lautet das Fazit, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass die Kategorie über sich in einen Bereich nicht einholbarer Differenz hinausweist. Schlüsselbegriffe: Dekategorisierung, Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie, Behinderung Critique of Decategorisation - A Philosophical Attempt Summary: This paper attempts to clarify the function of language for epistemology and critically reflects the demand of some theorists of inclusion to avoid the use of certain categories (= decategorisation). Referring to the philosophy of language and epistemology, the paper asserts that, in order to respond properly to the complexities of the phenomena and problems associated with disability, educational conceptions need a specific terminology and categories. However, it can’t be deduced that the categories used in the past must be preserved. Referring to Adorno, it is proposed to transcend categories without abandoning them. This means that categories are characterized by indetermination and non-closure; there always remains an ungraspable difference between the sign and the signified. Thus, the conclusion to be drawn is that categories have to be applied with awareness for this difference. Keywords: Decategorisation, philosophy of language, epistemology, disability FACH B E ITR AG TH EME NSTR ANG Dekategorisierung 1 Kurze Hinführung Mit diesem Beitrag wird eine Fragestellung in die Debatte über die Dekategorisierung eingebracht, die seit ihren Anfängen in den 1990er Jahren fast unbeachtet geblieben ist, nämlich die Bedeutung der Sprache für die Erkenntnis. Dies ist umso erstaunlicher, als dieser Fragestellung eine zentrale Bedeutung zukommt. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass das Problem der Verwendung von Kategorien wie dem Behinderungsbegriff in dieser Debatte fast ausschließlich unter (sozial-)ethischen Gesichtspunkten diskutiert wird, etwa in Hinblick auf diskriminierende Effekte und die Zementierung von Gruppendifferenzen. Diese Engführung verstellt den Blick auf sprachphilosophische und erkenntnistheoretische As- VHN 3 | 2015 193 MARKUS DEDERICH Kritik der Dekategorisierung FACH B E ITR AG pekte, die der Begriffsverwendung zugrunde liegen. Insbesondere ist die Funktion begrifflicher Erkenntnis für die Reflexion und Planung pädagogischen Handelns noch nicht hinreichend untersucht worden. Nachfolgend wird es nicht darum gehen, die Bedeutung der Kategorie ‚Behinderung‘ für die Konstitution der Heilpädagogik insgesamt sowie die Problematik deren kategorialer Ausdifferenzierung in verschiedene Subdisziplinen (die sonderpädagogischen Fachrichtungen) zu reflektieren. Vielmehr soll auf einer fundamentalen Reflexionsebene die sozialkommunikative, epistemische und handlungspraktische Bedeutung von Kategorien für die Pädagogik herausgearbeitet und in Hinblick auf die Forderung nach Dekategorisierung reflektiert werden. 2 Sprachphilosophische Anmerkungen Wie in anderen philosophischen Teildisziplinen auch gibt es in der Sprachphilosophie unterschiedliche Auffassungen darüber, was genau deren zentrale Fragestellungen, Themen und Probleme sind. Unzweifelhaft aber ist die - ein wenig triviale - Feststellung, dass die Sprache der Gegenstand der Sprachphilosophie ist. Trotz aller Differenzen besteht in verschiedenen sprachphilosophischen Theorien weitgehend Einigkeit darüber, dass Sprache im Kern zwei Funktionen hat: eine Kommunikations- und eine Signifikationsfunktion. Diese werden in verschiedenen Theorien, die den Gebrauch von Sprache als Sprachhandlung verstehen, verknüpft. Demnach ist eine Sprachhandlung eine „Handlung mit einer auf Verständigung zielenden Kommunikationsfunktion, die darüber hinaus noch eine sich auf Gegenstände richtende Signifikationsfunktion aufweist“ (Mittelstraß 2004, 59). Soziologisch gesehen ermöglichen Sprachhandlungen nicht nur inhaltliche Mitteilungen, in denen etwas über etwas als etwas ausgedrückt wird, sondern auch intersubjektive Situationsdefinitionen, die Abklärung von gegenseitigen Erwartungen und die Koordination von Handlungen. Allerdings stehen nicht die sozialen Dimensionen der Sprache im Zentrum der Sprachphilosophie. Ihr geht es vornehmlich um das Problem der Bedeutung sprachlicher Symbole, das Verhältnis von Sprache und Denken bzw. Bewusstsein überhaupt sowie das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit. Diese Kernthemen weisen enge Verbindungen zur Linguistik, Semiotik (d. h. zur Theorie symbolischer Zeichen), Erkenntnistheorie und, sofern es um die logische Struktur von Sprache und Sprachhandeln geht, zur Logik auf. Bei der Bearbeitung der genannten Kernthemen geht es u. a. um folgende Fragen: Bringt die Sprache sprachunabhängige Gedanken oder Inhalte des Bewusstseins lediglich zum Ausdruck oder setzt Denken Sprache voraus? Erfasst die Sprache eine außersprachliche Realität, die uns unabhängig oder jenseits der Sprache gegeben ist? Bildet Sprache ‚Realität‘ ab oder wird, wie modernere Theorien annehmen, die ‚Welt‘ durch Sprache konstituiert oder gar konstruiert? Können wir überhaupt etwas über eine außerhalb der Sprache liegende Realität wissen und sagen? Auf die Forderung nach Dekategorisierung übertragen lautet demnach eine Kernfrage: Wie lässt sich das Verhältnis der Bezeichnung ‚Behinderung‘ zu einem so bezeichneten Phänomen(komplex) verstehen? Gibt es in der außersprachlichen Wirklichkeit etwas, das der Bezeichnung ‚Behinderung‘ entspricht? Von diesen Fragen aus gesehen erweist sich das mit der Signifikationsfunktion der Sprache gegebene Problem der Referenz und mit ihm die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit sprachlicher Aussagen als eines der Kernprobleme der Sprachphilosophie. Bei der Bearbeitung dieser Fragen hat sich die Philosophie Schnädelbach (2012) zufolge jedoch lange auf die Wortsprache konzentriert. Dieser Fokus ist seiner Überzeugung nach jedoch zu eng. Nicht die Wortsprache allein ist VHN 3 | 2015 194 MARKUS DEDERICH Kritik der Dekategorisierung FACH B E ITR AG als Medium des Denkens und der Kommunikation von Bedeutung, sondern weiter gefasst die Symbolisation. Um nur ein Beispiel zu nennen: auch Kunstwerke, etwa Gemälde, Musikstücke oder Tanzperformances transportieren oder vermitteln symbolisch Bedeutung, ohne dabei jedoch auf die Wortsprache zurückzugreifen. Von diesem erweiterten Fokus aus kann die Sprachphilosophie zeigen, „dass der menschliche Weltumgang unhintergehbar an die Produktion und Verwendung nichtnatürlicher Zeichen gebunden ist“ (Schnädelbach 2012, 82). In diesem Sinn versteht Cassirer (1996) den Menschen als ‚animal symbolicum‘. Das bedeutet im Kern, dass der Mensch nicht mit einem bestimmten Verhalten unmittelbar auf Reize reagiert, sondern symbolisch vermittelt antwortet. Wie die Phänomenologie zeigt, findet eine solche Symbolisation bereits auf leiblich-expressiver Ebene statt. Um ein ganz schlichtes Beispiel zu nennen: Das Weinen eines Säuglings ist kein sinnloses ‚Lautieren‘, sondern kann Ausdruck von Hunger sein. Innerhalb einer sozialen Gemeinschaft erfüllt bereits dieses Weinen die Signifikations- und Kommunikationsfunktion. Grundsätzlich dürfte in der Philosophie insgesamt unumstritten sein (und auf diese Feststellung kommt es hier in erster Linie an), dass weder Abstraktionsprozesse noch die Kommunikation von Erkenntnis oder Wissen ohne Symbolisation möglich sind. In aller Schärfe zeigt sich die Bedeutung der Symbolisation in den Wissenschaften. Diese sind ohne sprachliche und andere Symbolisationsarten - in Form von Hypothesen, Beschreibungen, Erläuterungen, Theorien, aber auch mathematischen oder chemischen Formeln, grafisch dargestellten Strukturmodellen usw. - nicht denkbar. Darüber hinaus hat die Sprache in den Wissenschaften selbstverständlich auch eine Mitteilungsfunktion - ohne sprachliche Kommunikation kann es keine Wissenschaft geben. Daher gilt, „dass die wissenschaftliche Wirklichkeit immer auch eine sprachlich gefasste Wirklichkeit ist“ (Poser 2001, 29). Wissenschaft bildet Wirklichkeit nicht ab, sondern bearbeitet spezifische Frage- oder Problemstellungen unter bestimmten Gesichtspunkten und nach mehr oder weniger feststehenden Regeln. Insofern ist wissenschaftliche Erkenntnis immer selektiv und exklusiv (vgl. Waldenfels 1987). Sie ist ein Akt der methodisch angeleiteten und symbolischen Transformation von Erfahrung. Sie wird in Aussagen und Aussagensystemen festgehalten, die nicht nur unweigerlich Komplexität reduzieren, sondern auch bestimmten Regeln der Symbolisation folgen, etwa begrifflichen Konventionen, grammatikalischen Regeln oder Kriterien der argumentativen Stringenz. Darüber hinaus hat Foucault (1991) gezeigt, dass der Prozess der Wissensgenerierung historisch variablen und den Gegenstand modellierenden Ordnungen des Diskurses folgt. In unserem Zusammenhang ist dies insofern bedeutsam, als es auf die Machtförmigkeit und zumindest latente Gewaltsamkeit von Symbolisationsprozessen verweist. Mit diesem Hinweis kehren wir nun zu dem bereits mehrfach angesprochenen Kernthema der Sprachphilosophie, der Referenzialität, zurück. Heute dürfte als Konsens gelten, dass Sprache nicht einfach eine symbolische Bezeichnung für ‚Dinge‘ oder Sachverhalte ist und diese gleichsam abbildet. Sprache kann nicht die Welt als außersprachliche Realität erschließen. Hier taucht nämlich das Problem auf, dass wir nicht aus der Sprache heraustreten können, um nachzusehen, ob eine Tatsachenbehauptung oder ein Erfahrungssatz mit der Wirklichkeit übereinstimmt oder nicht. Hierauf hatte schon Wittgenstein hingewiesen. In seinen berühmten „Philosophischen Untersuchungen“ zeigt er, dass die Bedeutung von Wörtern nicht durch ihre Referenz gegeben ist, also dadurch, dass sie ein ‚Ding‘ bezeichnen, sondern einzig durch die Weise ihres Gebrauchs. Die Bedeutung von Wörtern ergibt sich aus dem innersprachlichen und sprach- VHN 3 | 2015 195 MARKUS DEDERICH Kritik der Dekategorisierung FACH B E ITR AG pragmatischen Kontext ihrer Verwendung (vgl. Wittgenstein 1971, 41). Insofern ist das sprachliche Denken auch nicht auf außersprachliche Bedeutungen bezogen, vielmehr ist „die Sprache selbst […] das Vehikel des Denkens“ (Wittgenstein 1971, 168). Hieraus folgt, dass wir tatsächlich über die ‚Welt‘ außerhalb der Sprache nichts sagen können. Daraus folgt aber auch, dass wir ohne die Sprache nichts über die Welt, auf die wir uns ständig handelnd beziehen, sagen können. Vor diesem Hintergrund kann festgehalten werden, dass die Welt in der Sprache symbolisch erschlossen wird. Hierdurch wird Schnädelbach zufolge „Sinnliches zum Träger eines verstehbaren Sinnes“ (Schnädelbach 2012, 86). Das aber impliziert, dass es „Wahrheit und Objektivität […] nur innerhalb der symbolisch erschlossenen Welt und nicht jenseits ihrer Grenzen“ (ebd.) gibt. 3 Erkenntnistheoretisches Zwischenspiel: Das Verhältnis von Anschauung und Begriff Im vorangehenden Abschnitt wurde deutlich, dass das Problem der Referenzialität von Sprache eine erkenntnistheoretische Dimension hat. Um diese Dimension zu verdeutlichen, soll in diesem Abschnitt eine grundlegende Überlegung von Immanuel Kant zur Erkenntniskritik rekapituliert werden. Im weiteren Verlauf wird eine phänomenologische Blickrichtung eingenommen, die Erkenntnis nicht intellektuell einengt, sondern als spezifische Ausformung der leiblich-sinnlich grundierten Erfahrung begreift. Jedoch ist der Rekurs auf Kant für die Dekategorisierungsproblematik von größter Bedeutung, weil er die formalen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt aufzeigt. Mit seiner philosophischen Theorie nimmt Kant zwischen Empirismus und Rationalismus eine vermittelnde Position ein, durch die er deren jeweilige Schwächen überwinden möchte. In seinem epochalen Werk „Kritik der reinen Vernunft“ unterteilt Kant das menschliche Erkenntnisvermögen in ein ‚unteres‘ (die Sinnlichkeit) und ein ‚oberes‘ (den Verstand). Durch die Sinnlichkeit, so Kant, wird das „Gemüt“ „affiziert“, sodass der Gegenstand unmittelbar gegeben ist. Diese unmittelbare Gegebenheit, die aus der rezeptiven Sinnlichkeit folgt, nennt Kant „Anschauung“. ‚Gegeben‘ bedeutet hier aber noch nicht, dass etwas als etwas erkannt wird, sondern dass der sinnlich wahrgenommene Gegenstand Empfindungen auslöst. Ohne solche mit Empfindungen gekoppelten Anschauungen können wir nichts erkennen. Somit ist die Anschauung die erste Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis, ohne bereits Erkenntnis zu sein. Von Erkenntnis kann erst dann gesprochen werden, wenn die Anschauungen ‚verarbeitet‘ werden. Dies geschieht, wenn sie mit Verstandesbegriffen „‚gedacht‘: nach Regeln zusammengefasst und geordnet werden“ (Höffe 2004, 72). Das obere Erkenntnisvermögen, der Verstand im engeren Sinn, umfasst die ‚Begriffe‘, die ‚Urteile‘ und die ‚Schlüsse‘. Kant bezeichnet nun Anschauung und Begriff als „zwei Grundquellen“ des menschlichen Erkenntnisvermögens. Sie machen „die Elemente aller unsrer Erkenntnis aus, so dass weder Begriffe, ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe, ein Erkenntnis abgeben können“ (Kant 1974, 97). Es folgt ein längeres Zitat, in dem Kant den von ihm vermuteten Zusammenhang plausibel zu machen sucht: „Keine dieser Eigenschaften ist der andern vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als, seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen). Beide Vermögen, VHN 3 | 2015 196 MARKUS DEDERICH Kritik der Dekategorisierung FACH B E ITR AG oder Fähigkeiten, können auch ihre Funktionen nicht vertauschen. Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Sinne nichts zu denken. Nur daraus, dass sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen. Deswegen darf man aber doch nicht ihren Anteil vermischen, sondern man hat große Ursache, jedes von dem andern sorgfältig abzusondern, und zu unterscheiden.“ (ebd., 97f) Wie Kant gezeigt hat, ist das Zusammenspiel von Anschauung und Begriff Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis. Seine kritische Philosophie ist außerordentlich einflussreich gewesen, hat aber auch Kritik auf sich gezogen. Dieser philosophische Diskurs kann hier nicht weiter verfolgt werden. Wichtig jedoch ist, dass Kant mit seinem Nachdenken über das Verhältnis von Bewusstsein und Gegenstand einem problematischen, weil allzu vereinfachenden Subjekt-Objekt-Denken Vorschub geleistet hat. Die Kritik betrifft beide Seiten der Unterscheidung. Auf eine Problematisierung des Subjektbegriffs muss hier verzichtet werden, jedoch ist ein kurzer Hinweis auf den Objektbegriff nötig. Wie Schnädelbach (2012) zeigt, ist unser Erkennen, das wir als Wissen bezeichnen können, keineswegs einfach auf Gegenstände oder Objekte gerichtet, sondern auf sie betreffende Sachverhalte oder Eigenschaften. Solche Sachverhalte oder Eigenschaften können z. B. spezifische Differenzen sein, etwa der Unterschied zwischen einem Baum und einem Strauch, oder spezifische Eigenschaften des jeweiligen Gegenstandes (etwa ‚die Blätter sind gezackt‘, ‚der Stamm ist gerade gewachsen und glatt‘). Solche Unterscheidungen sind grundsätzlich sprachlich oder symbolisch codiert. Hieraus folgt, „dass unser Wissen immer propositional verfasst ist, also in der Form ganzer Sätze präsentiert werden muss, wenn es mehr sein soll als eine Menge propositionaler Intuitionen“ (Schnädelbach 2012, 105). Erst wenn etwas als etwas gegeben ist und symbolisch ausgedrückt werden kann, kann von Erkenntnis oder Wissen die Rede sein. Diese propositionale Verfasstheit gilt auch für die Anschauung, was aber in der Geschichte der Philosophie häufig übersehen worden ist. Hieraus folgt für Schnädelbach, dass das Sehen, wird es als Erkenntnisvorgang verstanden und nicht einfach als physiologischer Vorgang, eine grammatikalische und propositionale Struktur hat - „hier sieht man immer, dass da etwas mit der und der Beschaffenheit existiert“ (Schnädelbach 2012, 105). Und daraus folgt, dass Erkenntnis nicht auf die Beziehung von Subjekt und Objekt bezogen ist (eine Beziehung, die sich bei genauer phänomenologischer Betrachtung ohnehin als Fiktion erweist), sondern das Verhältnis von Satz und Tatsache. Daher gilt für Schnädelbach, dass Erkenntnis, die als Wissen von etwas als etwas bestimmbar ist, unhintergehbar an die „Wortsprache“ (S. 108) gebunden ist, „denn nur sie sichert die Verständlichkeit und Überprüfbarkeit von Erkenntnisansprüchen“ (ebd.). 4 Erfahrung und Aufmerksamkeit Etwas zu erkennen bedeutet nicht, dass die Realität im erkennenden Subjekt abgebildet wird. Vielmehr ist Erkenntnis eine „(Re-)Präsentation von Wirklichkeit durch das Erkenntnissubjekt. Erkenntnis kopiert nicht und besteht nicht in Abbildern, sondern sie konstituiert Welten. Dies bedeutet nicht, Erkenntnis ‚schaffe‘ die ‚Außenwelt‘, sondern sie verleiht den in ihrem ‚An-sich-Sein‘ nicht erkennbaren Entitäten ‚für uns‘ Bedeutung in Zeichen und Symbolen, v. a. in der Sprache. In der Erkenntnis wird etwas als etwas repräsentiert.“ (Sandkühler 2010, 580) Aus phänomenologischer Sicht wäre allerdings zu ergänzen, dass die Konstitution von Welt im Erkennen nicht einseitig zu verstehen ist, wie das manche Spielarten des Konstruktivismus nahelegen. Vielmehr ist die Welt selbst am Erkennen beteiligt (vgl. Merleau-Ponty 1966). VHN 3 | 2015 197 MARKUS DEDERICH Kritik der Dekategorisierung FACH B E ITR AG Erkenntnis im engeren Sinn bedeutet, Erfahrungen mithilfe sozialer Symbolisationspraxen zu repräsentieren. Nun zeigen phänomenologische Untersuchungen, dass die Erfahrung von etwas als etwas nicht nur auf dem Zusammenspiel von Anschauung und Begriff beruht, sondern auch Aufmerksamkeit voraussetzt. Von einer Phänomenologie der Aufmerksamkeit her untersucht, erweist sich, dass das Zusammenspiel von Anschauung und Begriff nicht eine Synthese strikt getrennter Entitäten ist, sondern als ein im Prozess der Erfahrung erfolgender Differenzierungsprozess zu verstehen ist. Der Prozess, etwas zu erfahren, diese Erfahrung symbolisch zu (re)präsentieren und zu einer Erkenntnis zu gelangen, beginnt mit einem Aufmerksamwerden. Aufmerksam zu werden bedeutet, sich sinnlich oder gedanklich etwas zuzuwenden und auf etwas auszurichten. Es hängt wesentlich von unserer Aufmerksamkeit ab, was wir wahrnehmen, was uns als bedeutungsvoll erscheint und wie wir unser Handeln ausrichten. Nun umfasst Aufmerksamkeit zwei Aspekte: einerseits einen Gegenstand, eine Person oder ein Ereignis, die in einem spezifischen Kontext auffällig sind, andererseits jemanden, dem dieser Gegenstand, diese Person oder dieses Ereignis auffällt. Aufmerksam zu werden heißt daher immer auch, dass etwas die Aufmerksamkeit auf sich zieht und jemanden aufmerken lässt. Dieser Beschreibung der Aufmerksamkeit zufolge gibt es einerseits nichts Auffälliges ohne jemanden, dem es auffällt; andererseits ist der Akt des Aufmerkens und der Ausrichtung der Aufmerksamkeit eine Antwort auf etwas, was auffällt. Antworten bedeutet, dass ein vorgängiges, von mir selbst nicht intendiertes, geplantes und vielleicht nicht einmal erwartetes Ereignis mich ‚anspricht‘ und mir etwas abverlangt. Das wiederum zeigt, dass die Aufmerksamkeit zugleich Momente eines passiven Widerfahrnisses und aktiver Ausrichtung und Fokussierung umfasst. Insofern findet die Aufmerksamkeit und das, was durch sie in die Erfahrung tritt, „weder in objektiven Daten noch in subjektiven Akten einen zureichenden Grund“ (Waldenfels 2004, 137). Ist das Erkennen mit dem Aufmerken verwickelt, so haftet auch jeglicher Erkenntnis eine Spur des Unkenntlichen an. Hinzu kommt, dass Aufmerksamkeitsprozesse (wie Erkenntnisprozesse überhaupt) durch vorgängige Erfahrungen, Interessen, kulturelle Faktoren, Wissen und Erwartungen, Gewohnheitsmuster, Ängste, aber auch durch soziale Beziehungen, Medien oder die Technik beeinflusst werden. Diese im Sinne Foucaults stets machtvollen Einwirkungen können zwar bewusst gemacht und reflektiert, nicht aber rückgängig gemacht oder ausgeschaltet werden, weil sie ihre Wirkung bereits entfalten, „noch bevor wir uns zustimmend oder ablehnend auf ihre Effekte beziehen“ (ebd., 240) können. Aufgrund dieser passiven und responsiven Momente kann Aufmerksamkeit und in der Folge Erkenntnis nicht allein von einem aktiv verstandenen Subjekt her gedacht werden. Im Antworten auf etwas macht sich ein nicht wegwünschbarer Realitätskern bemerkbar, etwas, was meiner Erfahrung vorausliegt und auf das sie bezogen ist - so unbestimmt dieses Reale zunächst sein mag und so sehr er durch den Akt der Symbolisierung und Bedeutungszuweisung zu etwas Bestimmtem gemacht wird. 5 Die Semantik des Unbestimmten Ohne sich aus Aufmerksamkeitsprozessen herausbildende Erfahrung und ohne eine soziale Praxis der Symbolisierung von Erfahrung kann es keine Erkenntnis geben und damit auch keine systematische und intersubjektiv überprüfbare Handlungsorientierung. Hierbei spielt, wie in Anlehnung an Kant rekapituliert wurde, das Zusammenspiel von Anschauung und Begriff eine zentrale Rolle. Dort, wo ein- VHN 3 | 2015 198 MARKUS DEDERICH Kritik der Dekategorisierung FACH B E ITR AG zelne Erkenntnisse mehr oder weniger systematisch geordnet und in einen Zusammenhang gebracht werden, werden Kategorien bedeutsam. Seit Aristoteles sind Kategorien Ordnungsgesichtspunkte des Sprechens und Denkens. Nun weist Lindmeier (2005) darauf hin, dass der Begriff ‚Kategorie‘ in der Sonderpädagogik anders verwendet wird als in der Philosophie. In der Sonderpädagogik wird er zum einen im Sinne von ‚Klassifikation‘ verwendet, zum anderen im Sinn von ‚Grundbegriff ‘. Gleichwohl beruhen diese beiden Verwendungsweisen, wie ich zeigen werde, auf dem, was ‚Kategorie‘ in der Philosophie bedeutet. In der Philosophie haben Kategorien die Funktion, bestimmte Prädikatstypen vereinheitlichend zusammenzufassen und Hinsichten zu bilden, die „Gegenstände in bestimmter räumlicher, zeitlicher, quantitativer oder qualitativer Beleuchtung erscheinen lassen“ (Gamm 1997, 38). In diesem Sinn bezeichnen Kategorien Klassen von Objekten, die gemeinsamen Bedingungen genügen bzw. eine signifikante Menge gemeinsamer Merkmale aufweisen. Offensichtlich leistet genau dies die Kategorie ‚Behinderung‘. In der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften kam den Kategorien eine wichtige Aufgabe zu. Sie sollten garantieren, dass begriffliches Denken und die intelligible Welt insofern zur Deckung kommen, als die Kategorien die in der Welt wirkenden Prinzipien, ihren Logos oder ihr ‚Wesen‘ erfassen sollten. Zu den wichtigsten Kategorien gehören Quantität und Qualität, Ort und Zeit, Tun und Leiden (im Sinn von aktiv und passiv) und einige mehr. Bei Kant hingegen sind Kategorien apriorische Denkformen und als solche Grundvoraussetzung für alle Erfahrungen. Jedoch haben sich zumindest die Hauptströmungen der neuzeitlichen Philosophie im Zuge ihrer Erkenntnis- und Vernunftkritik, die alle Kategorien des Wissens und Erkenntnisansprüche einer radikalen Reflexion unterzogen hat, schrittweise von der Vorstellung verabschiedet, in der kategorial verfassten Erkenntnis scheine etwas von der ‚Wahrheit‘ der Welt auf. Wie die Bestimmungen des Wissens und Handelns überhaupt unterliegt das Nachdenken über die Sprache, die Funktion von Begriffen und das Verhältnis von Bezeichnendem und Bezeichnetem unter den Bedingungen der Moderne einem Unbestimmt- und Reflexivwerden. So hat die radikale Reflexion gezeigt, dass die unterscheidenden Kriterien, die etwas als etwas fassbar machen, nicht zwingend die einzig möglichen und notwendig richtigen sind. So kann der Baum beispielsweise als ökonomische Ressource, Schattenspender, Kleinbiotop, krankheitsbefallen, Symbol für das Leben und auf viele andere Weisen wahrgenommen werden. Damit erweisen sich die Unterscheidungen, die zu diesen Kriterien führen, zumindest als vorläufig, als perspektivisch gebunden oder als kontingent. Die Vorstellung, es könne sicheres, in der ‚Realität‘ verankertes Wissen geben, wird durch Momente von Fraktalität, Vieldeutigkeit und Ambivalenz erodiert und mündet Gamm (2000) zufolge in das ein, was er „Unbestimmtheit“ nennt. Um nur ein Beispiel zu nennen: In der Anthropologie gelten Versuche, ein überzeitliches und invariantes ‚Wesen‘ des Menschen zu bestimmen, heute als gescheitert. Der Mensch lässt sich nicht eindeutig bestimmen - er ist und bleibt eine offene Frage. Der Befund einer Zunahme an Unbestimmtheit mag befremdlich klingen, hat es doch seit dem Zeitalter der Aufklärung und (in den Naturwissenschaften vor allem seit dem 19. Jahrhundert) einen schon lange nicht mehr überblickbaren quantitativen Zuwachs und eine qualitative Verfeinerung des Wissens gegeben, die ihrerseits einen erheblichen wissenschaftlichtechnischen Fortschritt ermöglicht haben. Tatsächlich erweist sich die Situation als paradox: dem enormen Zuwachs an Wissen und dessen positiven Auswirkungen auf die Lebensverhältnisse steht ein erheblicher Zuwachs an Unbestimmtheit gegenüber. „Je bestimmter, das VHN 3 | 2015 199 MARKUS DEDERICH Kritik der Dekategorisierung FACH B E ITR AG heißt analytisch differenzierter, genauer, in immer mehr Variablen und Kombinationen zerteilt, man die Gegenstände oder Ereignisse beschreibt, desto unbestimmter, bloß wahrscheinlicher und mehrdeutiger wird das Wissen darüber, wie sich ein System oder Gegenstand tatsächlich verhalten wird.“ (Gamm 2000, 178) Das begrifflich und methodisch abgesicherte Streben nach Wissen führt in einer paradoxen Bewegung zu immer neuen Fragen und ungeklärten Problemen. Folgerichtig konstatiert Gamm, dass mit dem Zuwachs an Wissen eine Zunahme von Nichtwissen einhergeht. „Wo alles zur Disposition gestellt wird, immer mehr Variablen variiert werden oder die Relativität der Aussagen in Abhängigkeit von den Methoden, den Entscheidungspräferenzen, der Kontextgebundenheit, den Zielvorgaben und der Untersuchungstiefe zunimmt, steigt unausweichlich mit dem vermehrten Wissen über die Varianz der Verhältnisse das Nichtwissen und damit die Unbestimmbarkeit.“ (Gamm 2000, 178) Folgerichtig steht heute infrage, ob es überhaupt (intelligible) Gegenstände gibt, in denen die verschiedenen Modi des Wissens mit den für sie typischen Unterscheidungen zusammenlaufen und dort ihren ‚ontischen‘ Grund haben. Diese Frage wurde und wird vor allem in solchen Philosophien verneint, die unter dem Etikett „Postmoderne“ firmieren. Nun betont Gamm, dass diese Entwicklung keineswegs als Verlust oder Mangel begriffen werden muss. Dann wäre das Unbestimmte nicht mehr als eine Schwundform oder eine Vorstufe des Bestimmten. Gamm plädiert im Gegensatz zu einer solchen negativen Bewertung der Unbestimmtheit für deren Bejahung: „Unbestimmtsein erscheint nun als eine Art Offensein, in dem sich zwei ineinandergefaltete Bedeutungen auf paradoxe Weise kreuzen: das, was die Dinge zugleich ermöglicht und sie augenblicklich zerstreut und partikularisiert.“ (Gamm 1997, 41) Nach dieser Auffassung werden Versuche, etwas kategorial zu bestimmen und zu fixieren, durch eine untergründige Gegenbewegung konterkariert. Dabei ist es genau diese Gegenbewegung, die die von Gamm genannte Öffnung bewirkt. Es ist das Unbestimmte, das den ‚Gegenstand‘ aus einem So-und-nicht-anders befreit. Genau in diesem Sinn ist folgende Aussage Adornos zu verstehen: „Was ist, ist mehr als es ist.“ (Adorno 1975, 164) Wie ist das zu verstehen? Gamm erläutert den Gedanken wie folgt: „Jedem Seienden haftet in seiner Realität etwas an, das über es hinausweist. Jeder Satz einer lebendigen Sprache transportiert Bedeutungen, die der Sprecher nicht einholen kann; jedes Zeichen lässt eine Öffnung, über die es auch anders interpretiert werden kann; jede Handlung und jede Geste kann anders verstanden werden, als der Handelnde es intendiert hat.“ (Gamm 2000, 125) Obwohl etwas immer nur als etwas erkannt werden kann und Begriffe dieses etwas auf eine Hinsicht hin festzulegen suchen, weist das Erkannte zugleich stets darüber hinaus. In der neuen phänomenologischen Philosophie wird das, was Gamm hier beschreibt, als „Überschuss“ bezeichnet, in manchen Philosophien auch als „Differenz“. Die Unterscheidungsoperationen, die dazu führen, Erfahrungsgegenstände auf eine bestimmte Weise zu definieren und auf den Begriff zu bringen, mögen zwar gut begründet und insofern nicht willkürlich sein - gleichwohl können sie den Gegenstand niemals voll ausschöpfen. Die Gegenstände entziehen sich der vollständigen Ausdeutbarkeit. Adorno spricht in diesem Zusammenhang vom „Nichtidentischen“. Das Nichtidentische ist, wie er notiert, „die eigene Identität der Sache gegen ihre Identifikationen“ (Adorno 1975, 164). Wir können über diese Identität nicht im positiven Sinne sagen, was sie ist, gleichwohl aber, dass sie nicht nichts ist, so wieder Gamm (2000): sie ist die Weise, wie sich etwas dem Zugriff entzieht und Versuche der kategorialen Fixierung zersetzt. VHN 3 | 2015 200 MARKUS DEDERICH Kritik der Dekategorisierung FACH B E ITR AG Was bedeutet es, die produktiven philosophischen Momente des von Kant dargelegten Verhältnisses von Anschauung und Begriff, den zentralen Aspekt der Aufmerksamkeit, die erkenntnistheoretische Problematik von Kategorien und Gamms Unbestimmbarkeitsthese zusammen im Hinblick auf die Dekategorisierungsthematik in den Blick zu nehmen und zu würdigen? Nachfolgend wird es um den Versuch gehen, zu zeigen, dass der Verzicht auf begriffliche und kategoriale Festlegungen keinen Ausweg eröffnet. Dies würde geradewegs in ein epistemisches, kommunikatives und handlungspraktisches Vakuum führen und vielleicht sogar neuen Irrationalismen Vorschub leisten. Vielmehr wird es auf die philosophische Anstrengung ankommen, „über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen“ (Adorno 1975, 27). 6 Zwischen Signifikation und Unbestimmtheit: Die Kategorie ‚Behinderung‘ Warum wird im Kontext eines Beitrags zur Dekategorisierung auf die vorab skizzierte paradox wirkende Entwicklung hingewiesen? Systematisches wissenschaftliches Wissen ist auf der einen Seite ohne die Bildung von Kategorien im oben genannten Sinn nicht möglich. Wenn pädagogisches Handeln nicht nur auf der Basis von Intuitionen und spontanen Entscheidungen erfolgen soll, benötigt es eine (eben auch kategoriale) wissenschaftliche Fundierung. Kann es aber eine solche Fundierung geben, wenn der Personenkreis, um den es zentral geht, begrifflich gar nicht erfasst wird? Auf der anderen Seite trifft das oben skizzierte Phänomen der Unbestimmtheit auch auf die Kategorie ‚Behinderung‘ zu. Es gibt inzwischen eine ganze Reihe differenter Modelle von Behinderung, etwa medizinische, psychologische und verschiedene, teilweise miteinander konkurrierende soziologisch oder kulturwissenschaftlich konturierte Theorien. Diese sind jeweils innerhalb ihrer eigenen begrifflichen und explikativen Logik mehr oder weniger konsistent, erweisen sich jedoch aufgrund ihrer unterschiedlichen (disziplinären, begrifflichen, methodischen) Zentralperspektiven und grundlagentheoretischen Einbettungen als nur begrenzt kommensurabel. Betrachtet man darüber hinaus so unterschiedliche Beeinträchtigungen wie Autismusspektrumstörungen, (s)elektiven Mutismus oder Dissozialität, dann zeigt sich, dass es zwar verschiedene auf diese Störungsbilder bezogene Erklärungsmodelle gibt, viele Details aber - z. B. solche, die das häufig angenommene Zusammenspiel biologischer und sozialer Aspekte betreffen - immer noch weitgehend im Dunkeln liegen bzw. umstritten sind. Welches Erklärungsmodell gewählt wird, scheint in hohem Maße eine Frage des Standpunktes zu sein. Dies mag als Mangel empfunden werden, der in Zukunft durch mehr Forschung und ‚realitätsadäquatere‘ Theoriebildung zu überwinden ist. Gegenüber dieser optimistischen Sicht spricht jedoch vieles dafür, dass der Dissens in der bisherigen Debatte über die Dekategorisierung auch mit der prinzipiellen Unbestimmtheit der Kategorie ‚Behinderung‘ zusammenhängt. Diese ist aber bislang nicht hinreichend gewürdigt worden. So profiliert und eindeutig die Positionen der Protagonisten sein mögen, so klar ist auch, dass keine der beiden Seiten Argumente liefern konnte, die die Gegenposition zum Schweigen gebracht hätten (vgl. Ahrbeck 2011; Wocken 2011). Folgt man der Unbestimmtheitsthese, liegt dies jedoch nicht an der Schwäche der jeweiligen Argumentationen, sondern an der notwendigen Unbestimmtheit der Kategorie ‚Behinderung‘, die sich aus der nicht tilgbaren Differenz zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem ergibt. Phänomenologisch lässt sich nämlich zeigen, dass etwas die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und zur Sprache kommen kann, „ohne dass das, was sich präsentiert, durch seine Repräsentations- VHN 3 | 2015 201 MARKUS DEDERICH Kritik der Dekategorisierung FACH B E ITR AG modi ausgeschöpft würde“ (Waldenfels 2002, 34). Genau dies nennt Waldenfels „repräsentative Differenz“ (ebd.). In der Regel jedoch werden diese Unausdeutbarkeit und die daraus resultierende Unbestimmtheit durch die Einbettung des Sprechens und der Begriffe in diskursive Kontexte mit ihren jeweiligen Denk-, Deutungs- und Redeordnungen sowie ihren Wahrheitsansprüchen verdeckt. Sofern diese Analyse zutrifft, dürfte auch klar sein, dass sich die Pro- und Kontrapositionen in der Dekategorisierungsdebatte weiterhin ohne Aussicht auf einen tragfähigen Konsens gegenüberstehen und der Streit der Schulen ergebnislos fortgesetzt werden wird. Deshalb werde ich nachfolgend versuchen, eine ‚dritte‘ Position ins Spiel zu bringen, eine Position, die als „Denken im Widerspruch“ (Stinkes 2014) bezeichnet werden könnte. Hierbei gehe ich von zwei Prämissen aus. Erstens: Behindertenpädagogisches Handeln braucht fundiertes Wissen und damit klare und möglichst eindeutige Begriffe. Zweitens: Die Kategorie ‚Behinderung‘ weist diese Eindeutigkeit nicht auf. Einerseits ist sie, wie die Befürworter der Dekategorisierung zeigen, wegen stigmatisierender, identitätsbeschädigender und gruppenbildender Effekte hochproblematisch. Andererseits aber scheint sie, wie die Gegner der Dekategorisierung zeigen, in manchen Zusammenhängen unverzichtbar zu sein - u. a. deshalb, weil sie einen spezifischen gruppen- und identitätsbildenden Effekt hat, aber auch, weil sie den Gegenstandsbereich pädagogischen Handelns bezeichnet. Damit aber erweist sich die Kategorie im oben skizzierten positiven Sinn als zugleich unbestimmt und offen und unverzichtbar. Was folgt aus diesen Prämissen? Statt eine „Flucht aus der Kategorie“ anzutreten, schlage ich vor, die Kategorie beizubehalten und im Bewusstsein ihrer Unbestimmtheit und Offenheit zu verwenden. Nun könnte man einwenden, die Schlussfolgerung stünde in einem logischen Widerspruch zur ersten Prämisse. Tatsächlich aber offenbart das, was wie ein logischer Widerspruch aussieht, eine Aporie im Sinne einer nicht auflösbaren Spannung: Einerseits braucht Wissenschaft möglichst eindeutige Begriffe, andererseits wird die restlose Vereindeutigung durch die repräsentative Differenz verunmöglicht. Das bedeutet für die Kategorie ‚Behinderung‘ (wie für alle Kategorien), dass sie nicht die Funktion hat, etwas unausweichlich und auf ausschließende Weise als etwas zu fixieren. Die Kategorie leistet eine sachlich begründete und erkenntnis- und sprachpragmatisch notwendige Festlegung, ohne damit den Anspruch zu erheben, das Bezeichnete auszuschöpfen und umfänglich zu erfassen. In diesem Zusammenhang bedeutet Denken im Widerspruch, der Kategorie ‚Behinderung‘ ein Bewusstsein dafür an die Seite zu stellen, dass diese Kategorie über sich hinausweist in einen Bereich nicht einholbarer Differenz. Insofern käme es auf einen Sprachgebrauch an, der um größtmögliche Klarheit und Präzision ringt, ohne dabei den Gegenstand einzusperren und zu unterwerfen, sondern ihn umgekehrt immer wieder aus seiner begrifflichen Einhegung zu entlassen. Dies wäre die Einlösung der Forderung von Adorno, durch den Begriff über den Begriff hinauszugelangen. 7 Schlussfolgerungen: Dekategorisierung im Licht der Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie Wie gezeigt wurde, entsteht Aufmerksamkeit dann, wenn etwas auf sich aufmerksam macht und uns aufmerken lässt. Ich behaupte nun, dass dies auch der Fall ist, wenn Kinder und VHN 3 | 2015 202 MARKUS DEDERICH Kritik der Dekategorisierung FACH B E ITR AG Jugendliche z. B. in schulischen Situationen ungewöhnliches Verhalten zeigen, dem Unterricht nicht folgen können und mehr Zeit brauchen, andere (psychosoziale, kognitive oder körperliche) Lernvoraussetzungen als die meisten anderen Kinder mitbringen usw. Das, was Pädagogen aufmerken lässt, verlangt ihnen eine pädagogische Antwort ab - und sei es die, das, was sich der Aufmerksamkeit aufgedrängt hat, gar nicht oder vorerst nicht zu beachten. Mit anderen Worten: Zwar ist nicht alles, was sich der Aufmerksamkeit aufdrängt, auch pädagogisch relevant - aber nur das, was überhaupt Aufmerksamkeit weckt, kann pädagogisch relevant werden. Allein aus einer auf Kategorien verzichtenden Anerkennung von Vielfalt, die sich die Inklusive Pädagogik auf die Fahnen geschrieben hat, lässt sich keine pädagogische Konzeption ableiten, die der Komplexität der erfahrbaren Phänomene und Problemlagen gerecht wird. Wenn Beeinträchtigungen des Sehens und Hörens, Auffälligkeiten des Sprechens wie Artikulationsstörungen oder Dysgrammatismus, andauernde Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung oder elementaren Rechenoperationen, das Fehlen verbalsprachlicher Artikulation, Verweigerungshaltung und Rückzug im Unterricht usw. pädagogisch relevant sind, weil sie sich der Aufmerksamkeit aufdrängen und nach einer Antwort verlangen, müssen sie als solche wahrgenommen, benannt und auf ihre Ursachen bzw. Bedingungsgefüge hin analysiert werden. Dies gilt unabhängig davon, ob als Ursachen bzw. Bedingungsgefüge biologische, psychologische, pädagogische, familiäre, sozioökonomische o. a. Faktoren angenommen werden. Obgleich Erkenntnis eine vorprädikative, leiblich sinnliche Dimension hat (vgl. Dederich 2013, 82ff und 102ff), gilt, wie oben gezeigt wurde, dass bewusste Erkenntnis, die in irgendeiner Form kommunizierbar sein soll, semantisch und kategorial verfasst ist - und zwar auch dann, wenn die Begriffe bzw. Kategorien nicht wissenschaftlich definiert sind und einer reflexiven Kritik unterzogen werden. Das bedeutet nun nicht, dass Begriffe wie ‚Behinderung‘ oder ‚sonderpädagogischer Förderbedarf ‘ nicht aufgegeben werden können. Das können sie sicherlich. Und tatsächlich sind sie in manchen konkreten Situationen als zu abstrakt angelegte Generalisierungen verzichtbar (siehe die Beispiele bei Lindmeier 2005, 144ff). Aber dann erweist es sich als unumgänglich, dass sie durch funktional äquivalente (d. h. eine pädagogisch relevante Problemlage anzeigende) Begriffe und ggf. verfeinerte und differenziertere Begrifflichkeiten ersetzt werden. Als ein solches verfeinertes und differenzierteres funktionales Äquivalent wird seit einiger Zeit die ICF (International Classification of Functioning) ins Spiel gebracht (vgl. Hollenweger 2005). Unabhängig von dem Für und Wider dieses Vorschlags muss konstatiert werden, dass auch im Rahmen dieses Klassifikationssystems keine radikale Dekategorisierung stattfindet, sondern eine andere Art von Kategorisierung. Die entscheidende Pointe in unserem Zusammenhang ist, dass Kategorisierungen - welche Begriffe auch immer im Einzelnen verwendet werden - für die möglichst klare Erfassung der jeweiligen Problemlage sowie für die möglichst unmissverständliche Kommunikation unverzichtbar sind. Diese beiden Funktionen (die Signifikations- und Kommunikationsfunktion) können Kategorien im Feld der Pädagogik nur erfüllen, wenn sie in ein möglichst plausibles theoretisches Erklärungsmodell für die spezifische Problemlage eingebettet sind und die daraus abgeleiteten pädagogischen Interventionen und deren Effekte kritisch diskutiert werden und der erfahrungswissenschaftlichen Überprüfung standhalten. VHN 3 | 2015 203 MARKUS DEDERICH Kritik der Dekategorisierung FACH B E ITR AG Aus dem Vorangehenden folgt, dass die Forderung nach Dekategorisierung nur plausibel ist, wenn gezeigt werden kann, dass all die Phänomene, die in vereinfachender Rede in den Begriffen ‚Behinderung‘ und ‚sonderpädagogischer Förderbedarf ‘ zusammengefasst werden, pädagogisch irrelevant sind, wenn diese Begrifflichkeiten also Unterschiede markieren, die keinen Unterschied machen und deshalb auch nicht als solche bezeichnet werden müssen (vgl. Drepper 1998). Dies wirft eine wichtige Frage auf: Welche Verhaltensweisen bzw. Eigenschaften eines Kindes und welche Aspekte seiner verschiedenen Entwicklungskontexte sind pädagogisch relevant? Wenn man bei der Beantwortung dieser Frage nicht soziologisch von der Bildungs-, Selektions- und Allokationsfunktion der Schule ausgeht, sondern, wie die Dekategorisierungsbefürworter, strikt vom Kind, dann gibt es, vereinfacht gesagt, zwei Antworttypen: Einerseits sind es die Fähigkeiten, Interessen, Begabungen, Potenziale usw. des Kindes, andererseits sind es seine (körperlichen, intellektuellen, emotionalen oder sozialen) Schwierigkeiten und Defizite. Aber bedeutet die Ernstnahme des Kindes nicht, beide Seiten im Blick zu haben? Können tatsächlich alle sich der Aufmerksamkeit aufdrängenden Schwierigkeiten oder Defizite eines Kindes positiv umgedeutet, gegen vorhandene Ressourcen und Resilienzen verrechnet oder durch die Behauptung, es sei eine ‚Konstruktion‘ beobachtender Systeme, einfach wegrationalisiert werden? Schwierigkeiten oder Defizite werden sich spätestens dann der Aufmerksamkeit aufdrängen und pädagogisch relevant werden, wenn sie sich für das betreffende Kind nachteilig auswirken, indem sie seine Bildungs- und Entwicklungschancen schmälern, und zugleich die mindestens potenzielle Möglichkeit besteht, hier durch Intervention zu helfen, zu unterstützen, negative Effekte abzumildern usw. Man kann solche für das Individuum (und ggf. für einen Klassenverband oder die Familie) nachteiligen Auswirkungen als Problemlagen bezeichnen oder, pädagogisch gewendet, wie es z. B. Lindmeier (2005, 142f) vorschlägt, als „erschwerte Erziehungs- und Bildungssituationen“. Sobald die Frage gestellt wird, was genau „erschwerte Erziehungs- und Bildungssituationen“ sind, kommen Begriffe und Kategorien ins Spiel - und zwar auch dann, wenn auf den ‚Behinderungsbegriff ‘ verzichtet wird. Selbstverständlich sind in diesem Zusammenhang auch kritische Fragen zu stellen: Wie weiß man, was eine Problemlage ist und was sich als Nachteil auswirkt? Wer definiert aufgrund welcher Kriterien, was eine Problemlage oder ein Nachteil ist? Welche Interessen, Zielsetzungen, Menschen- und Gesellschaftsbilder usw. stecken dahinter? Diese Rückfragen machen deutlich, dass Bezeichnungen wie ‚Schwierigkeiten‘, ‚Defizite‘, ‚Nachteile‘ oder ‚Problemlage‘ nicht rein deskriptiv sind, sondern normative Erwartungen implizieren, die beispielsweise aus normalen, d. h. dem statistischen Durchschnitt entsprechenden Entwicklungsverläufen hergeleitet werden. Insofern handelt es sich um komplexe und relationale Bezeichnungen: Sie verweisen stets auf einen nicht nur sprachlichen Kontext, sondern auch auf praktische, lebensweltliche und gesellschaftliche Kontexte. Diese Kontexte sind nicht nur untergründig normativ aufgeladen, sondern auch, folgt man Foucault, immer machtförmig, nicht selten auch gewaltsam. Aus den genannten Gründen jedoch folgt hieraus nicht, dass diese Bezeichnungen, Begriffe und Kategorien durchgängig verzichtbar sind und aufgegeben werden müssen. Sie sind, trotz ihrer Problembeladenheit, epistemische und sprachliche Voraussetzung dafür, angemessene und gut begründete pädagogische Unterstützung mit dem Ziel anzubieten, die festgestellten Nachteile auszugleichen und den Problemlagen entgegenzuwirken. Hier schließt ein weiteres, gegen den Verzicht auf Kategorien sprechendes Argument an. VHN 3 | 2015 204 MARKUS DEDERICH Kritik der Dekategorisierung FACH B E ITR AG Oben war gezeigt worden, dass die in der Kategorie ‚Behinderung‘ subsummierten Phänomene deshalb pädagogisch relevant sind, weil sie sich als potenzielle Problemlagen der Aufmerksamkeit aufdrängen und den Pädagoginnen und Pädagogen eine Antwort abverlangen. Auch pädagogische Praktiker und Befürworter der Dekategorisierung greifen bei ihren Beobachtungen pädagogischer Situationen zumindest implizit auf Begriffe und die mit ihnen gekoppelten Bedeutungen, Sinnzuschreibungen und Bewertungen zurück - sofern sie bestimmte Problemlagen, die zuvor unter den nun auf den Index gesetzten Begriff ‚Behinderung‘ subsummiert wurden, als pädagogisch relevant ansehen. Wenn dies zutrifft, dann kann die Forderung nach Dekategorisierung im Sinne eines Wegfalls nicht greifen. Dekategorisierung könnte dann nur noch bedeuten, dass bestimmte Kategorien kontrafaktisch nicht verwendet werden sollen, obwohl sie faktisch und unausweichlich verwendet werden. Wenn sich bestimmte Ereignisse oder Phänomene der Aufmerksamkeit aufdrängen und in der Folge pädagogisch relevant werden, gleichzeitig aber deren kategoriale Einordnung als unzulässig gilt, werden sich entweder andere, aber funktional äquivalente Begriffe durchsetzen, oder es wird bei einer nun aber nur noch impliziten, unausgesprochenen Verwendung des alten Begriffs bleiben. Wenn aber etwas, was nicht bezeichnet werden darf, sich weiterhin als bedeutsam und wichtig erweist, droht eine doppelte Gefahr: Entweder es bildet sich eine begriffspolitisch bedingte Trennung von Vorder- und Hinterbühne aus, durch die der Schein der Dekategorisierung zugleich gewahrt und unterlaufen wird, oder pädagogisch relevante Phänomene verbleiben im Bereich nicht benannter Irritation und Verunsicherung, wodurch ein problematischer Raum für Phantasien, Spekulationen, durch den ‚gesunden Menschenverstand‘ genährte Typisierungen u. a. m. eröffnet würde. Die Kategorien gingen sozusagen in den Untergrund, um dort schwer kontrollierbare Wirkungen zu entfalten. 8 Schlussbemerkung Es müsste deutlich geworden sein, dass Begriffe im Allgemeinen und Kategorien im Besonderen einerseits sprachliche und epistemische Eindeutigkeit garantieren sollen und für systematisches Denken ebenso wie für vernünftige Kommunikation unverzichtbar sind. Andererseits weist auch die begrifflich und kategorial verfasste Sprache der Wissenschaften Unschärfe und Unbestimmtheit auf. Dies trifft auch für die Kategorie ‚Behinderung‘ zu. Hinzu kommt, dass diese Kategorie in unterschiedlichen handlungspraktischen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen annimmt und mit einer Aura von Konnotationen und Wertungen umgeben ist, die sich häufig nicht ganz abschütteln lassen. Außer Zweifel steht auch, dass kategoriale Klassifikationssysteme oft problematisch sind. Das zeigt schon die Geschichte solcher Systeme, die häufig gesellschaftliche oder politische Interessenslagen bedient haben, die auf die Stigmatisierung, Ausgrenzung und Unterdrückung, manchmal auch auf die Dehumanisierung bestimmter Gruppen hinausliefen. Auch aus ethischen Gründen sind Kategorien problematisch: sie verallgemeinern und entindividualisieren, indem sie ein allgemeines Raster an jemanden oder etwas anlegen, um so von einem Allgemeinen her das Besondere zu erfassen, dabei aber das Singuläre aus dem Blick rücken (vgl. Dederich 2013, 30ff). Es müsste aber auch deutlich geworden sein, dass die adäquate Antwort auf die Problembeladenheit der Kategorien nicht darin bestehen kann, sie ersatzlos zu streichen oder nicht mehr zu verwenden. Erforderlich ist vielmehr ein kritischer, reflexiver und behutsamer Umgang mit Sprache. Deshalb wird an dieser Stelle nicht für eine Dekategorisierung argumentiert, sondern dafür, die Kategorien stets im Hinblick auf ihre spezifische Bedeutung innerhalb ihres Verwendungs- VHN 3 | 2015 205 MARKUS DEDERICH Kritik der Dekategorisierung FACH B E ITR AG kontextes zu reflektieren und ihre intendierten und latenten Effekte zu bedenken. Sie bezeichnen in bestimmten, d. h. begrenzten, selektiven und exklusiven Hinsichten kontextabhängige (und eben nicht ‚ontische‘) Aspekte - sie haben jedoch nicht die Funktion, Menschen und ihre Lebenswirklichkeit umfänglich und als Totalität zu erfassen. Durch die Kategorie über die Kategorie hinauszugehen heißt dann, stets im Bewusstsein zu halten, dass das, was die Singularität des Menschen und seine unverbrüchliche Humanität ausmacht, gerade nicht in den Kategorien aufgeht. Literatur Adorno, T. W. (1975): Negative Dialektik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Ahrbeck, B. (2011): Der Umgang mit Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer Cassirer, E. 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(2014): „Ist es normal, verschieden zu sein? “ - Eine Aufforderung zum Denken im Widerspruch. In: Verband Sonderpädagogik, Landesverband Nordrhein-Westfalen e.V.: Mitteilungen 52 (3), 25 -31 Waldenfels, B. (1987): Ordnung im Zwielicht. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Waldenfels, B. (2002): Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Waldenfels, B. (2004): Phänomenologie der Aufmerksamkeit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Wittgenstein, L. (1971): Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Wocken, H.: (2011): Das Haus der inklusiven Schule. Baustellen - Baupläne - Bausteine. Hamburg: Feldhaus Anschrift des Autors Prof. Dr. Markus Dederich Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Allgemeine Heil- und Sonderpädagogik Frangenheimstraße 4 D-50931 Köln Tel. +49 (0)221 470 1965 markus.dederich@uni-koeln.de