Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2016
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Fachbeitrag: „Paula hat unsere Institution an die Grenze gebracht.“
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Stefania Calabrese
Eva Büschi
Die Anzahl der Menschen mit schweren Beeinträchtigungen und herausfordernden Verhaltensweisen, die in sozialen Institutionen leben, ist in letzter Zeit gestiegen. Unter herausfordernden Verhaltensweisen werden Fremd- und Selbstverletzungen sowie Sachbeschädigungen verstanden. Im vorliegenden Beitrag wird auf institutionelle Grenzen fokussiert, die sich als Folge herausfordernder Verhaltensweisen zeigen. Relevant für das Erreichen dieser Grenzen sind – einzeln oder kumuliert – drei Einflussfaktoren: a) Die faktische oder wahrgenommene Zunahme der Intensität und Häufigkeit herausfordernder Verhaltensweisen; b) die erhöhte Belastung der Mitarbeitenden; c) starre, unflexible und inadäquate Strukturen. Die Auswirkungen von institutionellen Grenzen zeigen sich jedoch oft bloß auf individuumsbezogener Ebene: Klientinnen und Klienten allein müssen die Konsequenzen ihres Verhaltens tragen, die häufig aus Einweisungen in psychiatrische Kliniken, Umplatzierungen und Institutionswechseln bestehen.
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129 VHN, 85. Jg., S. 129 -139 (2016) DOI 10.2378/ vhn2016.art14d © Ernst Reinhardt Verlag „Paula hat unsere Institution an die Grenze gebracht.“ Institutionelle Grenzen als Folge herausfordernder Verhaltensweisen von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen Stefania Calabrese, Eva Büschi Hochschule für Soziale Arbeit FHNW, Olten Zusammenfassung: Die Anzahl der Menschen mit schweren Beeinträchtigungen und herausfordernden Verhaltensweisen, die in sozialen Institutionen leben, ist in letzter Zeit gestiegen. Unter herausfordernden Verhaltensweisen werden Fremd- und Selbstverletzungen sowie Sachbeschädigungen verstanden. Im vorliegenden Beitrag wird auf institutionelle Grenzen fokussiert, die sich als Folge herausfordernder Verhaltensweisen zeigen. Relevant für das Erreichen dieser Grenzen sind - einzeln oder kumuliert - drei Einflussfaktoren: a) Die faktische oder wahrgenommene Zunahme der Intensität und Häufigkeit herausfordernder Verhaltensweisen; b) die erhöhte Belastung der Mitarbeitenden; c) starre, unflexible und inadäquate Strukturen. Die Auswirkungen von institutionellen Grenzen zeigen sich jedoch oft bloß auf individuumsbezogener Ebene: Klientinnen und Klienten allein müssen die Konsequenzen ihres Verhaltens tragen, die häufig aus Einweisungen in psychiatrische Kliniken, Umplatzierungen und Institutionswechseln bestehen. Schlüsselbegriffe: Herausfordernde Verhaltensweisen, schwere Beeinträchtigung, institutionelle Grenze “Paula has shown us the limits of our organization.” Organizational Limits - A Consequence of Challenging Behaviour Shown by Adults With Profound Disabilities Summary: The amount of adult persons with profound disabilities showing challenging behaviour has increased within the past few years. Challenging behaviour is defined here as aggressive and/ or self-destructive behaviour and/ or criminal damage to property. In this article we focus on the organizational limits shown as a consequence of challenging behaviour. As a result of our research project we found three factors, which are relevant in order for a social organization to reach its limits. They consist of a) seemingly or actually intensified or more frequently shown challenging behaviour and/ or b) increasingly stressed staff members and/ or c) rigid, inflexible and inadequate organizational structures. The consequences, however, are mostly individualized: The clients - and the clients only - have to bear the immediate consequences of their behaviour, which often consist in confinements in psychiatric hospitals and relocations (within or outside the organization). Keywords: Challenging behaviour, profound disability, organizational limit FACH B E ITR AG 1 Ausgangslage Die Anzahl von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und speziell mit herausfordernden Verhaltensweisen ist in den letzten Jahren gestiegen (Mühl 2014). Die Hintergründe der Zunahme sind nicht klar ersichtlich. Zum einen kann hierfür eine erhöhte Sensibilität der beobachtenden Personen verantwortlich sein, zum anderen kann es aber auch sein, VHN 2 | 2016 130 STEFANIA CALABRESE, EVA BÜSCHI Herausforderndes Verhalten und institutionelle Grenzen FACH B E ITR AG dass die Beeinträchtigungsformen aufgrund diverser Komorbiditäten immer komplexer werden und daher zunehmend herausfordernde Verhaltensweisen nach sich ziehen. Diverse Statistiken belegen, dass zwischen 10 % und 52 % der Menschen mit leichten, mittleren und schweren kognitiven Beeinträchtigungen herausfordernde Verhaltensweisen zeigen (Cooper u. a. 2009; Allen u. a. 2007; Crocker u. a. 2006). Zudem besteht eine deutliche Korrelation zwischen der Schwere der Beeinträchtigung und solchen Verhaltensweisen, d. h. Menschen mit schweren Beeinträchtigungen zeigen tendenziell öfter herausfordernde Verhaltensweisen als Menschen mit leichteren Beeinträchtigungen und stellen daher Institutionen der Behindertenhilfe vor besondere Schwierigkeiten (Schanze 2014; Mühl 2001). Eine schwere Beeinträchtigung impliziert eine Kumulation von unterschiedlichen Beeinträchtigungen sowohl auf kognitiver als auch auf körperlicher Ebene und wirkt sich besonders auf die kommunikative Ausdrucks- und Mitteilungsfähigkeit aus (Fornefeld 2003). Unter herausfordernden Verhaltensweisen werden fremd- und selbstverletzendes Verhalten sowie Sachbeschädigung verstanden. Emerson u. a. (1987) definieren sie folgendermaßen: „Hochgradig herausforderndes Verhalten ist Verhalten von solcher Intensität, Häufigkeit und Dauer, dass die körperliche Sicherheit der Person selbst und von anderen schwerwiegend gefährdet ist […]“ (zit. n. Hennicke 2003, 71). Anders als häufig verwendete Begriffe wie ‚Verhaltensstörungen‘ oder ,Verhaltensauffälligkeiten‘ verweist diese Bezeichnung auf eine doppelte Herausforderung: Einerseits für die Person selber, andererseits für die soziale und institutionelle Umwelt (ebd.). Herausfordernde Verhaltensweisen entstehen immer im Wechselspiel zwischen Individuum und Umwelt. Sie sind multifaktoriell bedingt, und neben der Person ist auch der Kontext, in dem sie lebt, sehr bedeutsam für deren Entstehung. Irrtümlicherweise wird aber oft davon ausgegangen, dass sie ausschließlich personeninhärent bedingt sind, kontextabhängige Faktoren werden nicht selten außer Acht gelassen (Calabrese 2014). Im vorliegenden Beitrag wird auf herausfordernde Verhaltensweisen von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen fokussiert und insbesondere auf institutionelle Grenzen, welche sich in der Folge zeigen, näher eingegangen. 1.1 Herausfordernde Verhaltensweisen als Schwierigkeit für die Institution Menschen mit schweren Beeinträchtigungen und herausfordernden Verhaltensweisen stellen Institutionen der Behindertenhilfe oft vor große Schwierigkeiten. Die Institutionen sind gefordert, dieser zunehmend größer werdenden Personengruppe adäquate und pädagogisch orientierte Lebensräume zur Verfügung zu stellen, die eine Bildung und Weiterentwicklung ihrer Persönlichkeit und Kompetenzen ermöglichen (Bradl 1999). Zudem ist es ihre Aufgabe, den Mitarbeitenden beratend und unterstützend zur Seite zu stehen, um drohende Überforderungen und Belastungen im Umgang mit der Klientel zu reduzieren bzw. zu vermeiden (ebd.). Diese Doppelaufgabe zu bewältigen, ist für Institutionen für Menschen mit Beeinträchtigungen hoch anspruchsvoll. Zusätzlicher Druck auf die Institutionen entsteht durch die knappen finanziellen Mittel und die laufend notwendige Legitimierung bei Mehrausgaben, die insbesondere in der Begleitung von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen und herausfordernden Verhaltensweisen notwendig sind. Denn einerseits erfordert diese Begleitung einen erhöhten Personalschlüssel, damit Einzelbegleitungen (sogenannte 1 : 1-Sequenzen) gewährleistet werden können, andererseits bedarf es spezifischer Aus- und Weiterbildungen für das Personal, damit adäquate pädagogische Settings gestaltet werden können. Menschen mit schweren Beeinträchtigungen und herausfordernden Verhaltensweisen stellen somit Institutionen häufig vor große Schwie- VHN 2 | 2016 131 STEFANIA CALABRESE, EVA BÜSCHI Herausforderndes Verhalten und institutionelle Grenzen FACH B E ITR AG rigkeiten, die sich auf unterschiedlichen Ebenen manifestieren. Die fokussierte Klientel stellt dabei oft den auslösenden Faktor dar, grundsätzlich sind jedoch die Ursachen von solchen Heraus- und Überforderungen in den institutionellen Bedingungen (also kontextuell) zu suchen. 1.2 Forschungsmangel Da es nur wenige Studien gibt, die sich auf Menschen mit schweren Beeinträchtigungen beziehen, werden zur Erörterung des Forschungsstandes auch Studien berücksichtigt, die nicht explizit zwischen Menschen mit leichten, mittleren oder schweren kognitiven Beeinträchtigungen unterscheiden, sondern die allgemein Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen fokussieren, die in der Fachliteratur oft noch unter der Bezeichnung ‚geistig behinderte Menschen‘ zu finden sind. Für den englischsprachigen Raum nennen Došen und Day (2001) eine Prävalenz von Verhaltensauffälligkeiten von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung von zwischen 20 % und 44 %. Dabei treten solche Verhaltensweisen vor allem bei schwereren Beeinträchtigungen auf und können bemerkenswert persistent sein, wobei fremdverletzendes Verhalten am längsten andauert. Die Evidenz zeigt, dass diese Verhaltensweisen multifaktoriell bedingt sind und mit psychologischen, neurobiologischen, neuropsychischen und soziokommunikativen Faktoren zusammenhängen. Problematisch sei zudem, dass es bei Menschen mit Beeinträchtigungen schwerfalle, zwischen Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Krankheiten zu unterscheiden, weshalb für präzisere Diagnosen eine breitere Taxonomie nötig sei. Die höheren Prävalenzraten von psychischen Auffälligkeiten bei Menschen mit Beeinträchtigungen sind laut den Autoren verknüpft mit neurologischen, sozialen, psychologischen und persönlichen Risikofaktoren, welche unter anderem kognitive Störungen, organische Gehirnstörungen, Kommunikationsprobleme, physische Einschränkungen, familiäre Psychopathologie, spezifische Chromosomveränderungen und psychologische Faktoren beinhalten. Einzeln oder in Kombination erhöhen diese Faktoren die Vulnerabilität der Betroffenen für psychische Auffälligkeiten oder herausfordernde Verhaltensweisen (ebd.). Hemmings (2007) betont, dass die Zusammenhänge zwischen kognitiven Beeinträchtigungen, psychiatrischen Diagnosen und herausfordernden Verhaltensweisen komplex sind. Bis vor kurzem sei die Bedeutung von psychischen Störungen bei Menschen mit Beeinträchtigungen generell übersehen worden. Seit einiger Zeit werden nun psychische Symptome auch bei Menschen mit Beeinträchtigungen als solche wahrgenommen. Dennoch seien nicht alle herausfordernden Verhaltensweisen das Resultat einer psychischen Störung. Individuelle Verhaltensweisen haben zu viele verschiedene Ursachen, als dass man sie einfach einer spezifischen Störung zuweisen könnte. Somit gibt es laut Hemmings keine simplen Zusammenhänge zwischen einer spezifischen Verhaltensweise und einer spezifischen Störung. Problematisch sei, dass bisher unbehandelte psychische Störungen nach wie vor bei einigen herausfordernden Verhaltensweisen eine bedeutende Rolle spielten. Hemmings stellt zudem fest, dass die Forschung in diesem Bereich durch wenig konsistente Begriffsdefinitionen gehemmt werde und bisherige große Studien zwar eine Verbindung zwischen psychischen Symptomen und herausfordernden Verhaltensweisen gefunden haben, sich jedoch hinsichtlich der Muster unterscheiden, in denen die Verbindung geschieht. Er schlägt daher vor, sich bei künftigen Studien zunächst auf die symptomatische Ebene zu konzentrieren, um die Problematik der Klassifizierung zu umgehen. Zudem sollte künftige Forschung auch prospektive, deskriptive und Interventionsstudien umfassen, da davon auszugehen sei, dass herausfordernde Verhaltensweisen üblicher- VHN 2 | 2016 132 STEFANIA CALABRESE, EVA BÜSCHI Herausforderndes Verhalten und institutionelle Grenzen FACH B E ITR AG weise multifaktorielle Phänomene seien, die einen integrierten, multimodalen Ansatz bedingten (ebd.). Im deutschsprachigen Raum präsentieren Sarimski und Steinhausen (2008) den aktuellen Stand der Forschung bezüglich psychischer Störungen und Beeinträchtigungen. Dabei fällt auf, dass es nur wenige deutschsprachige Studien dazu gibt. Sarimski und Steinhausen verweisen denn auch auf die Ergebnisse von Thompson und Itawa (2001) aus den USA, nach denen herausfordernde Verhaltensweisen „durch positive oder negative soziale Verstärkungsprozesse aufrechterhalten“ werden (Thompson/ Itawa zit. nach Sarimski/ Steinhausen 2008, 21). Dauerhafte Verhaltensänderungen können (zumindest bei Kindern) nur erreicht werden, wenn verhaltensreduzierende Konsequenzen kombiniert werden mit der „systematischen Anleitung zu Verhaltensalternativen (…), die das problematische Verhalten ersetzen können“ (ebd.). Zudem wurde herausgefunden, dass Wutanfälle und fremdschädigende Verhaltensweisen „häufig eher Kontrollverluste [sind] als vorsätzlich eingesetzte Verhaltensmuster“ (ebd.). Sie widerspiegeln v. a. bei Kindern oder Jugendlichen mit schweren Beeinträchtigungen deren Überforderung bezüglich einer sozialen Anforderung und zeugen von der Schwierigkeit, Emotionen zu regulieren. Entstehungsbedingungen für herausfordernde Verhaltensweisen können in „individuellen oder syndromspezifischen Dispositionen (…), biografisch bedingten intrapsychischen Verarbeitungsschemata (…) oder akuten psychischen Erkrankungen“ liegen (ebd., 21f). Entgegen dieser stark individualpsychologisch geprägten Sichtweise weist Wüllenweber (2001) darauf hin, dass im deutschsprachigen Raum in vergangenen Jahren „Verhaltensprobleme von geistig behinderten Menschen in erster Linie als Ausdruck bzw. Merkmal einer Hirnschädigung“ betrachtet worden seien, während heute eine „psychosozial-pädagogische Sichtweise“ vorherrsche (ebd., 105). Wüllenweber betont, mittlerweile bestehe die Gefahr einer Individualisierung der Problematik, und zudem sei „der Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten zu einer Schlüsselproblematik der Behindertenhilfe“ geworden (ebd., 106). Er kritisiert jedoch, dass „Erklärungsansätze, die die augenblickliche Betreuungssituation und Lebenslage in den Mittelpunkt stellen (…), nur unzureichend bearbeitet“ worden seien (ebd., 106f) und somit eine diesbezügliche Forschung weitgehend fehle. Auch Jantzen (1999) moniert, dass im Bereich der Forschung und Theorie der Fokus lange einerseits auf die Debatte „dualer Diagnosen geistiger Behinderung“ und andererseits auf die Thematik der sexuellen Gewalt gerichtet worden sei. Er rief vor dem Hintergrund einer Diskussion um Subjektorientierung und Selbstverwirklichung zu einer Neuorientierung auf, wonach Verhaltensweisen nicht mehr „als defektive Besonderheiten zu betrachten [sind], welche aus der Existenz von Organschäden unmittelbar resultieren“ (ebd., 47). Michalek (2000, 8) betont, dass bisher „keine einzige systematische Untersuchung vorliegt, die Art und Ausmass aggressiver Konflikte in Wohneinrichtungen belegen würde“. Sie entwirft in ihrer Studie eine Typologie der Konflikte in Wohnstätten und hält fünf wichtige Einflussfaktoren fest, welche Ausmaß und Prävalenz von Konflikten bestimmen: 1. Individuelle Vorerfahrungen von Klientinnen und Klienten mit familiärer Gewalt; 2. Lebensgeschichtliche Aspekte (frühe, dauernde Hospitalisierung); 3. Sozialisolierende Stellung im institutionsinternen Gruppengefüge; 4. Institutionsinterner Umgang mit ‚Problemverhalten‘; 5. Subjektive Sensibilität für Konflikte und Gewalt im Wohnalltag. Zudem weist sie auf zwei Gefahren hin: Einerseits, dass institutionalisiert lebende Klientinnen und Klienten keine Möglichkeiten haben, auf Gewalterfahrungen und aggressive Konflikte in ihrem Leben aufmerksam zu machen, und andererseits, dass das Erkennen einer Gewaltsituation maßgeb- VHN 2 | 2016 133 STEFANIA CALABRESE, EVA BÜSCHI Herausforderndes Verhalten und institutionelle Grenzen FACH B E ITR AG lich von der Sensibilität der Mitarbeitenden abhängt und diese hinsichtlich Gewalt bei einer Verschlechterung der Institutionsbedingungen desensibilisiert werden können (ebd.). In der Schweiz ist der Forschungsstand zum Thema ‚herausfordernde Verhaltensweisen von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen‘ gering. Es gab in den letzten Jahren keine systematischen Studien zur Thematik von herausfordernden Verhaltensweisen von erwachsenen Menschen mit einer Beeinträchtigung. Entsprechend gibt es auch keine Angaben zur Prävalenz. Es kann einzig festgestellt werden, dass laut Bundesamt für Statistik (BFS 2012) im Jahr 2010 insgesamt 25’363 Personen über 20 Jahre mit einer Beeinträchtigung in einer der 551 bestehenden sozialen Institutionen der Behindertenhilfe lebten. Bekannt ist zudem, dass 52 % der Menschen mit einer schweren Beeinträchtigung Frauen und 48 % Männer sind (ebd.). 2,4 % der Personen in Institutionen werden unter dem Begriff ‚Eingliederungsprobleme‘ geführt, was bedeutet, dass sie aufgrund von sogenannten ‚Verhaltensstörungen‘ auf institutionelle Unterstützung angewiesen sind (ebd.). 2 Forschungsprojekt und Methode Im nachfolgend vorgestellten Forschungsprojekt wurden insgesamt zehn Erwachsene mit schweren Beeinträchtigungen und herausfordernden Verhaltensweisen untersucht, die in spezialisierten sozialen Einrichtungen leben und einer Arbeit in Form von Beschäftigung oder Tagesgestaltung nachgehen 1 . Es wurden Personen berücksichtigt, die von ihrer Institution als ‚schwerbeeinträchtigt mit herausfordernden Verhaltensweisen‘ eingestuft wurden. Die Auswahl der zu untersuchenden Personen wurde bewusst den Institutionen überlassen, um dadurch ihre Definition von ‚herausfordernden Verhaltensweisen‘ mitanalysieren zu können. Um eine möglichst große Heterogenität des Samples zu gewährleisten, wurden Personen aus unterschiedlichen Institutionen in der Deutschschweiz gesucht, die sich bezüglich Geschlecht, Alter, Nationalität, Aufenthaltsdauer in der Institution sowie Art der herausfordernden Verhaltensweisen unterschieden. In einem ersten Schritt wurde die relevante Fachliteratur recherchiert und der aktuelle Forschungsstand aufgearbeitet. Gleichzeitig wurden geeignete Institutionen rekrutiert und die erforderlichen Erhebungsinstrumente entwickelt (Interviewleitfaden und Analyseraster für die Aktenanalyse). Als Zweites wurde der Fokus auf den Wohnbereich der Institution gerichtet 2 . Dabei wurden die Bezugspersonen befragt, welche die zehn ausgewählten Probandinnen und Probanden im Wohnbereich begleiten (14 Interviews). Zudem wurden die dazu gehörenden zehn Heimleitenden bzw. Bereichsleitenden Wohnen befragt (10 Interviews). Beide Befragungen wurden als leitfadengestützte, problemzentrierte Interviews mit Professionellen durchgeführt (Witzel 1985). Dabei interessierten besonders die Entstehungsbedingungen von herausfordernden Verhaltensweisen, der Umgang damit und deren Auswirkungen. Die Interviews dauerten zwischen 60 und 120 Minuten und wurden wörtlich transkribiert. In einem dritten Schritt wurden die in den Institutionen zu den zehn Fällen bestehenden Akten gesammelt. Viertens erfolgte die Auswertung aller Interviewdaten in Anlehnung an die Grounded Theory (Glaser/ Strauss 2008). Zudem wurden die Akten inhaltsanalytisch ausgewertet (Mayring 2008). Im fünften und letzten Schritt wurden die Forschungsergebnisse schließlich in einem Forschungsbericht zusammengefasst. 3 Ausgewählte Ergebnisse: Institutionelle Grenzen Um die institutionelle Perspektive eingehender zu beleuchten und Probleme aufzugreifen, die für Institutionen der Behindertenhilfe oft schwer zu bewältigen sind, wird hier der Fokus VHN 2 | 2016 134 STEFANIA CALABRESE, EVA BÜSCHI Herausforderndes Verhalten und institutionelle Grenzen FACH B E ITR AG auf die institutionellen Grenzen gelegt, die im Zusammenhang mit herausfordernden Verhaltensweisen von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen (ent-)stehen. Institutionen der Behindertenhilfe stehen oft vor der Aufgabe, Menschen mit schweren Beeinträchtigungen und herausfordernden Verhaltensweisen einen adäquaten Lebensraum zu bieten. Die Auswertung der Interviewdaten zeigt, dass die ‚Tragbarkeit‘ dieser Klientel maßgebend von der persönlichen Bereitschaft der Mitarbeitenden sowie von deren methodischem Handlungswissen und ihrer Handlungssicherheit abhängig ist. Zugleich müssen aber die strukturellen Bedingungen (Infrastruktur, Personalschlüssel, Angebotspalette, Weiterbildungsmöglichkeiten usw.) entweder bereits darauf ausgerichtet sein oder sich so modifizieren lassen, dass ein angemessener Wohn- und Arbeitsraum gewährleistet wird. Häufig wird berichtet, dass die strukturellen und personellen Voraussetzungen nicht selbstverständlich gegeben sind, sondern deren Bedeutsamkeit erst im Verlauf des Aufenthalts der Klientel in der Institution ersichtlich wird und in der Folge Lösungen entwickelt werden müssen. Dieser Entwicklungsprozess kann jedoch unterschiedliche Hindernisse bergen, die letztlich dazu führen, dass die Institution an ihre Grenze stößt, wie folgende Aussage verdeutlicht: „Es ist zu einer Auflösung des Heimvertrags gekommen, weil wir gesagt haben, wir können das unter den Voraussetzungen und der Infrastruktur, die wir da haben, nicht mehr verantworten, wir sind nicht die geeignete Institution.“ (N3) Die institutionellen Grenzen werden häufig nicht von heute auf morgen erreicht, sondern sind meist Ausdruck einer länger andauernden Belastung auf unterschiedlichen Ebenen. Die Analyse von Aussagen sowohl der Leitungspersonen als auch der Mitarbeitenden hat ergeben, dass eine institutionelle Grenze in der Regel dann erreicht wird, wenn folgende drei Einflussfaktoren - einzeln oder kumuliert - gegeben sind: 1. Die Klientel zeigt intensiviert und häufiger auftretende herausfordernde Verhaltensweisen und/ oder diese Verhaltensweisen werden intensiver und häufiger wahrgenommen; 2. die Mitarbeitenden stehen unter einer erhöhten Belastung, und Ohnmachtsgefühle gegenüber den herausfordernden Verhaltensweisen der Klientel dominieren die alltägliche Arbeit; 3. strukturelle und/ oder organisatorische Modifikationen und Anpassungen können nicht gewährleistet werden. Dabei kann es durchaus sein, dass ein Einflussfaktor derart dominant ist, dass er bereits allein zum Erreichen einer institutionellen Grenze führt. Andererseits kann auch eine Kumulation der Einflussfaktoren dazu führen, dass Institutionen an ihr Limit kommen. 3.1 Intensivierte und häufigere herausfordernde Verhaltensweisen Der Verlauf von herausfordernden Verhaltensweisen muss nicht zwingend über eine gewisse Zeitspanne hinweg gleich erfolgen. Herausfordernde Verhaltensweisen sind vielmehr dynamische Phänomene, die sich situativ und zeitlich bedingt verändern. Werden sie als gestörte Wechselbeziehungen zwischen Individuum und Umwelt interpretiert, können Modifikationen in der unmittelbaren Umgebung der Klientel die Verläufe ebenso beeinflussen wie intraindividuelle Modifikationen auf der sozio-emotionalen Ebene. Eine faktische Zunahme von herausfordernden Verhaltensweisen ist also durchaus möglich. Zugleich spielt aber auch die subjektive Wahrnehmung der Mitarbeitenden bei der Beurteilung von Zunahme und Intensität von herausfordernden Verhaltensweisen eine entscheidende Rolle. Das Zustandekommen einer subjektiven Annahme muss aber nicht unbedingt mit einer effektiven und objektiv feststellbaren Verhaltensänderung und Zunahme der herausfordernden Ver- VHN 2 | 2016 135 STEFANIA CALABRESE, EVA BÜSCHI Herausforderndes Verhalten und institutionelle Grenzen FACH B E ITR AG haltensweisen einhergehen. So konstatiert Reiser (1999, 145), dass die Wahrnehmungen von herausfordernden Verhaltensweisen „nichts anderes als Einschätzungen sind, die mehr über den Beobachter als über das Beobachtete ausdrücken“. Nichtsdestotrotz werden durch eine subjektive Beobachtung und die darauf folgende Hypothese, wonach die herausfordernden Verhaltensweisen gehäuft und intensiver auftreten, die Haltung und Einstellung gegenüber der Klientel tangiert und die Umgangsweisen und Begleitformen entsprechend angepasst. Die faktische Zunahme oder das subjektive Wahrnehmen von intensivierten und häufiger vorkommenden herausfordernden Verhaltensweisen führen mitunter dazu, dass institutionelle Grenzen erreicht werden, wie dies von einer Begleitperson wie folgt formuliert wird: „Wenn ich über Monate hinweg oder Wochen hinweg sehen würde, dass keine Besserung eintritt, und ich merken würde, dass sein Verhalten nicht wie Berg und Tal geht, sondern das stetig nach oben geht oder stetig auf einem hohen Erregungspegel ist, ohne Phasen, in denen man auch den Ausgleich hat, dann wäre eine Grenze für mich erreicht.“ (N10) 3.2 Erhöhte Belastung der Mitarbeitenden Mitarbeitende, die in der Begleitung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen und herausfordernden Verhaltensweisen arbeiten, sind tendenziell hohen Belastungen ausgesetzt. Die hohen Belastungen resultieren oftmals unmittelbar aus der Konfrontation mit den herausfordernden Verhaltensweisen der Klientel. Sie äußern sich sowohl auf der physischen Ebene in Form von gesundheitlichen Beschwerden oder psychosomatischen Schmerzen als auch auf psychischer Ebene infolge der Entwicklung von Gefühlen wie Angst, Unsicherheit, Ohnmacht und Beklemmung gegenüber der Klientel und deren Verhalten. Folgende Aussage in Bezug auf selbstverletzendes Verhalten zeigt dies: „Die Autoaggression ist ein Thema, das schwer auszuhalten ist. Das zu erleben, das zu beobachten, nicht intervenieren zu können und da natürlich dann auch die eigene Machtlosigkeit, die eigene Ohnmacht, mit dem konfrontiert zu sein.“ (N3) Aus den Interviews mit den Mitarbeitenden geht hervor, dass sie teilweise durch herausfordernde Verhaltensweisen der Klientel herausgefordert und belastet werden. Sie leiden bisweilen darunter, nehmen Aussagen und Handlungen der Klientel persönlich oder werden durch einzelne Eskalationen gar traumatisiert. Wüllenweber (2000, 170) hält fest, dass Mitarbeitende „durch ihre Überforderung selbst in eine (berufliche) Krise“ geraten können. Unmittelbar damit verbunden sind Arbeitsunzufriedenheit, woraus Resignation, Abstumpfung, Schuldzuweisungen, Organisationsaktionismus u. a. m. resultieren können (Kutscher 1999). Werden die Belastungen intensiver erlebt, verringert sich der Handlungsspielraum der Mitarbeitenden und führt zu Situationen, die als festgefahren und ausweglos wahrgenommen werden, wie folgende Aussage verdeutlicht: „(…) und ich meine, irgendwann sind wir alle mit dem Latein am Ende.“ (N13) Eine derartige ‚Sackgasse‘ führt dazu, dass Ressourcen und Entwicklungspotenziale der Klientel verkannt und die herausfordernden Verhaltensweisen pathologisiert werden. Unter diesen Umständen kann sich eine defizitorientierte Haltung gegenüber der Klientel manifestieren. 3.3 Starre, unflexible, inadäquate Strukturen Herausfordernde Verhaltensweisen sind oft auch Ausdruck von inadäquaten institutionellen Strukturen. Unter dem Paradigma der „totalen Institution“ von Goffman (1972) oder der „Institutionen der Gewalt“ von Basaglia (1973) werden Bedingungen genannt, die herausfor- VHN 2 | 2016 136 STEFANIA CALABRESE, EVA BÜSCHI Herausforderndes Verhalten und institutionelle Grenzen FACH B E ITR AG dernde Verhaltensweisen geradezu hervorbringen bzw. fördern. Von entscheidender Bedeutung sind dabei Aspekte wie Fremdbestimmung oder Reizarmut durch eine mangelnde Angebotspalette in den Bereichen Wohnen, Arbeit und Freizeit. Auch personelle und räumliche Knappheit können herausfordernde Verhaltensweisen fördern, wie dieses Zitat zeigt: „Aggressionen entstehen meistens, wenn er keinen Fluchtweg und zu wenig Platz hat.“ (N4) Institutionelle Strukturen können sich somit mitunter direkt auf das Verhalten der Klientel auswirken. Will man eine Verhaltensänderung erzielen, gilt es daher stets auch eine Veränderung des Umfeldes mitzudenken. Doch häufig sind strukturelle und/ oder organisatorische Modifikationen nicht leicht umzusetzen und bedürfen längerer Entscheidungs- und Planungsphasen oder können aus finanziellen, ideologischen oder anderen Gründen nicht umgesetzt werden. Dadurch wird der Druck, der an institutionelle Grenzen führen kann, erhöht. Dann gibt es lediglich zwei Optionen: Entweder die Klientel passt sich dem gegebenen institutionellen Umfeld an, obschon dieses als inadäquat erachtet wird. Oder die Klientel findet in einer anderen Institution einen geeigneteren Lebensraum. Eine Begleitperson drückt dies folgendermaßen aus: „(…) dass auch irgendwann institutionelle, strukturelle Grenzen erreicht sind, dass man halt die Option grundsätzlich als nicht die optimalste anschaut, aber dass man immer auch im Auge hat, eine Umplatzierung könnte je nachdem auch eine Lösung sein.“ (N6) 4 Fazit: Konsequenzen für die Klientel Werden herausfordernde Verhaltensweisen von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen als zunehmend intensiver und in immer kürzer werdenden Zeitabständen wahrgenommen, sind die direkt involvierten Mitarbeitenden in der Regel erhöhten psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt. Dies führt mitunter dazu, dass nach strukturellen und/ oder organisatorischen Möglichkeiten gesucht wird, um die Ausgangslage zu verändern und Bedingungen zu schaffen, in denen sowohl die Klientel als auch die Mitarbeitenden zufriedener sind. Kann das institutionelle Setting nicht modifiziert werden, droht die Lage zu eskalieren. Eine derartige Linearität der Entstehungsbedingungen (intensivierte herausfordernde Verhaltensweisen → erhöhte Belastung der Mitarbeitenden → unangepasste Strukturen) muss jedoch nicht zwangsläufig gegeben sein. Es sind auch andere Wechselwirkungen möglich, so etwa wenn Mitarbeitende aus anderen Gründen erhöhte Belastungen verspüren und daher die herausfordernden Verhaltensweisen intensiver erleben oder wenn die Klientel als Folge von inadäquaten strukturellen Gegebenheiten verstärkt herausfordernde Verhaltensweisen zeigt. Die unterschiedlichen Entstehungsbedingungen können auch gleichzeitig auftreten, sodass von einer Kumulierung von hinderlichen Grundvoraussetzungen gesprochen werden kann. Letztlich aber scheinen die Wechselwirkungen und Hintergründe für die Entstehung dieser Bedingungen wenig ausschlaggebend zu sein für die Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Die Konsequenzen zeigen sich oft auf einer klientelspezifischen und individuumsbezogenen Ebene, wie dieses Zitat verdeutlicht: „(…) die Grenze ist, wenn selbst- und fremdverletzendes Verhalten so schlimm ist, dass wir nicht mehr handlungsfähig sind, dass wir mit all den Instrumenten (…) ob das Fixation, Medikation, agogische Leistung, pflegerische Leistung, all diesen ganzen Instrumenten, professionelle Haltung, wenn das alles nichts nützt und letztlich Gefahr in Verzug ist, dann heisst für uns ganz klar die Order 144: Einweisen.“ (N22) Es sind also die Klientinnen und Klienten, die die unmittelbaren Konsequenzen ihres Verhaltens VHN 2 | 2016 137 STEFANIA CALABRESE, EVA BÜSCHI Herausforderndes Verhalten und institutionelle Grenzen FACH B E ITR AG tragen. Die Konsequenzen bestehen neben temporären Einweisungen in psychiatrische Kliniken oft auch in Umplatzierungen innerhalb der Institution oder in Institutionswechseln. Für die Klientel erweist sich diese Tatsache als fatal, denn die individuellen Belastungsgrenzen der Mitarbeitenden sowie die strukturellen Grenzen der Institution werden zu klientelspezifischen Grenzen, die mit Ausschluss und damit einhergehender Stigmatisierung verbunden sind. Gerade die Stigmatisierung resp. die Etikettierung als „herausfordernde Klientel“ kann die Lebensqualität dieser Menschen negativ beeinflussen und künftige Bemühungen um eine Optimierung der Lebensqualität in Form einer adäquaten Begleitung sowie Gestaltung von geeigneten Lebensräumen in ungünstiger Weise tangieren. Sie sind Träger eines Labels, „sie werden abgelehnt, verbreiten Unbehagen, lösen Beklemmung aus“ (Goffmann 1999, 1). Dieser Prozess, der auch als „Monster-Machung“ (Hennicke 2001, 289) bezeichnet werden kann, wird durch das Erreichen von institutionellen Grenzen initiiert und gefördert. Es gilt daher, Präventionsmöglichkeiten für die Institutionen im Allgemeinen sowie für alle Involvierten im Speziellen bereitzustellen, sodass institutionelle Grenzen in die Ferne rücken und Aussagen wie „Paula hat unsere Institution an die Grenze gebracht“ (N10) hinfällig werden. 5 Ausblick Die Studie zu herausfordernden Verhaltensweisen von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen im Wohnbereich verdeutlicht, dass der institutionelle Umgang mit dieser Klientel sehr diffizil ist. Allzu schnell werden Überforderung und Belastung der Mitarbeitenden der Klientel angelastet. Es gilt daher, sich diese negative Spiralentwicklung stets vor Augen zu halten und sie fortlaufend zu reflektieren. Dies bedingt unterschiedliche Voraussetzungen: a) Die gesamte Institution wird von externen, interdisziplinär agierenden Fachpersonen durch Supervision und Fachberatung unterstützt und punktuell begleitet; b) die Mitarbeitenden besuchen spezifische Weiterbildungen zur Situationserfassung, zur Analyse, zur Gewinnung von Erklärungsansätzen (Diagnostik) und zu darauf abgestützten, methodisch fundierten Umgangsweisen (Interventionen) bei herausforderndem Verhalten; c) den Klientinnen und Klienten, die als herausfordernd wahrgenommen werden, werden sowohl ein adäquater Lebensraum, in dem Persönlichkeitsentwicklung und Kompetenzaufbau möglich ist, als auch eine professionelle und empathische Begleitung gewährleistet; d) übergreifend wird eine institutionelle Haltung etabliert, die auf Subjektzentrierung und Bedürfnisorientierung beruht und ein ausgesprochenes Interesse an der Klientel und der Erweiterung ihres Handlungsspielraums beinhaltet. Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die erhobenen Daten der gesamten Studie auf die Notwendigkeit einer umfassenderen Erforschung des Themengebiets verweisen: So müsste der Begriff der herausfordernden Verhaltensweisen um die nach innen gerichteten Formen erweitert werden; in künftigen Studien wären auch diese zu berücksichtigen. Bei den Entstehungsbedingungen gilt es, multifaktorielle Modelle zu entwickeln und die kontextbezogenen Aspekte noch weiter zu differenzieren. In Bezug auf den Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen wäre es interessant, die in den Interviews geschilderten Maßnahmen mit den effektiv ausgeführten Interventionen zu vergleichen, was beispielsweise mittels Forschungsmethoden wie der Videoanalyse oder teilnehmender Beobachtung möglich wäre und für die Analyse der effektiven Praxis aufschlussreich sein dürfte. Vertiefte Aktenanalysen aller in den Institutionen bestehen- VHN 2 | 2016 138 STEFANIA CALABRESE, EVA BÜSCHI Herausforderndes Verhalten und institutionelle Grenzen FACH B E ITR AG den biografischen Daten der Klientel mit herausfordernden Verhaltensweisen dürften zudem weitere Aussagen zu Auswirkungen und Folgen ermöglichen und es erlauben, gesamte Lebensverläufe zu rekonstruieren. Ein Forschungsdesiderat ist zudem eine nationale, repräsentative Studie, welche das Ausmaß der Problematik in der Schweiz erfassen und den institutionellen Umgang damit generell aufzeigen würde. Dabei wären auch die individuellen und institutionellen Haltungen genauer zu analysieren, da diese als wesentlich für die Wahrnehmung und den Umgang mit herausfordernden Verhaltensweisen eingestuft werden. Anmerkungen 1 Das Forschungsprojekt wurde an der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW am Institut Integration und Partizipation zwischen Januar und Dezember 2014 durchgeführt. 2 Der Arbeitsbereich wurde im vorliegenden Beitrag bewusst ausgeklammert, da er Bestandteil des Dissertationsvorhabens von Stefania Calabrese ist und Ergebnisse daraus separat publiziert werden. Literatur Allen, D. G.; Lowe, K.; Moore, K.; Brophy, S. (2007): Predictors, costs and characteristics of out of area placement for people with intellectual disability and challenging behaviour. In: Journal of Intellectual Disability Research 51, 409 - 416. http: / / dx.doi.org/ 10.1111/ j.1365-2788.200 6.00877.x Basaglia, F. (1973): Die negierte Institution, oder Die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen: ein Experiment der psychiatrischen Klinik in Görz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp BFS/ Bundesamt für Statistik (2012): Die Situation der Menschen mit Behinderungen in sozialen Einrichtungen. 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