Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Unterstützung trotz Dekategorisierung?
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Andreas Hinz
Andreas Köpfer
Dieser Beitrag fokussiert Dekategorisierung auf menschenrechtlicher Basis aus einer pädagogischen Perspektive. Dabei entwickelt er ein Verständnis von Dekategorisierung, das den Unterstützungsbedarf von Systemen ins Zentrum stellt. Entlang von Beispielen inklusiver Schulentwicklungen zeigt er Möglichkeiten auf, wie Dekategorisierung proaktiv zur Schaffung von Möglichkeitsräumen für die Unterstützung von Vielfalt beitragen kann, z. B. zu systemisch orientierter Kommunikation und Kooperation, konti-nuierlicher gemeinsamer Reflexion, für Planungen im Team usw. Somit kann auf potenziell diskriminierende, feststehende, personenbezogene Etikettierungen in der pädagogischen Praxis als Bedingung für Unterstützung verzichtet werden.
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36 VHN, 85. Jg., S. 36 -47 (2016) DOI 10.2378/ vhn2016.art04d © Ernst Reinhardt Verlag FACH B E ITR AG TH EME NSTR ANG Dekategorisierung Unterstützung trotz Dekategorisierung? Beispiele für Unterstützung durch Dekategorisierung Andreas Hinz Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Andreas Köpfer Pädagogische Hochschule FHNW Zusammenfassung: Dieser Beitrag fokussiert Dekategorisierung auf menschenrechtlicher Basis aus einer pädagogischen Perspektive. Dabei entwickelt er ein Verständnis von Dekategorisierung, das den Unterstützungsbedarf von Systemen ins Zentrum stellt. Entlang von Beispielen inklusiver Schulentwicklungen zeigt er Möglichkeiten auf, wie Dekategorisierung proaktiv zur Schaffung von Möglichkeitsräumen für die Unterstützung von Vielfalt beitragen kann, z. B. zu systemisch orientierter Kommunikation und Kooperation, kontinuierlicher gemeinsamer Reflexion, für Planungen im Team usw. Somit kann auf potenziell diskriminierende, feststehende, personenbezogene Etikettierungen in der pädagogischen Praxis als Bedingung für Unterstützung verzichtet werden. Schlüsselbegriffe: Dekategorisierung, Unterstützung, Inklusive Pädagogik, Schulentwicklung Support Despite Decategorization? Support By Decategorization! Summary: This article focuses on decategorization from a pedagogical perspective based on a human-rights based position. It implicates an understanding of decategorization that sees systems as the focal point of support. Using different examples of school development processes, opportunities are revealed of how decategorization can contribute to enhancing support for diversity e. g. for systemic communication and cooperation, reflecting and co-planning in teams etc. Thus, fixed, individual-related labelling in pedagogical practices as a prerequisite for support can be questioned. Keywords: Decategorization, support, inclusive education, school development 1 Zur bildungspolitischen Entwicklung - „Integration plus“ statt Inklusion Mit der UN-Behindertenrechtskonvention kommt das Schulsystem insgesamt nach einer Phase des Ignorierens unter Druck, für alle Schüler/ innen einen diskriminierungsfreien Zugang zu hochwertiger Inklusiver Bildung in allgemeinen Schulen mit angemessenen Vorkehrungen zu gewährleisten (vgl. UN 2006). Dass dies hier auf Schüler/ innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf bezogen wird, ist dem Umstand geschuldet, dass sie in bisherigen Konventionen nicht hinreichend berücksichtigt worden sind; es handelt sich jedoch keineswegs um ‚Sonderrechte‘ für eine ‚besondere Gruppe‘, sondern ist Ausdruck der Entwicklung von Menschenrechten als ‚living document‘ (vgl. Boban/ Hinz 2015, 17). Insofern ist die Perspektive dieses Textes - und der Frage der Dekategorisierung - keine sonder- oder behindertenpädagogische (vgl. Dederich 2015, 201), sondern eine pädagogische. VHN 1 | 2016 37 ANDREAS HINZ, ANDREAS KÖPFER Unterstützung durch Dekategorisierung FACH B E ITR AG Es kann nicht überraschen, dass das Bildungssystem in dieser Situation rekontextualisierend reagiert, also mit einer Umformung neuer Anforderungen im Sinne seiner bestehenden Strukturen, Prozesse und Logiken. Wie der Schulpädagoge Matthias von Saldern (2013, 11) treffend formuliert, bemüht sich Deutschland in der Umsetzung der Konvention um „Integration plus“, also mehr von dem Vorhandenen - und nicht um grundlegende Veränderungen mit einem menschenrechtlichen Ansatz als normative Basis. Zentral verbunden ist damit die Aufrechterhaltung kategorialer Systematiken und Semantiken, die, wie Reiser (1998, 50) formulierte, die Gefahr enthalten, die „Sonderschule im Westentaschenformat“ bei getrennt bleibender professioneller Zuständigkeit für unterschiedliche Gruppen von Schüler/ innen unverändert in der allgemeinen Schule zu etablieren und damit der Frage auszuweichen, wie denn angemessene - und damit immer individuell angemessene - Vorkehrungen entsprechend der Konvention aussehen müssten. Im Frühjahr 2015 machte das Verfahren der Staatenprüfung mehr als deutlich, wie wenig Deutschlands bisherige Bemühungen einer angemessenen Umsetzung der Konvention entsprechen (vgl. VN 2015). Offensichtlich wird der menschenrechtliche Ansatz bisher wenig zugrundegelegt. Nach einer Phase mit Tendenzen schlichter Umdefinition bestehender Strukturen in ‚inklusive‘, wie etwa bei der „Einzelinklusion“ (vgl. Hinz 2013, o. S.), dominieren strukturell orientierte Pläne, wie der Gemeinsame Unterricht ausgebaut werden kann - allerdings bei einer gleichzeitig konfliktminimierenden Bestandsgarantie für die meisten Förderschulformen und einem die Entwicklung verlangsamenden Elternwahlrecht, das keineswegs mit der Konvention in Übereinstimmung steht. Dabei werden vonseiten der Bildungsverwaltungen steigende ‚Inklusionsquoten‘ hervorgehoben, die jedoch zum einen real Integrationsquoten darstellen, zum anderen zeigen, dass diese höheren Anteile in einigen Bundesländern lediglich einer insgesamt steigenden Etikettierungsquote zuzurechnen sind und dass das Förderschulsystem nur in wenigen Bundesländern wirklich rückgebaut wird - und damit erklärt sich die Empfehlung des UN-Ausschusses zum Rückbau (vgl. VN 2015, 8). Teilweise richten Bundesländer im Grundschulbereich eine ‚sonderpädagogische Grundversorgung‘ ein, die der Entwicklung sonderpädagogischer Förderbedarfe entgegenwirken soll. Sie wird häufig als Schritt zur Inklusion und als Schritt in die Dekategorisierung bezeichnet, zielt mit ihrem geringen Umfang jedoch eher auf Prävention. Größeren Raum nehmen Prozesse der Dekategorisierung in Umsteuerungsplänen für Bundesländer ein, in denen eine pauschale Ressourcenzuweisung für die Förderbedarfe Lernen, Sprache und emotional-soziale Entwicklung vorgeschlagen wird (vgl. Klemm/ Preuss-Lausitz 2011; Preuss- Lausitz 2011). Dies kann einerseits als Schritt zu einer dekategorialen Entwicklung gesehen werden, andererseits verfestigen solche Vorstellungen die kategoriale Verortung der anderen Förderschwerpunkte und drohen sie zugleich aus dem Blickfeld zu drängen. Mit der cross-kategorialen Zusammenfassung der Schwerpunkte Lernen, emotional-soziale Entwicklung und Sprache wird jedoch letztlich nicht an der kategorialen Logik gerüttelt. Festzuhalten bleibt, dass Deutschland bisher auf die Herausforderung Inklusiver Bildung mit der Steigerung der Etikettierung von Schüler/ innen mit Förderbedarf zur Ausweisung von ,mehr Integration‘ reagiert hat und damit in beschränktem Maße auf De-Segregation, also einen Rückbau segregierter sonderpädagogischer Förderung zielt (vgl. Hinz 2013). Das Herzstück dieser Strategie ist ein weitgehendes Festhalten an tradierten Kategorien sonderpädagogischen Förderbedarfs, dessen stigmatisierende Folgen seit Jahrzehnten bekannt sind. VHN 1 | 2016 38 ANDREAS HINZ, ANDREAS KÖPFER Unterstützung durch Dekategorisierung FACH B E ITR AG 2 Kontroversen um Dekategorisierung Im Kontext Inklusiver Bildung ist mit dem prozessorientierten Konzept der Dekategorisierung also die Infragestellung von sonderpädagogischen, behinderungsspezifischen Begriffskategorien verbunden, die durch ihre personenbezogene Ausrichtung bzw. Etikettierung Exklusions- und Stigmatisierungsrisiken beinhalten. International werden derlei kategoriale sonderpädagogische Ansätze als ebenso diskriminierend wie sexistische oder rassistische kritisiert (vgl. Mittler 2000, 10). So ist ein wesentlicher Aspekt Inklusiver Pädagogik die Kritik an pauschal zuweisenden Klassifikationen und die Schaffung struktureller Bedingungen für die Wertschätzung von Verschiedenheit (vgl. Wocken 2011; Boban u. a. 2014). Entlang des Konzepts der Dekategorisierung hat sich eine fachliche Kontroverse entfacht, auf die an dieser Stelle nicht im Detail eingegangen, die aber partiell aufgenommen werden soll. Dekategorisierung bedeutet demnach keineswegs die Beseitigung, Ignorierung oder Nivellierung von Verschiedenheit und einer damit verbundenen pädagogischen Vernachlässigung des Förderbedarfes und der Fördermaßnahmen (vgl. Ahrbeck 2011; Dederich 2015, 203), wie es missverständlich als Konsequenz aus der Fachdebatte klingen mag; es geht auch nicht um eine „Flucht aus der Kategorie“ (Dederich 2015, 201), also einen non-kategorialen Zugang (vgl. Wocken 2015, 106f). Vielmehr zielt Dekategorisierung auf eine Reflexion und Transformation (sonder-)pädagogischer Kategorien, deren am Defizit ansetzender, unidirektionaler Förderungsfokus „blinde Flecken“ oder gar gegenteilige Effekte (vgl. Wocken 2007) produziert. Dies macht zugleich eine Transformation pädagogisch-organisatorischer Referenzkategorien unbedingt erforderlich. Begründungskontext der Kritik ist die terminologische Markierung und ein sich daran entlang organisierendes, unidirektionales Förderungssystem der Sonderpädagogik (vgl. Köpfer 2013, 242ff) - basierend auf einem tendenziell normorientierten, auf Förderung bedachten und kompensatorischen Verständnis, das Diversität nur pauschal und partiell abbildet. Es läuft hierdurch Gefahr, gesellschaftliche Pluralität in dichotomen, personenbezogenen Kategorien auszudrücken, deren (sonder-) pädagogische Wirkkraft sich stärker in einer Ressourcen zuweisenden Organisationsals in einer Unterstützungspraxis entfaltet (vgl. Hinz 2007, 92). Mit der terminologischen Überführung des sonderpädagogischen Förderbegriffs in einen breiter angelegten Unterstützungsbegriff hat z. B. die KMK erste Veränderungen signalisiert (vgl. KMK 2011), die allerdings immer noch in Form additiver, primär auf Schule ausgerichteter sonderpädagogischer Differenzkategorien präsentiert werden, die in sich höchst variabel sind, z. B. in regionaler oder diagnostisch-praktischer Hinsicht (vgl. Moser 2012). Sie laufen letztlich Gefahr, Ressourcen sichernde, jedoch pädagogisch irrelevante Containerkategorien - oder: behinderungspädagogische Kategorien (vgl. Hazibar/ Mecheril 2013) - zu werden, die in Zeiten postmoderner Lebenspfade anachronistisch anmuten, sind doch „differente Wissensformen, Lebensentwürfe, Handlungsmuster“ (Welsch 1991, 5) unumgängliche konstruktivistische Wegmarken zur Infragestellung der ‚Meta-Erzählung‘ adressatenbezogener Behinderungslabels (vgl. Mecheril/ Plößer 2009, 194). Personalisierende Konzepte wie z. B. Individualisierung oder Kooperatives Lernen, die eine Dekonstruktion von gruppenspezifisch aufgeladenen Kollektivweisungen beinhalten, sind eine Reaktion auf die Vielschichtigkeit heterogener Lernausgangslagen. Sie basieren auf der Annahme, dass - so Sturm (2013, 14) - „Differenzen nicht aufgrund von Dispositionen bestehen, die sich in verschiedenen Merkmalen verdichten, sondern in sozialen Interaktionen hergestellt und bearbeitet werden“. Dieser sozial-konstruktivistischen Auffassung kann Inklusion als prozessuales Konzept dienen, das VHN 1 | 2016 39 ANDREAS HINZ, ANDREAS KÖPFER Unterstützung durch Dekategorisierung FACH B E ITR AG sich auf systematische wie systemische Unterstützung ausrichtet mit dem Ziel, Benachteiligungen zu vermindern und Partizipation zu gewährleisten (vgl. Ainscow u. a. 2006). Im Zentrum stehen die Unterstützungsbedarfe von Systemen, um Be-Hinderungen im Sinne von Benachteiligungen diverser Personengruppen - die sich durch unterschiedliche Heterogenitätsmerkmale definieren oder denen markierende Merkmale aufoktroyiert wurden - durch physische, soziale und interaktionale Rahmenbedingungen (vgl. Wagner-Willi/ Sturm 2012) entgegenwirken zu können. Dekategorisierung kann also als Programm der möglichkeits- und unterstützungsorientierten Restrukturierung pädagogischer Kategorien angesehen werden, deren Resultat nicht die Auflösung von Kategorien per se ist, sondern deren teleologische Transformation, um determinierende, besondernde Markierungen zu vermeiden, die Etikettierungen und demzufolge Stigmatisierungsprozesse mit sich bringen können. 3 Unterstützungsbedarfe von Systemen als Voraussetzung zur systemischen Unterstützung von Lernenden Während Hans Wockens (2015) Fokus auf sozialpsychologische Phänomene innerhalb von Gruppenbildungen gerichtet war und Markus Dederich (2015) eine (sprach-)philosophische Grundlegung zu Dekategorisierung verfasst hat, entwickelt dieser Beitrag über Beispiele aus unterschiedlichen Kontexten einen systemischorganisationalen Zugang zur Dekategorisierung pädagogischer Förderkategorien. Ziel ist es, anhand von Lupenstellen aufzuzeigen, wie Dekategorisierung als teleologisches, d. h. auf eine veränderte Organisation kategorialer Prozesse abzielendes Konzept einen Beitrag zur Transformation organisationaler Strukturen und Praktiken leisten kann. Im Zentrum steht dabei ein Verständnis von Dekategorisierung, das den Unterstützungsbedarf des Systems ins Zentrum rückt (vgl. Hinz 2007), um der Vielfalt der Lernenden besser Rechnung tragen zu können. In einem dialektischen Sinne können durch die Reduktion organisational-formaler Kategorien und Zuweisungen folglich Pluralität und Diversität - und demzufolge mannigfaltige, inter- und intrapersonale Kategorien in Form von Heterogenitätsdimensionen - anerkannt und im Sinne eines Möglichkeitsraums für Entwicklung und Lernen (vgl. Feuser 2010) unterstützt werden. 3.1 Beispiel 1: Systemische Unterstützung von Lerngruppen in der Integrativen Grundschule Hamburg Hamburgs Integrative Grundschule im sozialen Brennpunkt der 1990er Jahre kann als ein erstes, widersprüchliches Beispiel für einen solchen Ansatz dienen (vgl. Hinz u. a. 1998). Dieses Konzept ergänzt die vorhandenen Integrationsinitiativen von Eltern durch eine Schulinitiative, die in sozialen Brennpunkten zu - damals integrativen, heute durchaus inklusiv zu nennenden - Entwicklungen beitragen soll. Hier werden Kinder mit vorhandenen oder vermutbaren Schwierigkeiten im Lernen, in der emotional-sozialen oder sprachlichen Entwicklung ohne formale Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs wohnortnah in diese Grundschule aufgenommen, denn sie hat sich durch Schulkonferenzbeschluss dazu verpflichtet, alle Kinder des Einzugsbereichs aufzunehmen und dafür eine pauschale personelle Zuweisung von Sonderpädagog/ innen und Erzieher/ innen erhalten. Begrenzt dekategorisierend ist dies insofern, als Ressourcen für die Bedarfe bereitgestellt werden, die in sozialen Brennpunkten massiv erwartet werden - und die Integrationsklassen mit damals als weniger problematisch wahrgenommener individueller Etikettierung ergänzen. Immerhin werden jedoch Grundschulen mit Integrationsklassen VHN 1 | 2016 40 ANDREAS HINZ, ANDREAS KÖPFER Unterstützung durch Dekategorisierung FACH B E ITR AG dazu ermuntert, eigene Konzepte als „integrative Schule“ zu entwickeln und die zugewiesenen Ressourcen eigenen Bedarfen entsprechend zu nutzen, was auch von einigen realisiert wird (vgl. Hinz 1998). Inkonsequent ist es zudem in der Tatsache, dass dieses Konzept lediglich, aber immerhin bis zur Mitte des vierten Schuljahrs geführt wird, weil dann die Frage der freien Schulformwahl brisant wird und in einem selektiven System Übergänge administrativ entsprechend kategorial geregelt werden. Folgerungen für pädagogische Praktiken Den Grundschulen stehen also multiprofessionelle pädagogische Teams zur Verfügung, die gemeinsam für die ganze Klasse zuständig sind und ihre Verantwortung nicht von vornherein auf verschiedene Teilgruppen beziehen können, denn diese Gruppen sind am Schulanfang nicht administrativ festgestellt worden. Ohne auf die Diskussion um Erfolg oder Misserfolg dieses Schulversuchs eingehen zu wollen (vgl. Hinz u. a. 1998), wird er hier unter dekategorisierenden Vorzeichen betrachtet. Sonderpädagog/ innen bilden idealtypisch mit den Grundschulkolleg/ innen der Parallelklassen ein Team, das gemeinsam für zwei Klassen zuständig ist. Am Ende des ersten Schuljahrs zeigt eine Befragung der Sonderpädagog/ innen des ältesten Jahrgangs, dass sie sich nicht etwa auf die Kinder konzentrieren, deren ‚besondere Bedarfe‘ sie schnell diagnostiziert haben, sondern dass die Gestaltung gemeinsamer Lernsituationen im Verhältnis von 80 zu 20 eine hohe Priorität gegenüber Einzel- und Kleingruppensituationen hat (vgl. Hinz u. a. 1998, 49). Angesichts tradierter Orientierungen wäre zu erwarten, dass sich mit der zunehmenden Heterogenität und der größeren Klarheit über Bedarfe der Kinder eine Extensivierung von Kooperation und eine tendenzielle Teilung der Zuständigkeit einstellen könnten. Dies ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr zeigt sich am Ende des vierten Schuljahrs eine Intensivierung der Kooperation der beteiligten Lehrkräfte; Sonderpädagog/ innen sind nun deutlich mehr in den Unterricht mit der ganzen Klasse oder Teilgruppen eingebunden als im ersten Schuljahr, Assistenzsituationen haben insgesamt deutlich zugunsten von Unterrichtssituationen abgenommen, dagegen haben Aktivitäten mit Kleingruppen oder einzelnen Kindern nur geringfügig zugenommen, sodass insgesamt weiterhin das Verhältnis zwischen der Gestaltung gemeinsamer Lernsituationen von 80 zu 20 gegenüber Einzel- und Kleingruppensituationen erhalten bleibt. Zudem bleibt der Anteil ‚spezieller Förderprogramme‘ für einzelne oder mehrere Kinder quantitativ nachrangig, wogegen Situationen des Unterrichts im Team mit flexiblen Tätigkeiten beider Partner/ innen massiv zugenommen haben. Daraus wird damals für die Spezifik sonderpädagogischer Arbeit geschlossen: „Primär sehen SonderpädagogInnen nicht ihre Funktion darin, ‚Defizite und Defekte‘ über Einzelhilfen kompensieren zu helfen - womit sie dem betreffenden Kind die Ursache seiner Schwierigkeiten zuschreiben würden -, sondern sie sehen ihre Aufgabe vor allem darin, einen Unterricht gestalten zu helfen, der allen Kindern für ihre Entwicklung förderlich ist.“ (Hinz 1999, 231) Sie legitimieren sich also primär, durch die Komplexität des Systems bedingt, als „zweite PädagogInnen“ mit spezifischem Erfahrungshintergrund und spezifischen Kompetenzen, die für sie teilweise schwer und nur in Relation zu grundschulpädagogischen Kompetenzen bestimmbar sind, und weniger als kategoriale „SpezialistInnen für bestimmte Kinder“ (vgl. Hinz 1999, 267ff). Gleichwohl sehen sie sich mitunter in die Rolle der Spezialist/ in für bestimmte Kinder gedrängt - und im Hamburger Schulversuch verlassen diese Kolleg/ innen das Feld, da sie diese Zuschreibung nicht für sich akzeptieren (ebd., 269). VHN 1 | 2016 41 ANDREAS HINZ, ANDREAS KÖPFER Unterstützung durch Dekategorisierung FACH B E ITR AG Zudem entwickeln sonderpädagogische Lehrkräfte unterschiedliche Profile ihrer Tätigkeit (vgl. ausführlich Hinz 1999, 232ff); lediglich in zwei Klassen im ersten Schuljahr und in einer Klasse im vierten Schuljahr kommt es dazu, dass sonderpädagogische Arbeit vor allem im separaten Raum mit einigen oder einzelnen Kindern stattfindet - und auch hier verlassen die Sonderpädagog/ innen jeweils am Ende des Schuljahrs Teams und Klassen (vgl. Hinz 1999, 250). Auch für sie lässt sich die Zuschreibung einer kategorialen Zuständigkeit für Kinder mit (angenommenem) sonderpädagogischem Förderbedarf nicht mit integrativen Vorstellungen zusammenbringen - ein handlungsleitendes Votum für eine gemeinsame Zuständigkeit der Teams für ganze Lerngruppen und eine flexible Unterstützung aller Kinder bei momentanen oder auch längerfristigen Schwierigkeiten. Über die Einschätzung ihrer Grundsituation geben die Sonderpädagog/ innen in Interviews Auskunft. Zur Intensität der Kooperation sprechen im ersten Schuljahr mehr als zwei Drittel und im vierten Schuljahr mehr als drei Viertel von einer groben bzw. intensiven gemeinsamen Planung. Und im Fazit am Ende des vierten Schuljahrs ziehen knapp zwei Drittel ein positives, ein Viertel ein gemischtes und ein knappes Zehntel ein negatives Fazit zu ihrer Arbeit; bei der Entwicklung der Kinder sowie der des Schulversuchs insgesamt gibt es kein negatives Votum (vgl. Hinz 1999, 274). Die Integrative Grundschule Hamburgs zeigt also, wie aktuell - und erst recht nun auf der Basis der rechtlichen Verpflichtung zur Inklusion - durch konzeptionelle und organisationale Gestaltung Möglichkeiten für einen systemischen Zugang mit multiprofessioneller Teamarbeit geschaffen werden können, die eine - hier auf bestimmte Bereiche begrenzte - dekategoriale Unterstützung ermöglichen. Und sie zeigt, dass dies von den Befragten auch als individualisierende - und nicht ignorierende - pädagogische Qualität eingefordert wird. 3.2 Beispiel 2: Unterrichtliche Unterstützung für Vielfalt an Schulen in New Brunswick Ein weiteres skizzenhaftes Beispiel für eine Praxis, die eine organisationale Reduktion kategorialer Zuweisungen beinhaltet, wird aus dem internationalen Kontext angeführt. Mit New Brunswick wird eine kanadische Provinz ins Zentrum gerückt, deren inklusive Unterstützungsstrukturen insbesondere in den Jahren nach PISA fachliche Aufmerksamkeit erlangten (vgl. Arbeitsgruppe Internationale Vergleichsstudie 2007; Hinz 2006; Stein 2011; Köpfer 2013 und 2014 a). Unterstützung bzw. „support“ - dies zeigte eine ethnografische Feldstudie (vgl. Köpfer 2013) - ist als zentrales Strukturmerkmal sowohl auf kommunikativempathischer als auch auf strukturell-organisatorischer Ebene verankert und bildet dabei einen tendenziell menschenrechtsorientierten Zugang zu Bildung und Erziehung innerhalb des Schulsystems ab. Die kategoriale Reduktion wird bereits in der Eingliedrigkeit der Schulsystemstruktur ersichtlich und führt sich in der schulorganisatorischen und unterrichtlichen Praxis fort. Der von Slee (2011) polemisch aufgeführten Formel: [Equity] = [Disabled Student] + [Additional Resources], welche die Normierungsfunktion der Pädagogik und die Kompensationsfunktion der Sonderpädagogik ausdrückt und einer additiv verstandenen Integrationslogik entspricht, wird an kanadischen Schulen der Provinz New Brunswick eine Unterrichtsorganisation entgegengestellt, die die Lehrperson im Zentrum der Unterstützung sieht, um in der Lage zu sein, allen Kindern gerecht zu werden (vgl. ausführlich Köpfer 2013) - durch entsprechende unterstützende Rollen wie zum Beispiel das „Methods & Resource Team“ (M&RT) (vgl. Porter/ AuCoin 2012), das proaktiv für didaktisch-methodische sowie koordinative Fragen bereitsteht, sogenannte „Teacher Assistants“ als unterrichtsbezogene Assistenzkräfte insbesondere für Kinder mit erhöhtem Unterstützungs- VHN 1 | 2016 42 ANDREAS HINZ, ANDREAS KÖPFER Unterstützung durch Dekategorisierung FACH B E ITR AG bedarf oder auch Student Intervention Worker (SIW) für verhaltensspezifische Fragen. Das zentrale Koordinationszentrum bildet dabei das M&RT: „Diese schulinterne Rolle stellt das Bindeglied zwischen Vorder- und Hinterbühne dar, zwischen unterrichtlichem Geschehen und koordinativen schulorganisatorischen Maßnahmen, und kann somit als Reflexionsfläche und Unterstützungsinstanz für die Lehrperson bezeichnet werden.“ (Köpfer 2014 a, 26f) Im Sinne einer Ausbalancierung von Anspruch und Unterstützung wird also der Heterogenität der Schüler/ innenschaft ein heterogen ausgestaltetes personelles Unterstützungssystem, welches um die Lehrperson kreiert wird, entgegengestellt (vgl. Köpfer 2013, 146ff), während - und dies ist kritisch anzumerken - das reziprok unterstützende Potenzial der Schüler/ innen nicht systematisch ausgeschöpft bzw. als Element des personellen Unterstützungssystems anerkannt wird (vgl. Köpfer 2014 b). Didaktische Implikationen Welche didaktischen Implikationen birgt der Verzicht auf eine ausdifferenzierte, kategorial organisierte Zuweisungspraxis? Welche Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen sind mit einer nonkategorialen, als Reflexionsfläche dienenden Unterstützungsrolle eines M&RT verbunden? Eine Rolle, die als systemimmanente und schulinterne Berufsrolle mit zusätzlicher didaktischer Qualifikation angelegt ist, führt zum einen dazu, dass die dichotomisierende Aufteilung von Kindern ‚mit‘ und ‚ohne‘ sonderpädagogischen Förderbedarf in der unterrichtlichen Praxis bezogen auf einen definierten Zuständigkeitsbereich der Professionellen obsolet wird. Inklusive Unterrichtsgestaltung wird demnach als Zuständigkeit der Lehrperson - und: der Schule (vgl. Laluvein 2010) - für alle Kinder verstanden, die in ihrem Lernen und ihrer Entwicklung begleitet werden sollen. Ergo wird versucht, einer defizitorientierten Selektionsperspektive eine potenzialorientierte Unterstützungsperspektive entgegenzustellen, die sich an der Begleitung einer ungewissen Entwicklung des Kindes festmacht: Was braucht die Lehrperson, um Kinder ganzheitlich und situationsbedingt in ihrem Lernen zu unterstützen? Das M&RT mit transmittierender Funktion zwischen unterrichtlicher Praxis und Schulorganisation ist dann in der Lage, (in-)direkte Unterstützung anzubieten, zum Beispiel durch „In-Class Support“, durch Forcierung der stufenbezogenen Kooperation, durch Bereitstellung von Materialien für längerfristig angelegte Projekte, durch die Koordination bedarfsspezifischer Fort- und Weiterbildung, durch Fallbesprechungen in Student-Services-Teams bezogen auf alle Kinder usw. Wenngleich sich auch die Unterrichtspraxis an Schulen in New Brunswick nicht einer auf Leistungsdruck und Qualifikation bezogenen Standardisierungstendenz innerhalb des Schulsystems erwehren kann und die Implementierung von M&RT nicht per se Effekte auf die bisweilen behavioristisch orientierte didaktische Gestaltung des Unterrichts hat, kann die vorgestellte personelle Unterstützungsrolle der M&RT dennoch als Exempel dienen, wie mittels einer dekategorisierten schulinternen Rolle der Versuch der Organisation flexibler Unterstützung aller Kinder in ihren Lernprozessen unternommen und auf pauschalzuweisende Etikettierungen verzichtet wird. 3.3 Beispiel 3: Index für Inklusion Der Index für Inklusion steht als prominentes Beispiel für ein dekategoriales Konzept von Unterstützung. Er grenzt sich ab von Leitideen, die implizit oder explizit zwei Gruppen konstruieren, etwa als Lernende mit oder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf, mit oder ohne Migrationshintergrund usw. Vielmehr greift er auf das Kernkonzept des Abbaus von VHN 1 | 2016 43 ANDREAS HINZ, ANDREAS KÖPFER Unterstützung durch Dekategorisierung FACH B E ITR AG „Barrieren für Lernen und Teilhabe“ (vgl. Boban/ Hinz 2003, 12) zurück, mit denen alle Menschen konfrontiert sind - und die sich, bedingt durch kulturell-habituelle Sozialisationserfahrungen, in Wechselwirkung zu sozialen Rahmenbedingungen individuell unterschiedlich akkumuliert haben. Es geht also nicht um eine Förderung für markierte Zielgruppen, seien es ‚Behinderte‘, ‚Mädchen‘, ‚Jungen‘, ‚Migranten‘, ‚Homosexuelle‘ oder ‚Rechtsradikale‘, also gesellschaftlich hergestellte ‚Problemgruppen‘, sondern darum zu reflektieren, mit welchen Barrieren jeder einzelne Mensch in einer Bildungseinrichtung konfrontiert ist - im Wissen um die Herstellung gesellschaftlicher ‚Problemgruppen‘. Weiter gilt es, Ressourcen in Form von Unterstützung für die Überwindung dieser Barrieren bereitzustellen - und damit sind vielfältige Mechanismen bezeichnet, die dazu beitragen, unterschiedlichen individuellen Bedarfen und Bedürfnissen besser zu entsprechen. Das können didaktische Veränderungen sein, Tutor/ innen-Systeme, andere Materialien, die Einbeziehung neuer professioneller Kompetenzen, anderer Akteur/ innen, die Entwicklung veränderter Strukturen und vieles andere mehr. All dies erfordert immer wieder eine genaue, auf die aktuelle Situation bezogene, gemeinsame Analyse der Situation - das Gegenteil des Nivellierens von Unterschieden, wie mitunter unterstellt wird. Ein Dilemma stellt sich dabei allerdings: Schlicht von ‚allen‘ zu sprechen, birgt die Gefahr eines „falschen Universalismus“ (vgl. bereits Prengel 1993), weil u.U. nicht ‚alle‘ im Bewusstsein und damit eben nicht alle sind; wie am Beginn dieses Beispiels Heterogenitätsdimensionen aufzuzählen, birgt dagegen die Gefahr, bestimmte zu betonen und andere damit aus dem Blick zu rücken (vgl. Hinz 2013, o. S.). Daher wird es darum gehen müssen, jeweils herauszuarbeiten, welche Heterogenitätsdimensionen in einer konkreten Situation bedeutsam sind. Der Index für Inklusion bietet somit bei klarer grundlegender Positionierung einen pragmatischen Zugang, sich dekategorial individuellen Bedürfnissen und Bedarfen reflexiv anzunähern und ihnen im Zuge inklusiver Entwicklungsprozesse besser entsprechen zu können. 4 Ausblick Anhand dreier Beispiele wurde herausgearbeitet, wie durch organisatorisch-konzeptionelle Dekategorisierung im Kontext inklusiver Transformationsprozesse Praktiken angestoßen wurden, die Bildungsräume für Bildung und Entwicklung aller Beteiligten - nicht nur der Schüler/ innen - eröffnen können. Werden Bildungsräume dabei als „Strukturierungen [verstanden, d. V.], die im gesellschaftlich geprägten Prozess der Wahrnehmung oder der Platzierung konstituiert, durch Regeln abgesichert und in Institutionen eingelagert werden“ (Löw 2006, 119), so bergen kategoriale Zuweisungen die Gefahr, Barrieren bzw. Behinderungen zu produzieren. Die Beispiele haben gezeigt, dass durch den Verzicht auf kategoriale Zuweisungen Räume der Kommunikation und Kooperation (an der Integrativen Grundschule in Hamburg), der didaktischen Unterstützungspraxis (durch M&R-Teams in New Brunswick) und der reflexiven Bearbeitung be-hindernder Strukturen, Kulturen und Praktiken (mittels des Index für Inklusion) geschaffen werden können. Diese stellen sich nicht automatisch ein, sondern machen ein Mehr an Aushandlung, Professionalisierung und letztlich bedarfsorientierter, indirekter Unterstützung erforderlich, bilden allerdings einen Möglichkeitsraum, um Behinderungen nicht als prädeterminierte Kategorie, sondern als situationale, interaktionistische und sich in reziprokem Verhältnis zu organisatorischen Rahmenbedingungen konstituierende Phänomene anzuerkennen und zu bearbeiten. Dies setzt allerdings die Möglichkeit der Raumaneignung für alle beteiligten Personen (ohne Segregation VHN 1 | 2016 44 ANDREAS HINZ, ANDREAS KÖPFER Unterstützung durch Dekategorisierung FACH B E ITR AG ausgewählter Förderschwerpunkte) voraus, ergo ein Im-Feld-Sein, um „sozialen Tausch“ (vgl. Ziemen 2009, 96) zu gewährleisten. Raumtheoretisch könnte dies angelehnt an das theatralische Bild der Vorder- und Hinterbühne von Goffman (2010, 100ff) illustriert werden - allerdings anders als bei Dederich (2015, 204) als konstruktiv konnotiertes Bild: Während die Vorderbühne die de-kategoriale pädagogische Praxis darstellt, zum Beispiel den inklusiven Unterricht, in dem mittels Individualisierung, Differenzierung und Kooperation individuelle und miteinander sozial vernetzte Lern- und Entwicklungspfade von Schüler/ innen angeregt werden, besteht ein bedarfsorientierter und -spezifischer, sich auf unterschiedliche Dimensionen von Heterogenität beziehender Zugang zu Unterstützung auf der Hinterbühne, der reflexiv ermittelt, situational kontaktiert und flexibel angelegt wird - und in diesem Sinne wäre eine innerschulische Unterstützung ‚de-spezialisiert‘, indem sie ihren Fokus deutlich über Fragen von Be-Hinderung erweitert (vgl. Hinz 2009). Eine notwendige Struktur für Vielfalt würde demnach also nicht, wie derzeit bildungspolitisch intendiert, als Beibehaltung bestehender Bildungsräume bei gleichzeitigen integrativen Maßnahmen entlang tradierter Orientierung an bestimmten personenbezogenen Merkmalen verstanden werden, die zu Klassifizierungen und Ressourcierungen führen. Mittels eines auf Unterstützung abzielenden Verständnisses von Dekategorisierung könnten vielmehr inklusive Transformationsprozesse angestoßen werden, die nicht einzelnen, vormals segregierten Personengruppen sukzessive den Zugang zu Bildungsorganisationen in Aussicht stellen, sondern - aus gegenüberliegender Perspektive - den in Bildungsorganisationen tätigen Personen (z. B. pädagogischem Personal, Schuladministration usw., aber auch Schüler/ innen) Zugang zu Unterstützung eröffnen, um der Heterogenität der Schüler/ innenschaft gerechter zu werden. Die zur Strukturierung und Unterstützung des Feldes/ der Hinterbühne dienenden repräsentativen Kategorien leiten sich dabei nicht von personenbezogen-organisationalen Klassifikationen, sondern von den je heterogenen Merkmalen der Rahmenbedingungen des Feldes ab. Damit stellt Dekategorisierung eine kontinuierliche Reflexionsaufgabe von multiprofessionellen Teams mit einer gemeinsamen Zuständigkeit für heterogene Lerngruppen dar, die einerseits gesellschaftlich zugeschriebene Kategorien nicht aus dem Blick verliert und auf der Hinterbühne thematisiert, aber sie (selbst-) kritisch im Sinne der Konstruktion von ‚Otherness‘ auf der Vorderbühne „durchlöchert“ (vgl. Mecheril u. a. 2010). Über die Verwendung von Kategorien im Dialog zu sein und zu bleiben, stellt eine wichtige professionelle pädagogische Qualität dar (vgl. Boban u. a. 2014), denn „die Einteilung von Menschen in Kategorien und das Nutzen gruppenspezifischer Strategien hält vom konkreten Beobachten ab und beeinträchtigt die Interaktion der Individuen“, so der Choreograph Royston Maldoom in seinen Reflexionen zum „Community Dance“ (2010, 180). Eine sinnvolle Strategie könnte sein, Kategorien auf Kontexte statt auf Personen zu beziehen, denn so kann auch mit dem Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Stigmatisierung von Gruppen, wie sie etwa in der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (vgl. Heitmeyer 2002 - 2011) deutlich wird, und der Notwendigkeit dekategorialer pädagogischer Unterstützungsprozesse, die sich eben nur auf Individuen beziehen können, produktiv umgegangen werden. Letztlich kann Unterstützung konsequent nur dekategorial gestaltet werden, wenn sie inklusiv der Gefahr von Diskriminierung entgehen und angemessene individuelle Vorkehrungen entsprechend der UN-Konvention bereitstellen will - dabei ist ein Kategorien transzendierender, „kritischer, reflexiver und behutsamer Umgang mit Sprache“ (Dederich 2015, 204; vgl. Boban u. a. 2014) zentral. VHN 1 | 2016 45 ANDREAS HINZ, ANDREAS KÖPFER Unterstützung durch Dekategorisierung FACH B E ITR AG Literatur Ahrbeck, B. (2011): Der Umgang mit Behinderung: Besonderheit und Vielfalt, Gleichheit und Differenz. Stuttgart: Kohlhammer Ainscow, M.; Booth, T.; Dyson, A. (2006): Improving Schools, Developing Inclusion. Abingdon: Routledge Allan, J. (2004): Deterritorializations: Putting postmodernism to work on teacher education and inclusion. In: Educational Philosophy and Theory 36, 417 -432. http: / / dx.doi.org/ 10.1111/ j.14 69-5812.2004.00078.x Arbeitsgruppe Internationale Vergleichsstudie (Hrsg.) 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