Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Trend: Institutionelle Übergänge - eine Forschungsperspektive mit Zukunft?
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Ulrike Schildmann
Wer sich mit institutionellen Übergängen beschäftigt, wird vor einige Herausforderungen gestellt. Das zeigen die Beiträge der VHN zum Themenstrang „Institutionelle Übergänge in der gesamten Lebensspanne“ (2015 / 2016). Sie weisen auf Trends hin, die im Folgenden zur Diskussion gestellt werden.
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245 VHN, 85. Jg., S. 245 -247 (2016) DOI 10.2378/ vhn2016.art28d © Ernst Reinhardt Verlag TRE ND TH EME NSTR ANG Institutionelle Übergänge in der gesamten Lebensspanne Makro-, Meso-, Mikroperspektiven auf institutionelle Übergänge Institutionelle Übergänge werden (überwiegend) auf der gesellschaftlichen Makroebene strukturiert, von Institutionen (auf der Mesoebene) organisiert und ausgestaltet und von gesellschaftlichen Subjekten (auf der Mikroebene) je unterschiedlich erlebt. Die Forschungsperspektiven auf institutionelle Übergänge können bereits in dieser Hinsicht sehr unterschiedlich sein. Das belegen auch die Beiträge dieses Themenstranges. Gesamtgesellschaftliche Perspektiven, die hier vor allem in statistischen (Sekundär-)Analysen zum Ausdruck kommen (vgl. v. a. Lotte 2015; Libuda-Köster/ Schildmann 2016) stehen Analysen von Organisationsstrukturen einerseits (vgl. v. a. Römisch 2015; van Essen 2015) und von biographischen Erfahrungen andererseits gegenüber (vgl. v. a. Schramme 2015; Lindmeier 2016), wobei die drei Perspektiven - auch in den genannten Beiträgen - nicht unbedingt voneinander zu trennen sind. Vielmehr ist von analytischen Mischformen auszugehen. Die Strukturkategorie Alter in Wechselwirkung mit den Kategorien Geschlecht und Behinderung Die Analyse institutioneller Übergänge ist durch die Lebensspannen-Perspektive eng verknüpft mit der sozialen Strukturkategorie Alter; denn mit den Übergängen werden weitgehend je spezifische Altersgruppen assoziiert (Institutionenregime trifft auf Altersregime). Zwar ist der Übergang von der ersten großen Sozialisationsinstanz, der Familie, in die Kindertageseinrichtung (vgl. Lotte 2015) in Deutschland bisher noch mit keinem genau bestimmten Alter verbunden, aber bereits der Übergang von der Kindertageseinrichtung in die Schule wird in der Regel im siebten Lebensjahr der Kinder erwartet. Ähnlich wird der Übergang von der Schule in das Arbeitsleben in der Regel, wenn nicht das (Fach-)Abitur angestrebt wird, nach zehn Schuljahren erwartet. Im Erwachsenenalter dagegen sind die institutionellen Übergänge nicht klar nach Alter definiert, sondern scheinen (auf den ersten Blick) eher nach individuellen Vorstellungen gestaltet zu sein, bis der formal festgelegte Zeitpunkt des Rentenalters naht. Durchkreuzt werden die Altersnormen jedoch durch andere soziale Strukturkategorien, und zwar vor allem durch die Kategorien Behinderung und Geschlecht: Behinderte Kinder besuchen tendenziell später als ihre nicht behinderten Peers Kindertageseinrichtungen und werden häufiger als diese vom regulären Schuleintritt zurückgestellt (vgl. Lotte 2015). Institutionelle Übergänge - eine Forschungsperspektive mit Zukunft? Ulrike Schildmann TU Dortmund Wer sich mit institutionellen Übergängen beschäftigt, wird vor einige Herausforderungen gestellt. Das zeigen die Beiträge der VHN zum Themenstrang „Institutionelle Übergänge in der gesamten Lebensspanne“ (2015 / 2016). Sie weisen auf Trends hin, die im Folgenden zur Diskussion gestellt werden. VHN 3 | 2016 246 ULRIKE SCHILDMANN Forschungsperspektive Institutionelle Übergänge TRE ND Außerdem besuchen sie - in Deutschland - immer noch überwiegend Sonderstatt Regelschulen, wodurch sie von früher Kindheit an einem Behinderungsregime unterliegen. Beim Übergang in die Arbeitswelt haben behinderte Jugendliche u. a. dadurch schwierigere Aufgaben zu meistern als nicht behinderte. So werden sie vermehrt in das so genannte Übergangssystem überwiesen statt in reguläre Berufsausbildungen oder Arbeitsverhältnisse einzutreten, und ebenso führt sie eine eventuell doch durchlaufene Ausbildung (ggf. in einer speziellen Rehabilitationseinrichtung) seltener in den erlernten Beruf als dies bei nicht behinderten Jugendlichen und jungen Erwachsenen der Fall ist (vgl. die Ergebnisse von van Essen 2015 und von Schramme 2015). Die institutionelle Besonderung behinderter Mädchen und Jungen, vor allem in der Schule, trifft auf dem Arbeitsmarkt zusammen mit dem sozialen Geschlechterregime, das nicht nur in der Berufsausbildung herrscht (Männer überwiegend in dualer Ausbildung, Frauen überwiegend in vollzeitschulischer Ausbildung mit jeweils überwiegend männlich bzw. weiblich besetzten Berufen), sondern das auch das gesamte Berufsleben durchzieht: einerseits durch die Problematik der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, andererseits durch die Bedingungen des geschlechtersegregierten Arbeitsmarktes mit seinen internen Hierarchien. Dieses Geschlechterregime, gepaart mit den Auswirkungen von Behinderung, konnte in dem Beitrag von Libuda- Köster/ Schildmann (2016) über drei große Altersabschnitte des so genannten Erwerbsfähigkeitsalters (18 - 27, 28 - 45, 46 - 64 Jahre) nachgewiesen werden. Damit wurde - auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene - gezeigt, dass der Lebensabschnitt von 18 - 64 Jahren absolut kein einheitlicher ist, sondern ein vor dem Hintergrund der Wechselwirkungen von Alter, Geschlecht und ggf. Behinderung sehr differenzierter, der der weiteren Forschung auf allen analytischen Ebenen (Makro-, Meso- und Mikroebene) bedarf. Gegenüber den anderen genannten sozialen Kategorien wird die soziale Kategorie Behinderung im negativen Sinne vor allem für solche Menschen dominant, die auf der Basis ihrer lebenslangen oder langjährigen institutionellen Besonderung, im Erwachsenenalter vor allem in speziellen Wohneinrichtungen und Arbeitsstätten, am allgemeinen gesellschaftlichen Leben nicht oder nur sehr eingeschränkt teilhaben und teilnehmen können. Behinderung stellt sich in den einzelnen Lebensabschnitten von Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter unterschiedlich dar. Was allerdings als vergleichbar erscheint, ist die Isolation von den allgemeinen, gesellschaftlich dominanten und wertgeschätzten Vorgängen und Begegnungen. Die Beiträge von Kathrin Römisch (2015) über das Leben in komplexen Behinderteneinrichtungen und von Bettina Lindmeier (2016) über die Perspektiven auf das Rentnerdasein nach Abschluss eines Arbeitslebens in Werkstätten für behinderte Menschen belegen dies eindrücklich. Beschäftigung mit institutionellen Übergängen - eine Forschungsperspektive mit Zukunft? Die in den genannten Beiträgen zum Themenstrang „Institutionelle Übergänge in der gesamten Lebensspanne“ skizzierten Problemstellungen weisen darauf hin, dass es sich hier um eine komplexe Forschungsperspektive mit Zukunft handelt. Allerdings wird es nicht einfach sein, diese erweiterte Perspektive gegenüber vorherrschenden Spezialisierungstendenzen in der Wissenschaft nachhaltig zu etablieren. Die anstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen verlangen jedoch gerade nach solchen Ausdifferenzierungen der Forschungsperspektiven, die dazu geeignet sind, soziale Ungleichheitslagen aufzudecken und soziale Risiken, gerade an den etablierten institutionellen Übergängen, kritisch zu analysieren und zu überwinden. VHN 3 | 2016 247 ULRIKE SCHILDMANN Forschungsperspektive Institutionelle Übergänge TRE ND Literatur Essen, F. v. (2015): Von der Förderschule Lernen in die Wissensgesellschaft. Eine Studie zu einem Übergang mit Fallstricken. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 84, 206 -219. http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ vhn2015.art25d Libuda-Köster, A.; Schildmann, U. (2016): Institutionelle Übergänge im Erwachsenenalter (18 - 64 Jahre). Eine statistische Analyse über Verhältnisse zwischen Behinderung und Geschlecht. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 85, 7 -24. http: / / dx.doi. org/ 10.2378/ vhn2016.art02d Lindmeier, B. (2016): Vor dem Alter sind nicht alle gleich! Wie sehen Menschen mit lebenslangen Behinderungenihr Alter? In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 85, 152 -158. http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ vhn20 16.art17d Lotte, J. (2015): Institutionelle Übergänge von Mädchen und Jungen mit Behinderungen im frühen Lebensalter. Von der Familie in die Kindertagesbetreuung und von der Kindertagesbetreuung in die Schule. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 84, 113-122. http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ vhn2015.art 13d Römisch, K. (2015): Praxis der Inklusion als individuelles Risiko: Welche Gefahren enthalten individuelle Übergänge für Männer und Frauen mit schwersten Beeinträchtigungen? In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 84, 333 -335. http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ vhn2015.art37d Schildmann, U. (2015): Institutionelle Übergänge in der gesamten Lebensspanne unter besonderer Berücksichtigung von Behinderung und Geschlecht. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 84, 93 -97. http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ vhn2015.art10d Schramme, S. (2015): Institutionelle Übergänge: Schule - Ausbildung - Beruf aus der Rückschau behinderter Frauen und Männer mit schulischen Integrationserfahrungen. In: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 84, 299 -308. http: / / dx.doi.org/ 10.2378/ vhn2015.art34d Anschrift der Autorin Prof. Dr. Ulrike Schildmann Wittelsbacherstraße 9 D-10707 Berlin ulrike.schildmann@tu-dortmund.de
