eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 85/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2016
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Rezension: Jäger, Lorenz (2014): Beschädigte Schönheit. Eine Ästhetik des Handicaps

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2016
Christian Mürner
Anders als in der Antike wurden im Barock die Gegensätze zwischen dem geraden Gehen und dem Hinken, dem schönen Aussehen und der Hässlichkeit nicht mehr moralisch diskreditiert, sondern literarisch ausgestaltet. Vor allem kunstvolle Gedichte widmeten sich der „schönen Hinkenden“ („belle boiteuse“, „bella zoppa“). Giovanni Leone Sempronio (1603¿–1646) gab das Leitbild vor: „Bewege, hübsche Hinkende, deine Füße, sie sind nicht gleich, und an Schönheit ist ihnen kein anderer Fuß gleich¿…“. In dieser marinistischen und frühbarocken Lyrik war, schreibt Lorenz -Jäger, Germanist und Redakteur im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, die „erste Anerkennung der Behinderung entstanden“.
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VHN 1 | 2016 88 REZE NSION E N Jäger, Lorenz (2014): Beschädigte Schönheit. Eine Ästhetik des Handicaps Springe: Zu Klampen. 127 S., € 16,- Anders als in der Antike wurden im Barock die Gegensätze zwischen dem geraden Gehen und dem Hinken, dem schönen Aussehen und der Hässlichkeit nicht mehr moralisch diskreditiert, sondern literarisch ausgestaltet. Vor allem kunstvolle Gedichte widmeten sich der „schönen Hinkenden“ („belle boiteuse“, „bella zoppa“). Giovanni Leone Sempronio (1603 -1646) gab das Leitbild vor: „Bewege, hübsche Hinkende, deine Füße, sie sind nicht gleich, und an Schönheit ist ihnen kein anderer Fuß gleich …“. In dieser marinistischen und frühbarocken Lyrik war, schreibt Lorenz Jäger, Germanist und Redakteur im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, die „erste Anerkennung der Behinderung entstanden“. Jägers kluger und komprimierter Essay zur „Ästhetik des Handicaps“ verdeutlicht namentlich die Rolle der Frauen. Zunächst erfuhr Louise de La Vallière (1644 -1710), die Mätresse Ludwigs XIV., mit ihrem leichten Hinken am Hof eher Bewunderung als Spott. Nach Jäger gibt es für hinkende Männer, auch wenn man Lord Byron oder Talleyrand berücksichtigt, kein Vorbild von solch dominantem Einfluss wie Louise de La Vallière. Ihr folgend bekommen die in den Gedichten noch weitgehend anonymen hinkenden Heldinnen in den Romanen und Erzählungen des 19. Jahrhunderts, bei Balzac, Zola oder Benito Pérez Galdós, einen Namen: Josephine von Temninck, Gervaise Macquart und Tristana. Damit erlangen sie in der Fiktion eine Biografie und kommen selbst zu Wort. „Es ist einfach unmöglich“, scherzt Tristana, die ein Bein aufgrund einer Krankheit verlor, „dem Gehen mit Krücken einen Hauch von Eleganz zu verleihen. […] Mir ist es gleich. Was bleibt mir übrig, als mich damit abzufinden.“ Tristana findet sich nicht nur damit ab, sondern sie „durchläuft eine Verwandlung“, wie Jäger kommentiert. Tristana spielt Klavier und bäckt wunderbare Kuchen. Galdos’ Roman wurde von Louis Buñuel mit surrealistischen und erotischen Akzenten verfilmt. Jäger präsentiert diverse Ausschnitte und Charakterisierungen von literarischen hinkenden Figuren anhand der Originaltexte (meistens mit Übersetzung), von Heimito von Doderer über James Joyce bis zu Arno Schmidt u. a. Es findet sich zudem ein „Exkurs über das Schielen“ und ein Kapitel zu den „ästhetischen Theorien“ von Friedrich Schlegel und Victor Hugo. Im Schlusskapitel nimmt Jäger Bezug auf den öffentlichen Umgang mit Behinderung im Zusammenhang mit den Londoner Paralympics von 2012. Er erkennt einen „Blickwechsel“: Antike und Barock hatten einen Blick von außen auf die Behinderung, die Antike in Form einer „Negativ-Moralisierung“, der Barock in Form einer „dekadenten Positivierung“. In der Gegenwart dominiere nun die Binnenperspektive, die sich, notiert Jäger in seinem prägnanten Fazit, „mit der Geste des ‚Ich bin es selbst‘ beschreiben ließe“. Er verweist auf die Selbstinszenierung des behinderten Models Aimee Mullins, die in der Ästhetisierung ihrer Prothesen zugleich mehr Autonomie zum Ausdruck bringt. Doch Frauen bevorzugen „kosmetisch diskretere Lösungen“ als Männer, vor allem behinderte Sportler, die ihre Prothesen „offensiv sichtbar“ machen. Dr. Christian Mürner D-22529 Hamburg DOI 10.2378/ vhn2016.art09d