eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 85/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2016
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Rezension: Die ausführliche Rezension

41
2016
Iris Beck
Die ausführliche Rezension Hensen, Gregor; Küstermann, Burkhard; Maykus, Stephan; Riecken, Andrea; Schinnenburg, Heike; Wiedebusch, Silvia (Hrsg.) (2014): Inklusive Bildung. Organisations- und professionsbezogene Aspekte eines sozialen Programms Weinheim: Beltz. 328 S., € 29,95 Hensen, Gregor; Beck, Anneka (Hrsg.) (2015): Inclusive Education. Internationale Strategien und Entwicklungen Inklusiver Bildung Weinheim: Beltz. 236 S., € 24,95 Noch mehr Bücher zu Inklusion …!? Es mangelt derzeit tatsächlich nicht daran, auch nicht an mehrbändigen Werken wie diesem, das aus insgesamt vier Bänden besteht. Doch diese Bände unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht von vielen anderen. Erstens geht es nicht nur um den Blick auf die Schule, die Sichtweise ist eine nonsektorielle: Inklusion wird hier als Lebensphasen und Lebensbereiche überspannendes soziales Programm konzipiert.
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VHN 2 | 2016 172 REZE NSION E N Die ausführliche Rezension Hensen, Gregor; Küstermann, Burkhard; Maykus, Stephan; Riecken, Andrea; Schinnenburg, Heike; Wiedebusch, Silvia (Hrsg.) (2014): Inklusive Bildung. Organisations- und professionsbezogene Aspekte eines sozialen Programms Weinheim: Beltz. 328 S., € 29,95 Hensen, Gregor; Beck, Anneka (Hrsg.) (2015): Inclusive Education. Internationale Strategien und Entwicklungen Inklusiver Bildung Weinheim: Beltz. 236 S., € 24,95 Noch mehr Bücher zu Inklusion …! ? Es mangelt derzeit tatsächlich nicht daran, auch nicht an mehrbändigen Werken wie diesem, das aus insgesamt vier Bänden besteht. Doch diese Bände unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht von vielen anderen. Erstens geht es nicht nur um den Blick auf die Schule, die Sichtweise ist eine nonsektorielle: Inklusion wird hier als Lebensphasen und Lebensbereiche überspannendes soziales Programm konzipiert. Zweitens handelt es sich um eine interdisziplinäre Herangehensweise: Seit September 2012 existiert an der Hochschule Osnabrück ein Forschungsschwerpunkt „Inklusive Bildung - Teilhabe als Handlungs- und Organisationsprinzip“, der aus mehreren Teilprojekten besteht. In diesen Projekten kommen Soziale Arbeit, Erziehungswissenschaft, (Entwicklungs-) Psychologie, Recht und Betriebswirtschaftslehre zusammen, Inklusion wird hier als ein „Wechselspiel rechtlicher, kommunaler, organisationsbezogener und professioneller Anforderungen“ verstanden. Und drittens wird eine gemeinsame, auf die zentrale Frage der Implementation abhebende Analysematrix vorgelegt, die von bildungsbiografischen Fragen ausgehend das Handeln in den Organisationen in Abhängigkeit rechtlicher Rahmenbedingungen in den Mittelpunkt rückt und damit eine sowohl akteursals auch strukturbezogene Perspektive verfolgt. Die einzelnen Projekte untersuchen unter der Prämisse der zentralen Bedeutung von Übergängen in Bildungsprozessen Orte der Bildung und Partizipation im Lebenslauf. Auf diese chronologische Matrix der Orte wird eine zweite, querschnittorientierte Folie gelegt mit drei in allen Feldern relevanten Themen: 1. Organisationsgestaltung und Personalentwicklung, 2. sozialrechtliche Grundlagen und Gestaltungsspielräume sowie 3. Kommune als Raum der System- und Lebensweltentwicklung. Das Forschungsdesign rückt somit den Zusammenhang von Programm, Handlungsprozessen und strukturellen Bedingungen in den Mittelpunkt, dessen Zusammenwirken ursächlich für die Entstehung der Qualität auf der Handlungsebene ist. So sollen, zentriert um die bildungsbiografische Sichtweise, Bedingungen von Inklusion als einem Entwicklungsprozess im Sinne organisatorischen Wandels und bezogen auf die für die Umsetzung wichtigste Ebene, die Kommune, erhellt werden. Band 1 liefert dafür die Grundlegung im Sinne der theoretischen Prämissen und der Ausgangslage in Theorie und Praxis. Darüber hinaus gibt er Einblick in den Stand und die Voraussetzungen der Inklusion im Bereich der Kindertageseinrichtungen, der Schule und der schulbezogenen Kinder- und Jugendhilfe sowie im Bereich Berufsbildung und Arbeit, und zwar bezogen auf die zentralen Fragen des professionellen Handelns, der rechtlichen Rahmenbedingungen, der Programmatik und der kommunalen Gestaltung. Im 2. Band werden diese Perspektiven auf internationale Entwicklungen angelegt. Auch hier erfolgt eine Grundlegung, bevor Strategien und Implementation am Beispiel ausgewählter Länder vorgestellt werden, bezogen wiederum auf die Inklusionsorte der frühen, der schulischen und der berufichen Bildung und Teilhabe und auf die Querschnitt-Themen. Die beiden anderen Bände vertiefen die Auseinandersetzung mit den Inklusionsorten anhand der durchgeführten empirischen Studien: Stephan Maykus, Anneka Beck, Gregor Hensen, Anne Lohmann, Heike Schinnenburg, Marlene Walk, Eva Werding & Silvia Wiedebusch (Hrsg.): Inklusive Bildung in Kindertages- VHN 2 | 2016 173 REZE NSION E N einrichtungen und Grundschulen. Empirische Befunde und Implikationen für die Praxis. Weinheim: Beltz, und Burkhard Küstermann & Mirko Eikötter (Hrsg.): Rechtliche Aspekte inklusiver Bildung und Arbeit. Weinheim: Beltz. Wie kann Inklusion handlungsleitend werden? Inklusion ist politisch gesehen ein normativer Anspruch, rechtlich stellt sie eine Maßgabe mit differierender Geltung und Verbindlichkeit dar, und sozialwissenschaftlich gesehen geht es um den Zugang und die Mitgliedschaft in Organisationen als den zentralen Schaltstellen der Herstellung von Lebenschancen in funktional differenzierten Gesellschaften. Inklusion als empirisches Phänomen ereignet sich, so der Ansatz der Autoren, „zwischen System und Lebenswelt“, in den Feinstrukturen sozialräumlicher Bedingungen, zwischen Personen und den zwar makrosozial gesteuerten, aber eigensinnig operierenden Organisationen und Institutionen. Man muss Zutritt zu den Teilsystemen erhalten - oder präziser: kommunikativ von diesen adressiert werden -, wenn die Lebensführung die Inanspruchnahme ihrer Funktionen nötig macht. Dies wiederum geschieht konkret vor Ort, in den Gemeinden als Ort der Versorgung ebenso wie als dem der Verwaltung und Steuerung der konkreten Lebensverhältnisse und als Ort der Gemeinschaft. Dieses tatsächliche Einbezogensein unterscheidet sich klar von einem rechtlichen Anspruch, wenngleich dieser die Inklusionswahrscheinlichkeit erhöht. Genau deshalb macht es Sinn, sich die Frage zu stellen, wie sich die tatsächliche Inklusionswahrscheinlichkeit - und diese vollzieht sich auf der konkreten meso- und mikrostrukturellen Ebene - gestaltet und welche Formen und Stufen sie annimmt. Um die Frage der Handlungsleitung zu beantworten, muss Inklusion zwangsläufig auf Bedingungen des Wandels von Organisationen und der Implementation neuer Regeln bezogen werden. Daraus leiten sich entsprechend Fragen nach den theoretischen Begründungszusammenhängen ab, die Inklusion als „Implementationsgefüge“ und organisationelle Entwicklungserfordernis ordnen. Tatsächlich gibt es ja Konzepte und leitfadenartige Handreichungen zur inklusiven Qualitätsentwicklung, die ebenfalls Programm, Strukturen und Prozesse thematisieren. Allerdings setzen sie - und dies oft sehr zwanglos - voraus, dass sich Organisationen und die in ihnen handelnden Personen verändern, und lassen häufig keinerlei institutions- oder organisationssoziologische bzw. -psychologische Anbindung erkennen, geschweige denn, dass der Einfuss makrostruktureller Steuerungsmittel (Geld, Recht) theoretisch fundiert mitbedacht wird. Die zentralen Fragen, die im Forschungsschwerpunkt verfolgt werden, sind also keineswegs trivial, und der Anspruch ist dabei ein zweifacher: Zum einen sollen natürlich Forschungsergebnisse gewonnen werden, die Aufschluss über Implementationsbedingungen geben hinsichtlich des Wechselspiels aus organisationsbezogenen, professionellen und kommunalen Anforderungen, die sich aus der Programmformel Inklusion ergeben. Zum anderen sehen die Autoren erheblichen Bedarf bezüglich der Gewinnung und Systematisierung von Forschungsfragen und der theoretischen Ordnung des „empirischen Sachverhaltes Inklusion“. Dem kann nur zugestimmt werden. Die Autoren gehen also zirkulär vor, indem erste theoretische Ordnungsversuche, ausgehend von zentralen Fragen und Forschungslücken, zu einer Analysematrix führen, anhand derer zunächst der Stand der Ermöglichung von Bildungschancen untersucht wird, um diesen zu den Querschnitt-Themen in Beziehung zu setzen, und hieraus wiederum Rückschlüsse auf weitere Forschungs- und Theoriedesiderate zu gewinnen. Den Ausgangspunkt bildet die Frage, wie sich personelles Handeln und eine Organisation hinsichtlich eines programmatischen Anspruches wandeln können. Damit gelingt sofort der Anschluss an eine übergeordnete Problemstellung und die Einordnung in entsprechende Theoriezusammenhänge, also zur Implementationstheorie einerseits und zur Theorie organisatorischen bzw. institutionellen Wandels andererseits, zu denen breite Auseinandersetzungen und Erkenntnisse vorliegen, nicht nur aus der Forschung zu Organisationen im Allgemeinen, sondern z. B. auch aus der De-Institutionalisierungsforschung im Feld von Behinderung oder aus der Forschung zu personenbezogenen Dienstleistungen und hier auch zu Spezifika des bildenden, beratenden, helfenden Handelns. VHN 2 | 2016 174 REZE NSION E N Inklusion als Leitziel kann rechtlich verordnet oder fachlich, auch gesellschaftlich erwünscht sein; wird die Programmformel unhinterfragt zum Referenzpunkt der wissenschaftlichen Untersuchung, gerät sie zur selbstreferenten Legitimationsinstanz oder bildet Forderungen als Tatsachen ab. Inklusion ist aber weder Selbstzweck noch lässt sich der Begriff als normatives Leitziel oder systemtheoretische Beschreibung hinreichend operational klären. Notwendig ist also auch hier ein dezentrierter Standpunkt, die Einordnung der Programmformel in ein übergeordnetes Bildungsziel und einen erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Rahmen. Ein solcher Standpunkt muss von der Wissenschaft bezogen werden und dient dazu, die Implementation immer wieder daran zu evaluieren. Denn der Ruf nach Inklusion gibt ebenso wenig wie die früheren nach Integration, Selbstbestimmung, Normalisierung usw. allein Aufschluss über das, was letztlich damit bezweckt werden soll. Und wenn es um einen erziehungswissenschaftlichen Zusammenhang geht, müsste Inklusion auch pädagogisch reformuliert werden. Die Autoren gehen entsprechend weder von einem bestimmten normativen noch von einem festen sozialwissenschaftlichen Inklusionsbegriff aus und legen einen solchen also nicht nahtlos auf die Untersuchungsfelder an. Vielmehr wird zunächst gefragt, wie es zu inhaltlichen Veränderungsprozessen anstelle von Anpassungsimpulsen als legitimatorische Strategie kommt, die in der Regel in einer rein formalen Exekution des neuen Ziels endet. Auf der Ebene der konkreten Einrichtungen und Angebote kann ein verordnetes Ziel in vielfacher Weise unterlaufen werden - unzählige Beispiele aus der Praxis zeugen davon -, und sofern Entlastung steuerungspolitisch oder rechtlich auch noch ermöglicht wird, können sich, ein alter Hut der Organisationsforschung, Systeme durch die rein formale Aufnahme neuer Umweltanforderungen auch wieder gut stabilisieren. Tatsächlich ist die Rechtslage ja keineswegs in allen Feldern pädagogischer Arbeit so ausgestaltet, dass Inklusion zwangsläufig umgesetzt werden muss, man denke z. B. an die Kinder- und Jugendhilfe. Organisationen und Institutionen wandeln sich aber auch selten einzig von innen, und wenn, dann muss in der Regel „innen“ ein gehöriger Druck mit Blick auf die Zielerreichung bestehen. Inklusion als Entwicklungsprozess braucht strukturelle Bedingungen von außen, und es braucht „innen“ eine Veränderung, die sich gleichermaßen auf das Programm, die Strukturen und das Handeln (und Denken) der Akteure bezieht. Dieser Dreiklang bildet das von den Autoren so genannte Implementationsgefüge, das in den Analysen und Studien beleuchtet wird. Die Implementation eines neuen Leitziels stellt den „Obermechanismus“ (Band 1, S.15) von Regeln, Glaubenssätzen, Haltungen, Denkmodellen infrage - hier beziehen sich die Autoren insbesondere auf den Neo-Institutionalismus -, und dies bedeutet Verunsicherung (Kontingenz) und Mehrdeutigkeit, denen auf unterschiedliche Weise begegnet werden kann. Bei dem, was verändert werden soll, handelt es sich pädagogisch betrachtet um Persönlichkeitsentwicklung: um die der Akteure mit Blick auf die Anerkennung von Vielfalt und demokratisches Handeln als dessen Voraussetzung und Basis und um die Persönlichkeitsentwicklung der Adressaten. „Es ist die interne Perspektive auf inklusive Bildungsprozesse, die institutionelle Repräsentierung dieses Programms in den Konzepten, persönlichen Voraussetzungen und Motiven sowie Rahmenbedingungen der Arbeit, die teilweise auch von den Kommunen gestaltet werden“, so Maykus in seiner grundlegenden Auseinandersetzung zum Bezug von Inklusion zu Kommune (Band 1). Hier wird weit über Ansätze einer kommunalen Teilhabeplanung hinaus eine erziehungswissenschaftliche Begründung kommunaler Inklusion vorgelegt, in der die lebensweltlich begründete Persönlichkeitsentwicklung als Basis demokratischer Gesellschaft, von verständigungsorientiertem Handeln und von Urteilsbildung theoretisch verortet wird. Die Kommune als Ort der Herstellung von Öffentlichkeit ist unabdingbar für die Umsetzung von Inklusion, weit über Fragen der Planung und Vernetzung hinaus, Fragen, die zudem rein formal oder schlagwortartig bleiben können, wenn sie nicht auf einen Rahmen bezogen werden, der ihr Ziel und ihre Aufgaben bestimmt. Maykus entwickelt ein Mehrebenen-Modell von kommunaler Inklusion als Handlungs- und Strukturprinzip, das von der lebensweltlichen Ebene der Ermöglichung von Partizipation und Kommunikation über die personale Inklusion durch Unterstützung und Qualifikation der Fachkräfte zur VHN 2 | 2016 175 REZE NSION E N institutionellen Ebene und darüber hinaus reicht, das eben nicht nur als Bausteine-Modell daherkommt auf der Benennungsebene, sondern die Voraussetzungen und Gestaltungselemente benennt. Sein Modell ist zudem interdisziplinär anschlussfähig und dürfte m. E. derzeit das einzige sein, das weit über die Frage des Verhältnisses von Sonderzur Regelschulpädagogik hinausgeht. Es ist sicher kein Zufall, dass ein solches Modell vonseiten einer Sozialpädagogik entwickelt wird, deren Bildungsbegriff und Subjektwerdungsverständnis auf einem weit über schulisches Lernen hinausreichenden Ansatz der (demokratischen) Handlungsfähigkeit und Subjektwerdung beruht. Der Beitrag von Maykus bildet nach der einführenden Grundlegung des Untersuchungsrahmens die theoretische Klammer um die auf Orte zentrierten Beiträge im Band 1 (Lohmann/ Hensen/ Wiedebusch zu Kitas, Anneka Beck zu Schule und Riecken/ Jöns-Schnieder zum Arbeitsleben). Diese geben allesamt profunde Einblicke in den Stand der praktischen Umsetzung, die rechtlichen Rahmenbedingungen und den Forschungsstand zu den Einstellungen der Akteure und den zentralen Problemstellen der Organisationsentwicklung. Wer einen fundierten Überblick zur Frage inklusiver frühkindlicher, schulischer, beruficher Bildung erhalten will, dem können allein diese Beiträge schon empfohlen werden, insbesondere der m. E. überaus differenzierte, kenntnisreiche und stringent unter der analytischen Perspektive auf Inklusion erarbeitete Beitrag zur berufichen Teilhabe. Die Beiträge unterscheiden sich in der Breite und Tiefe des recherchierten Forschungsstandes; hier wäre (insbesondere für den Artikel zur Schule) eine Offenlegung der Kriterien zur Recherche und zur Bewertung der einbezogenen Studien hilfreich und mit Blick auf den Anspruch der Identifizierung von Forschungslücken noch zielführender gewesen. Auch wäre(n) für die Zukunft ein Bezug zu Theorien personenbezogener Dienstleistungen bzw. explizitere Bezüge zu Organisations- und Professionalisierungstheorien wünschenswert. Andererseits verbinden die Beiträge Forschungs- und Praxisimplementationsstand, unternehmen also eine äußerst breite Analyse, wie man sie in so differenzierter Weise selten findet. Die Beiträge von Werding, Schinnenburg und Walk sowie von Küstermann und Eikötter greifen die Querschnitt-Themen auf: die Professionalisierungsthematik am Beispiel des Kita-Bereiches und die rechtlichen Grundlagen am Beispiel inklusiver Bildung und Arbeit, sodass eine Zuspitzung und Vertiefung erreicht wird. Weil der Band diesen Dreischritt von 1) Theoriebegründung, 2) Analyse von Orten und 3) Analyse der Organisations- und Personalentwicklung, der rechtlichen Steuerung und der kommunalen Verankerung aufweist, stellt er klar mehr als einen Sammelband dar, und es erschließen sich in der Zusammenschau Einsichten und Erkenntnisse. Der zweite Band setzt diesen Erkenntnisgewinn in Richtung Systematisierung von Forschungsfragen, Hinweise auf theoretische Ordnung, fort. Auch hier gibt es wieder eine Einführung, die Inklusion im internationalen Kontext thematisiert, und dies anhand von drei differenzierten und kritisch-refektierten Beiträgen zur Frage der Möglichkeit und des Ertrags eines internationalen Vergleichs. Anneka Beck und Gregor Hensen diskutieren dessen Grenzen und Chancen anhand einer sachgerechten Analyse von „Inklusionsquoten“, des Einfusses von Rechts- und politischen Systemen und Traditionen und Verständnisweisen von Inklusion und nehmen eine Verortung und Begründung der einbezogenen Beiträge vor. Cristina Allemann-Ghionda vertieft dann die Frage des Praxis- und Politikvergleichs, liefert eine kurze erhellende Geschichte des Begriffs selbst (ohne die man ihn eigentlich ohnehin nicht in den deutschen Zusammenhang transferieren sollte, viele Verkürzungen stammen nämlich aus der Vernachlässigung dieses Kontextes) und stellt idealtypische Perspektiven von Diversität an Skizzen von Ländern vor, die für die deutsche Debatte wegen ihrer Geschichte mit „Diversität“ und die Anwendung des Inklusionsbegriffes besondere Bedeutung haben (Italien, Frankreich, Schweden, Kanada, England). Mirko Eikötter schließt diesen Teil ab mit einer profunden und (bei diesem Thema nicht selbstverständlichen) sprachlich präzise und anschaulich gestalteten Auseinandersetzung zum Behinderungsverständnis der UN-BRK, im EU-Recht und in ausgewählten EU-Ländern. Dieser Teil leistet m. E. wiederum die Voraussetzung dafür, dass die nachfolgend dargestellten Strategien und Entwicklungen nicht nur eine Einbettung VHN 2 | 2016 176 REZE NSION E N erfahren, sondern sich der Band als Ganzes, als Mehr als die Summe der Teile, lesen lässt. Dazu trägt auch bei, dass die ausgewählten Beispiele dem Dreiklang der Bildungsorte folgen, wenngleich der Schulbereich deutlich überwiegt: Anja Wohlfahrt analysiert die Frühförderung in Schweden und Deutschland; Olli-Pekka Malinen u. a. die schulische Inklusion in Finnland, Per Germundsson in Schweden, Berit Johnsen in Norwegen, Jolanta Rszewska in Polen und Marlene Walk und Heike Schinnenburg in den USA. Die berufiche Inklusion wird am Beispiel Italien von Laura Nota u. a. thematisiert, und Stephan Böhm u. a. schließen den Band mit einer Diskussion internationaler Modelle beruficher Inklusion. Die Querschnitt-Themen tauchen implizit und explizit auf: Am Beispiel der Frühförderung wird der Stellenwert der Partizipation in Deutschland und Schweden verglichen. Per Germundsson diskutiert schwerpunktmäßig Einstellungen, aber in einem erweiterten Rahmen des Konstruktes sozialer Repräsentationen („frames“, aber nicht im engen Sinn von Goffman), das die Bindung von individuellen Denk- und Handlungsweisen an strukturell determinierte Regeln und Deutungsmuster meint und damit wiederum eine zwischen strukturellen und akteursbezogenen Aspekten vermittelnde Folie erörtert. Generell werden in allen Beiträgen, aber wie in Band 1 in unterschiedlicher Gewichtung und auch anhand unterschiedlicher Vorgehensweisen - mal eher anhand einer historischen, mal eher einer politischen oder praxisbezogenen Analyse -, die Ebenen und Themen von Inklusion als Handlungs- und Strukturprinzip behandelt, wie sie in Band 1 als zentral identifiziert wurden. Eine unmittelbare Auswertung mit Blick auf Forschungsergebnisse und -fragen im Vergleich ist aufgrund der Heterogenität der Beiträge, was Umfang und Vorgehensweisen betrifft, nicht möglich. Eher ist ein heuristischer Ertrag zu konstatieren, der m. E. aber nicht gering ausfällt, weil ein erstaunlich dichtes Bild entsteht und in mehreren Richtungen Tendenzen erkennbar sind: Zum einen lehrt der Vergleich, dass in Ländern, die Inklusion nicht sektoriell, sondern umfassend verstehen, bezogen auf Differenzmerkmale und auf Lebensbereiche (! ), Inklusion leichter umsetzbar scheint, und zwar insbesondere dann, wenn das Land schon früh Strategien zum Umgang mit Diversität entwickelt hat (Kanada, England, Norwegen) oder andere Leitziele, wie das Normalisierungsprinzip in Schweden und Norwegen, das dort immer als Mittel für das Ziel der Integration betrachtet wurde, schon breiter implementiert waren. Zweitens sind die strukturell-rechtlichen Rahmenbedingungen notwendige (und mal mehr, mal weniger förderliche) Determinanten der Implementation, insbesondere was ein Gesamtschulsystem betrifft. Drittens erweist sich das Durchbrechen des Schwarz-Weiß-Denkens in struktureller Hinsicht als zentral, also kein Entweder-oder von „total separiert“ in Sondereinrichtungen oder „total inkludiert“, sondern eine Vielfalt von Formen und Stufen, die vor allem durchlässig sein und Übergänge systematisch ermöglichen müssen. Ich wage zu behaupten, dass insbesondere bei Menschen mit einem komplexen Unterstützungsbedarf sonst auch keine Bedarfsgerechtigkeit erreicht wird. Übergänge implizieren zudem, dass Bildung lebensphasen- und feldübergreifend gedacht werden muss, wie es in den beiden Bänden geschieht. Der interdisziplinäre Zugang muss hinzukommen, auch in dieser Hinsicht setzen die Bände ein Zeichen, von dem zu wünschen ist, dass es in der Sonderpädagogik auf Widerhall trifft. Auf der Handlungsebene erweist sich die von der UN-BRK, aber auch vom SGB IX geforderte Individualisierung der Leistungen im internationalen Vergleich als ein Kernelement, neben allgemeinen Konzepten von Didaktik, Methodik, Unterstützung, die wiederum im Kern auf einem demokratischen, partizipativen Verständnis beruhen sollten. Und schließlich muss über die „frames“ nachgedacht werden, die Deutungsmuster, anhand derer das Handeln in Organisationen anläuft und das sich mit den individuellen Haltungen vermittelt. So wurde in Norwegen eine Medienkampagne gestartet, die die Aufmerksamkeit auf das Wohlbefinden von Schülern mit „special education needs“ richtet und Preise für gute Beispiele inklusiver Gemeinden auslobt, um aussondernde Praktiken zu verringern. Innovative Organisationsentwicklung stößt sofort an Grenzen, wenn konkurrierende Regeln existieren oder stark werden. „It looks as if focus on academic results in global contexts and on VHN 2 | 2016 177 REZE NSION E N transfer of responsibility to local level is met by strategies reducing acceptance of divergence and difference.“ (Nordahl und Hausstätter 2009 im Beitrag von Johnson) Lokale Verantwortung ist unabdingbar, fehlt aber die Steuerung über nationales Recht, wird Inklusion hoch abhängig von den lokalen Strukturen, wo u. U. eine Verschiebung der Verantwortung ins „gemeinsame Ganze“ auch ein Verlust an notwendiger spezieller Unterstützung bedeuten kann. Auch bezüglich der kommunalen und der makrostrukturellen Ebene erweist sich der angelegte Betrachtungsrahmen der beiden Bände als notwendig, und insgesamt wird hier ein Ordnungsversuch unternommen, der, von „außen“ kommend, auf Resonanz in der Sonderpädagogik stoßen sollte. Prof. Dr. Iris Beck D-20146 Hamburg DOI 10.2378/ vhn2016.art19d