eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 84/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2015.art37d
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2015
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Trend: Praxis der Inklusion als individuelles Risiko

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Kathrin Römisch
Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), aus der ein Grundrecht auf Inklusion und Teilhabe abzuleiten ist, bezieht sich ohne Ausnahmen auf alle Menschen, also auch auf Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen. Inklusion fragt „nicht nach dem Grad der Behinderung. Wer Inklusion an der Schwere der Behinderung festmacht, hat nicht verstanden, um was es geht.“ (Reimann 2014) [...]
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333 VHN, 84. Jg., S. 333 -335 (2015) DOI 10.2378/ vhn2015.art37d © Ernst Reinhardt Verlag Praxis der Inklusion als individuelles Risiko Welche Gefahren enthalten institutionelle Übergänge für Männer und Frauen mit schwersten Beeinträchtigungen? Kathrin Römisch EFH Bochum TRE ND TH EME NSTR ANG Institutionelle Übergänge in der gesamten Lebensspanne Problemstellung Inklusion Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN- BRK), aus der ein Grundrecht auf Inklusion und Teilhabe abzuleiten ist, bezieht sich ohne Ausnahmen auf alle Menschen, also auch auf Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen. Inklusion fragt „nicht nach dem Grad der Behinderung. Wer Inklusion an der Schwere der Behinderung festmacht, hat nicht verstanden, um was es geht.“ (Reimann 2014) Dies ist besonders zu erwähnen, weil für den angesprochenen Personenkreis „eine zunehmende Verschlechterung der Lebens- und der Betreuungsqualität, verbunden mit einer Abkoppelung von Inklusions- und Teilhabeprozessen, festzustellen“ ist (Seifert/ Bradl 2015, 64). Diejenigen, die als schwer beeinträchtigt bezeichnet werden, laufen Gefahr, von Inklusionsprozessen ausgeschlossen zu werden und als „Restgruppe“ in den bestehenden Sonderinstitutionen zu verbleiben. Durch das hochspezialisierte Sondersystem der Behindertenhilfe sind deren Lebenswege vorgezeichnet, und Wahlmöglichkeiten stehen kaum zur Verfügung (vgl. Schildmann 2015, 95). Davon betroffen sind vor allem Frauen und Männer mit kognitiven und schwersten Beeinträchtigungen, die in einer „Parallelstruktur (…) entlang des Lebenslaufes von der frühen Kindheit bis ins hohe Alter“ versorgt werden (Muche 2013, 167). Riskante Übergänge Für Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen besteht wohl der riskanteste institutionelle Übergang bereits bei der Geburt. Die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik, verbunden mit der legalen Praxis des Schwangerschaftsabbruchs, bergen für Kinder mit (schweren) Beeinträchtigungen die Gefahr, gar nicht geboren zu werden (vgl. Dederich 2008, 45). Sie sind vom Lebensanfang an von Selektionsprozessen betroffen. Die gesellschaftliche Unerwünschtheit von Behinderung steht jedoch in einem extremem Widerspruch zur UN-BRK und zu den im Allgemeinen positiven Reaktionen auf diese (vgl. Wocken 2010, 25). Andere Merkmale als Behinderung, vor allem das Geschlecht der Kinder und späteren Erwachsenen, erscheinen als vergleichsweise unwichtig. Die Relevanz der Geschlechtszugehörigkeit reduziert sich bei dem Personenkreis der schwerstbehinderten Menschen und scheint tendenziell nur dann relevant, wenn es um die Feststellung von Abweichungen gegenüber der (vermeintlichen) weiblichen bzw. männlichen Normalität geht (vgl. Römisch 2011). In den „internen Hierarchien der Sonderpädagogik“ (Schildmann 2015, 95) stehen Personen mit schwersten Beeinträchtigungen ihr Leben lang ganz unten. Bei ihnen kommen die gesellschaftlichen Bemühungen um Teilhabe und VHN 4 | 2015 334 KATHRIN RÖMISCH Praxis der Inklusion als individuelles Risiko TRE ND Inklusion kaum an, d. h. schulische, berufliche und soziale Integration dieses Personenkreises gelten vielerorts als zu schwierig (vgl. Dederich 2008, 43). „So lässt sich in den bildungspolitischen Debatten um schulische Inklusion eine klare Fokussierung auf die Förderschwerpunkte Lernen, Sprache und Verhalten identifizieren - bei deutlicher Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen mit Beeinträchtigungen der geistigen Entwicklung und schwersten Behinderungen.“ (Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2013 a, 46) Die Forderung nach Aufrechterhaltung von Förderschulen besonders für diesen Personenkreis birgt jedoch die Gefahr der Etablierung von „Restschulen für diejenigen (…), die wahrscheinlich am meisten auf gleichberechtigte Teilhabe angewiesen sind“ (Reimann 2014). Beim Übergang von der Schule in den Beruf wechseln sie traditionell fast automatisch in die Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) und verbleiben hier in der Regel bis zum Rentenalter (die Vermittlungsquoten auf den Allgemeinen Arbeitsmarkt liegen unter 1 %; vgl. Antidiskriminierungsstelle 2013 b, 22). Jedoch werden Frauen und Männer mit schwersten Beeinträchtigungen unter Umständen sogar von der Teilhabe an der Arbeit in WfbM ausgeschlossen, da diese ein gesetzlich verankertes „Mindestmaß wirtschaftlicher verwertbarer Arbeitsleistung“ und damit sogenannte „Werkstattfähigkeit“ voraussetzen. Wer sie nicht erbringt, kann an „tagesstrukturierenden Angeboten“ teilnehmen, die ggf. den WfbM angeschlossen, aber mit der regulären WfbM-Beschäftigung nicht zu vergleichen sind. Unter dem Aspekt von Teilhabe und Inklusion ist hier also eine zusätzliche strukturelle Hürde eingebaut. Ein weiterer lebenslaufrelevanter Übergang ist im Auszug aus dem Elternhaus zu sehen, der für Frauen und Männer mit hohem Unterstützungsbedarf viel schwieriger ist als für andere Menschen. Ein Umzug erfolgt immer noch seltener in gemeindenahe, kleine Wohneinrichtungen als in große stationäre Wohnformen, auch wenn die Zahl der Menschen im ambulant betreuten Wohnen insgesamt deutlich gestiegen ist (vgl. BMAS 2013, 313). Die Ursache dafür, dass vor allem Menschen mit kognitiven und körperlichen Beeinträchtigungen weiterhin mehrheitlich in stationären Einrichtungen betreut werden, liegt vor allem bei dem im Sozialgesetzbuch XII verankerten Mehrkostenvorbehalt (vgl. § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII). „Da schwerbehinderte Menschen auf eine dichte personelle Besetzung bzw. mehr Fachleistungsstunden, nicht unerhebliche Unterstützungsleistungen, Pflege und Therapiemaßnahmen angewiesen sind und da ein individualisiertes Hilfeangebot mit multiprofessioneller ambulanter Unterstützung in gemeinwesenintegrierten Wohnformen gängigen Auffassungen zufolge keinesfalls billiger würde, verbleiben sie aufgrund ihres hohen Unterstützungsbedarfs als Restgruppen in den Institutionen.“ (Dalferth 2010, 124) Fazit Auch wenn viele Anstrengungen unternommen werden, die UN-BRK umzusetzen, ist festzustellen: „Von diesen positiven Entwicklungen des Systems bleiben Menschen mit Komplexer Behinderung weitgehend ausgeschlossen. Diese Personengruppe gerät zunehmend ins Abseits.“ (Fornefeld 2010, 401) Der Maßstab gelingender Inklusion muss aber bei denjenigen ansetzen, die von gesellschaftlicher Exklusion am meisten betroffen sind; erst dann kann von einer wirklich inklusiv orientierten Gesellschaft gesprochen werden. Literatur Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2013 a): Diskriminierung im vorschulischen und schulischen Bereich. Online unter: http: / / www.anti diskriminierungsstelle.de/ SharedDocs/ Down loads/ DE/ publikationen/ Expertisen/ Expertise_ Diskriminierung_im_vorschulischen_und_ schulischen_Bereich.pdf; jsessionid=A2AB414 AC44F37A30D90C8F8D9D5ECD8.2_cid322? __ blob=publicationFile, 15. 6. 2015 VHN 4 | 2015 335 KATHRIN RÖMISCH Praxis der Inklusion als individuelles Risiko TRE ND Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2013 b): Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderungen. Online unter: http: / / www.antidiskriminierungsstelle.de/ SharedDocs/ Downloads/ DE/ publikationen/ Ex pertisen/ Expertise_Zugang_zum_Arbeits markt.pdf? __blob=publicationFile, 15. 6. 2015 BMAS/ Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2013): Teilhabeberichtder Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Teilhabe - Beeinträchtigung - Behinderung. Online unter: https: / / www. bmas.de/ SharedDocs/ Downloads/ DE/ PDF- Meldungen/ 2013-07-31-teilhabebericht.pdf? __blob=publicationFile, 15. 6. 2015 Dalferth, M. (2010): Leben in „Parallelgesellschaften“? Menschen mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung zwischen den Idealen der neuen Leitideen und Entsolidarisierungsprozessen. In: Theunissen, G. (Hrsg.): Inklusion von Menschen mit geistiger Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer, 129 -140 Dederich, M. (2008): Der Mensch als Ausgeschlossener. In: Fornefeld, B. (Hrsg.): Menschen mit Komplexer Behinderung. München: Reinhardt, 31-49 Fornefeld, B. (2010): Ausschluss von Menschen mit Komplexer Behinderung - Inklusion oder einfach nur mehr Gerechtigkeit? In: BHP 49, 400 -416 Muche, C. (2013): Übergänge und Behinderung. In: Schröer, W.; Stauber, B.; Walther, A.; Böhnisch, L.; Lenz, K. (Hrsg.): Handbuch Übergänge. Weinheim: Beltz, 158 -175 Reimann, L. (2014): Also die ganz ‚schwerstmehrfach-behinderten Kinder‘ können nicht in den Gemeinsamen Unterricht. Das geht ja gar nicht. Online unter: http: / / inklusionsfakten.de/ alsodie-ganz-schwerstmehrfach-behinderten-kin der-konnen-nicht-in-den-gemeinsamen-un terricht-das-geht-ja-gar-nicht/ , 25. 5. 2015 Schildmann, U. (2015): Institutionelle Übergänge in der gesamten Lebensspanne unter besonderer Berücksichtigung von Behinderung und Geschlecht. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 84, 93 -97. http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ vhn2015.art10d Seifert, M.; Bradl, C. (2015): Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung und hohem Unterstützungsbedarf: Positive Entwicklungen oder Rückschritte? In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 84, 60 -65. http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ vhn2015.art 07d Wocken, H. (2010): Über Widersacher der Inklusion und ihre Gegenreden. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 23, 25 -31 Anschrift der Autorin Prof. Dr. Kathrin Römisch Evangelische Fachhochschule RWL Immanuel-Kant-Str. 18 -20 D-44803 Bochum roemisch@efh-bochum.de