eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 84/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2015.art29d
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Trend: Best practice - auch im inklusiven Unterricht?

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Elisabeth Moser Opitz
Die Umsetzung von inklusivem Unterricht erfordert kompetente Lehrkräfte. Bestrebungen zu deren Qualifizierung laufen auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlicher Qualität. Einige Beispiele sollen das veranschaulichen: Seitz und Haas (2015) berichten, dass in den letzten Jahren an mehreren Uni­versitäten Studienschwerpunkte oder Module eingerichtet wurden, die sich mit dem Thema inklusiver Unterricht bzw. dem Umgang mit Heterogenität befassen.
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259 VHN, 84. Jg., S. 259 -261 (2015) DOI 10.2378/ vhn2015.art29d © Ernst Reinhardt Verlag TRE ND TH EME NSTR ANG Inklusion und Pädagogische Profession Best practice - auch im inklusiven Unterricht? Elisabeth Moser Opitz Universität Zürich Die Umsetzung von inklusivem Unterricht erfordert kompetente Lehrkräfte. Bestrebungen zu deren Qualifizierung laufen auf unterschiedlichen Ebenen und in unterschiedlicher Qualität. Einige Beispiele sollen das veranschaulichen: Seitz und Haas (2015) berichten, dass in den letzten Jahren an mehreren Universitäten Studienschwerpunkte oder Module eingerichtet wurden, die sich mit dem Thema inklusiver Unterricht bzw. dem Umgang mit Heterogenität befassen. Die Autorin und der Autor kritisieren, dass sich dies zum Teil auf eine additive Vermittlung von sogenannt „sonderpädagogischen Inhalten“ oder auf die Thematisierung von allgemeinen Fragen zur Intersektionalität und zur Inklusion beschränkt. Andernorts werden inklusionspädagogische Lehramtsstudiengänge für die Primarstufe eingerichtet, oft entlang von Förderschwerpunkten (z. B. http: / / www.uni-potsdam.de/ studium/ studienangebot/ lehramt/ lehramt-ab-wise- 20132014.html). Das widerspricht der Zielsetzung einer Schule für alle, da die bestehenden Kategorisierungen des ausdifferenzierten Sonderschulsystems ins inklusive System implementiert werden und somit Inklusion ad absurdum führen. Eine dritte Variante der Professionalisierung besteht in „Crash-Kursen“ für Regelpädagoginnen und -pädagogen (z. B. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2013). Auch das wird kritisch betrachtet. So hat beispielsweise der Verband Bildung und Erziehung, Landesverband NRW, in seiner Stellungnahme zu dieser berufsbegleitenden Ausbildung die Sorge geäußert, dass diese - insbesondere auch aufgrund von schlechten Rahmenbedingungen - zu einem Qualitätsverlust der sonderpädagogischen Expertise führen könnte (Verband Bildung und Erziehung NRW 2012). Daneben gibt es auch - wie z. B. in Bremen - von Universitäten ausgerichtete berufsbegleitende Masterstudiengänge mit einem umfassenden Studienangebot (Seitz/ Haas 2015). Diese Qualifizierungsmodelle werfen nicht nur die Frage auf, wie Pädagoginnen und Pädagogen am besten auf den inklusiven Unterricht vorbereitet werden, sie weisen auch auf die grundlegende Notwendigkeit hin zu definieren, was guten inklusiven Unterricht oder „best practice“ im Kontext von inklusiver Schulung ausmacht. An dieser Frage scheiden sich die Geister. Boban und Hinz (2009) stellen beispielsweise die provokative These auf, dass Förderpläne für inklusive Erziehung nicht nur überflüssig, sondern kontraproduktiv seien. Diese würden die administrative Teilung von Klassen in behinderte und nichtbehinderte Kinder fördern, die Individuumszentrierung und additive Tendenzen im Unterricht verstärken sowie die konzeptuelle Weiterentwicklung des Gemeinsamen verhindern. Sozusagen das „Gegenprogramm“ dazu bildet das Rügener Inklusionsmodell (RIM), das auf dem Ansatz Response-to-Intervention (RTI) basiert (Mahlau u. a. 2011). Mittels regelmäßiger Leistungstests und dem Einsatz von ausgewählten Materialien und Förderprogrammen sollen eine erfolgreiche Schulung insbesonde- VHN 3 | 2015 260 ELISABETH MOSER OPITZ Best practice - auch im inklusiven Unterricht? TRE ND re von Kindern mit Entwicklungsrisiken gewährleistet und Kompetenzen in den Kulturtechniken gefördert werden. Best practice für den inklusiven Unterricht lässt sich einerseits aus normativen Festlegungen ableiten, die sich aus den Zielsetzungen von inklusivem Unterricht ergeben bzw. für die Zielsetzung der gesellschaftlichen Inklusion konstitutiv sind, andererseits aus Erkenntnissen zu gutem Unterricht (Moser Opitz 2014). Auf normativer Ebene sollen Konzepte für inklusiven Unterricht Überlegungen zur Schulung und Förderung von allen Kindern beinhalten und Möglichkeiten aufzeigen, wie gemeinsam - beispielsweise am gemeinsamen Gegenstand - gelernt werden kann (z. B. Krähenmann u. a. 2015). Das kann nur geschehen, wenn von einem Lernbegriff ausgegangen wird, bei dem die Lernprozesse als aktive Auseinandersetzung des Individuums mit der Umwelt verstanden werden. Dabei sind nicht nur Leistungsaspekte, sondern auch verschiedene Heterogenitätsdimensionen (Geschlecht, Herkunft) mitzudenken. Bezüglich Unterrichtsqualität sind zuerst einmal dieselben Faktoren bedeutsam, die für guten Unterricht generell gelten: Wichtig sind die Kompetenzen der Lehrkräfte und die Berücksichtigung der Tiefenstruktur von Unterricht, d. h. von psychologisch-didaktischen Qualitätsmerkmalen wie kognitive Aktivierung, lernförderliches Klassenklima, Klassenführung, konstruktive Lernbegleitung usw. (Gold 2015). Dabei ist insbesondere das Aufzeigen von Differenzierungsmöglichkeiten erforderlich, die über das Bearbeiten von unterschiedlichen Arbeitsblättern hinausgehen und bei denen die fachlich-fachdidaktischen Faktoren, die individuellen Voraussetzungen der Lernenden und die Aspekte des Aneignungsniveaus von Lerninhalten (im Sinne einer Handlungsstrukturanalyse) berücksichtigt werden. Zudem müssten Erkenntnisse zur optimalen Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf beachtet werden. Ein wichtiges Kriterium ist schließlich, dass die Konzepte so ausgestaltet sein müssen, dass sie auch relevant sind für die Umsetzung. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zeigt sich, dass weder der Ansatz von Boban und Hinz noch das Rügener Modell den Kriterien entsprechen. Im Rügener Modell fehlen Hinweise zur Gestaltung von gemeinsamen Lernsituationen von Kindern mit unterschiedlichsten Lernvoraussetzungen. Weiter bezieht sich das RIM nur auf Lernende mit Schwierigkeiten beim Erwerb der Kulturtechniken. Schülerinnen und Schüler, für die das Lesen, das Schreiben und das Rechnen nicht bedeutsame Lernziele sind, werden im RIM nicht berücksichtigt. Im Ansatz von Boban und Hinz dagegen werden Überlegungen zu spezifischen Fördermaßnahmen vernachlässigt, indem die Benennung von Förderbedarfen kritisiert wird. In beiden Konzeptionen wird zudem die zentrale Frage nach der Tiefenstruktur von Unterricht nicht gestellt. Heimlich (2014, 4) hat darauf hingewiesen, dass bezüglich der Ansätze für inklusive Bildung immer noch von einer „konzeptionellen Suchbewegung“ auszugehen ist. Wenn Inklusion eine Chance haben soll, ist es an der Zeit, dass sich die Inklusionspädagogik spezifisch mit Unterrichtsentwicklung befasst - einer inklusiven Unterrichtsentwicklung, die weder bestimmte Lernende ausschließt noch deren Bildung und Förderung vernachlässigt. Für die Professionalisierung der Lehrkräfte bedeutet das, dass in der Ausbildung sowohl die Zielsetzungen von inklusivem Unterricht als auch Erkenntnisse zu best practice ausführlich thematisiert und erarbeitet werden müssen. Es handelt sich dabei um eine sehr anspruchsvolle und zeitintensive Aufgabe, die sich kaum durch ein paar Module zur Heterogenitätsthematik oder einen „Crash-Kurs“ realisieren lässt. VHN 3 | 2015 261 ELISABETH MOSER OPITZ Best practice - auch im inklusiven Unterricht? TRE ND Literatur Boban, I.; Hinz, A. (2007): Förderpläne - für integrative Erziehung überflüssig! ? Aber was dann? ? In: Mutzeck, W. (Hrsg.): Förderplanung. Grundlagen, Methoden, Alternativen. 3. Aufl. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, 131 -144 Gold, A. (2015): Guter Unterricht. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Heimlich, U. (2014): Teilhabe, Teilgabe oder Teilsein? Auf der Suche nach den Grundlagen inklusiver Bildung. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 83, 1 -5. http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ vhn2014.art01d Krähenmann, H.; Labhart, D.; Schnepel, S.; Stöckli, M.; Moser Opitz, E. (in Druck): Gemeinsam lernen - individuell fördern: Differenzierung im inklusiven Mathematikunterricht. In Peter- Koop, A.; Rottmann, T.; Lüken, M. (Hrsg.): Inklusiver Mathematikunterricht in der Grundschule. Offenburg: Mildenberger Mahlau, K.; Diehl, K.; Voß, S.; Hartke, B. (2011): Das Rügener Inklusionsmodell (RIM) - Konzeption einer inklusiven Grundschule. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 62, 464 -471 Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2013): Informationsbroschüre Berufsbegleitende Ausbildung zum Erwerb des Lehramts für sonderpädagogische Förderung (VOBASOF). Online unter: http: / / www.schulministerium.nrw.de/ docs/ Recht/ LAusbildung/ Vorbereitungsdienst/ Informati onsschrift.pdf, 13. 3. 2015 Moser Opitz, E. (2014): Inklusive Didaktik im Spannungsfeld von gemeinsamem Lernen und effektiver Förderung. Ein Forschungsüberblick und eine Analyse von didaktischen Konzeptionen für inklusiven Unterricht. In: Jahrbuch Allgemeine Didaktik 2014. Allgemeine Didaktik für eine inklusive Schule. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 52 -68 Seitz, S.; Haas, B. (2015): Inklusion kann gelernt werden! Weiterbildung von Lehrkräften für die Inklusive Schule. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 84, 9 -20. http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ vhn2015.art02d Verband Bildung und Erziehung, Landesverband NRW (2012): Stellungnahme des VBE NRW zum Entwurf einer Verordnung zur berufsbegleitenden Ausbildung zum Erwerb des Lehramts für sonderpädagogische Förderung (VOBASOF). Online unter: http: / / www.vbe-nrw.de/ barriere frei/ 1/ content_id/ 3294.html? session=e9ed2f8 d2ccfd0e190aca0fdce91774d, 15. 3. 2015 Anschrift der Autorin Prof. Dr. Elisabeth Moser Opitz Institut für Erziehungswissenschaft Lehrstuhl Sonderpädagogik, Bildung und Integration Hirschengraben 48 CH-8001 Zürich Tel. +41 (0) 44 6 34 31 36 emoser@ife.uzh.ch