eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 85/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
71
2016
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Dialog: Inklusion kontrovers

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2016
Bernd Ahrbeck
Angela Ehlers
Liebe Frau Ehlers, die schulische Inklusion ist ein nach wie vor heftig umstrittenes Thema, das erhebliche Affekte freisetzt. Warum eigentlich? Ein Grund dafür liegt in den praktischen Umsetzungsproblemen, die sich in vielen Bundesländern einstellen. Häufig sind sie ganz erheblich: Lehrerinnen und Lehrer verfügen nicht über die Bedingungen, die sie für eine erfolgreiche Arbeit benötigen, und Eltern äußern sich trotz grundsätzlicher Akzeptanz des Inklusionsgedankens besorgt (vgl. zu Nordrhein-Westfalen: Ahrbeck u. a. 2015). Noch gravierender ist es allerdings, dass viele grundlegende Fragen ungeklärt sind oder auf problematische Weise beantwortet werden. Mit zahlreichen Folgen für die Praxis.[…]
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248 VHN, 85. Jg., S. 248 -256 (2016) DOI 10.2378/ vhn2016.art29d © Ernst Reinhardt Verlag DIALOG Bernd Ahrbeck an Angela Ehlers Liebe Frau Ehlers, die schulische Inklusion ist ein nach wie vor heftig umstrittenes Thema, das erhebliche Affekte freisetzt. Warum eigentlich? Ein Grund dafür liegt in den praktischen Umsetzungsproblemen, die sich in vielen Bundesländern einstellen. Häufig sind sie ganz erheblich: Lehrerinnen und Lehrer verfügen nicht über die Bedingungen, die sie für eine erfolgreiche Arbeit benötigen, und Eltern äußern sich trotz grundsätzlicher Akzeptanz des Inklusionsgedankens besorgt (vgl. zu Nordrhein-Westfalen: Ahrbeck u. a. 2015). Noch gravierender ist es allerdings, dass viele grundlegende Fragen ungeklärt sind oder auf problematische Weise beantwortet werden. Mit zahlreichen Folgen für die Praxis. Die UN-Behindertenrechtskonvention (2009) will - wie ihr Name bezeugt - die Rechte von Menschen mit Behinderung umfassend stärken. Ihre Lebens-, Lern- und Entwicklungssituation soll verbessert, Teilhabe und Partizipation sollen gestärkt und es soll dafür gesorgt werden, dass eine (behinderungsspezifische) Förderung auf einem möglichst hohen Niveau erfolgt. Der viel zitierte Paragraf 24 bezieht sich auf das Bildungsrecht; niemand darf aufgrund seiner Behinderung von Bildung und einem Schulbesuch ausgeschlossen werden. Dieses Recht ist in Deutschland zweifelsfrei gesichert: „Wir grenzen heute niemanden mehr wegen ‚Bildungsunfähigkeit‘ aus der Schule aus“, wie Heinz-Elmar Tenorth (2013, 7) konstatiert, einer der angesehensten deutschen Bildungshistoriker. Das sollte bei einer unaufgeregten Beurteilung der gegenwärtigen Situation berücksichtigt werden. Und auch, dass die Konvention das (individuelle) Kindeswohl zum obersten Maßstab macht. Im Wortlaut: Das „Wohl des Kindes [ist] ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist“ (Artikel 7, Abs. 2). Eine problematische Situation entsteht nun dadurch, dass der in der UN-BRK nur selten verwendete und dort - wie im wissenschaftlichen Diskurs - unbestimmt bleibende Begriff der Inklusion auf einseitige Weise interpretiert wird. Radikalen Inklusionsbefürwortern geht es um eine „Schule für alle“, also um eine organisatorische Entdifferenzierung des schulischen Systems. Nur so lasse sich, davon sind sie fest überzeugt, die Idee der Inklusion verwirklichen. Aber auch darüber hinaus wird nicht selten die Frage gestellt: „Schreibt denn die UN-Behindertenrechtskonvention nicht sogar vor, dass alle speziellen Einrichtungen aufgelöst werden müssen? “ Diese Annahme ist unzutreffend: Sie ist weder im Wortlaut in der Behindertenrechtskonvention enthalten noch Inklusion kontrovers Bernd Ahrbeck Berlin Angela Ehlers Hamburg VHN 3 | 2016 249 BERND AHRBECK, ANGELA EHLERS Inklusion kontrovers DIALOG lässt sie sich aus ihrem Sinngehalt herleiten. Das betont auch der Europarat (2006) in seinen nur wenig beachteten Empfehlungen zur Umsetzung der UN-BRK. Eine für alle Länder gültige Einheitslösung wird nicht für erstrebenswert gehalten, Bildungstraditionen und national gewachsene Strukturen sind zu berücksichtigen. Die stärkere schulische Gemeinsamkeit von Kindern mit und ohne Behinderung, die nunmehr in allen Bundesländern entsteht, stellt eine bedeutende Errungenschaft dar. Das steht außer Frage. Für viele Schüler und Schülerinnen wird sie ertragreich sein. Gleichwohl besteht die Gefahr, dass das soziale Zusammensein zu einem alles überragenden Wert wird. So, als ginge es nur noch um die Akzeptanz von Verschiedenheit oder sogar darum, dass sich Behinderung im Rahmen einer bunten Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen auflöst. „Behinderung gibt es nicht“, lautet denn auch eine im Inklusionsdiskurs verbreitete Formel. Oder auch: Behinderung soll nunmehr als soziales Konstrukt und nicht mehr als individuelles Defizit verstanden werden. Aus dieser Sicht ist es fast zwingend, dass gefordert wird, ein personenbezogener sonderpädagogischer Förderbedarf müsse abgeschafft werden. Er sei diskriminierend und beschämend, wie von prominenter Seite behauptet wird, zwänge die Betroffenen in ein Korsett, das ihre Individualität untergrabe, und verletze ihre Würde. Ein Leben in Normalität werde erst dann möglich, wenn Kinder mit Behinderung aus den Fesseln einer schädigenden Sonderbetrachtung und -behandlung befreit würden. Die systembezogene Ressourcenvergabe speist sich unter anderem aus dieser Überzeugung - auch wenn dies nicht immer offen eingestanden wird. Die auch im wissenschaftlichen Diskurs geforderte Dekategorisierung ist ein gefährliches Unternehmen. Die Zusammenlegung sonderpädagogischer Disziplinen zu einem diffusen Ganzen wie in den LES-Studiengängen, die zum Teil ganz offensichtlich gescheitert ist, kann als ein wichtiges Beispiel dafür dienen. Sie bedroht die sonderpädagogische Fachlichkeit und führt dazu, dass die Qualität der Förderung sinkt. Mit Mitteln, die „unspezifisch allen“ dienen sollen (Hinz 2009), dürfte Schüler/ innen mit Behinderung kaum geholfen sein. Sie bleiben mit ihren speziellen Bedürfnissen auf der Strecke. Diese Sorge ist leider angesichts der Entwicklung in vielen Bundesländern nicht von der Hand zu weisen. Aber bis dahin, sehr geehrte Frau Dr. Ehlers, sind wir uns doch einig. Oder nicht? Mit freundlichem Gruß Ihr Bernd Ahrbeck Angela Ehlers an Bernd Ahrbeck Lieber Herr Ahrbeck, ich freue mich über den Diskurs mit Ihnen als renommiertem Erziehungswissenschaftler mit hoher sonderpädagogischer Expertise. Das ist für mich außerordentlich spannend und für den Hamburger Weg zur inklusiven Bildung eine Auszeichnung. Die Entwicklung der inklusiven Schule ist in der Tat ein heftig umstrittenes Thema. Und das Ringen um den richtigen Weg für alle Kinder und Jugendlichen - nicht nur für diejenigen mit einem anerkannten sonderpädagogischen Förderbedarf - wird uns sicherlich noch lange beschäftigen. Meiner Wahrnehmung nach, die sich aus täglichen Erfahrungen mit Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern sowie Eltern vor Ort speist, konsolidiert sich bei allem, was an Arbeit noch vor uns liegt, die Situation in VHN 3 | 2016 250 BERND AHRBECK, ANGELA EHLERS Inklusion kontrovers DIALOG Hamburg gerade. Im Koalitionsvertrag für die eben begonnene 21. Legislaturperiode nimmt die Ausgestaltung einer inklusiven Gesellschaft einen breiten Raum ein, und insbesondere für den Bereich Bildung werden für die inklusive Entwicklung von Hamburgs Schulen klare Akzente gesetzt. Hinzu kommt die hochaktuelle Vereinbarung des Staatsrätekollegiums als Lenkungsgruppe für die Umsetzung der UN-BRK mit der Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen. Diese gemeinsame Erklärung hat neben weiteren Aspekten folgenden Nutzen: n Einbeziehung und Konsultation der Menschen mit Behinderungen bzw. der sie vertretenden Organisationen - die sogenannte Zivilgesellschaft - in alle Entwicklungsprozesse hin zu einer inklusiven Gesellschaft, insbesondere in Maßnahmen zur Entwicklung des lebenslangen inklusiven Lernens (vgl. Artikel 24 und 33 der UN-BRK), n Schaffung von Transparenz und Beteiligung durch mindestens eine verlässliche Ansprechperson in jeder Behörde (Focal point), die den Entwicklungsprozess organisiert und begleitet, n und damit Sicherstellung, dass die Umsetzung der UN-BRK ein gemeinsamer politischer Prozess ist, der Bund, Länder und Kommunen bindet und keineswegs - wie manchmal suggeriert - nur den Bildungsbereich betrifft, wie Deutschland bei der ersten Staatenprüfung im März 2015 noch einmal nachdrücklich erfahren hat. Für Hamburg ist es ein wichtiger Schritt, dass der Umsetzungsprozess der UN-BRK so einen hohen Stellenwert gewonnen hat und damit vermieden wird, dass einzelne Artikel oder auch die gesamte Konvention auf eine einseitige, womöglich radikalisierte Weise interpretiert werden, wie Sie ja auch in Ihrem Brief andeuten (vgl. Döttinger/ Ehlers 2015). Radikale Positionen sind immer schwierig und selten dienlich für die Entwicklung ausgewogener Prozesse, da sind wir uns sehr einig; aber ich behaupte, dass Hamburg gerade im Bildungsbereich zwar schnell und grundlegend, aber ausgewogen und bedachtsam vorgeht. Als ein Beispiel hierfür sei nur kurz das uneingeschränkte Elternwahlrecht genannt, das allen Sorgeberechtigten die Wahl zwischen der allgemeinen Schule und einer speziellen Einrichtung für ihre Kinder mit Behinderungen sichert. Dieser ruhige Prozess zeigt sich unter anderem auch in den zahlreichen begleitenden Handreichungen und praktischen Hinweisen für Fachkräfte und Eltern sowie in der umfassenden Begleitung der Bildungseinrichtungen durch Fortbildungen, Coaching, Supervision und vieles mehr. Das gilt keineswegs nur für die Hamburger Schulen, sondern ebenso etwa für die Kindertageseinrichtungen, die Einrichtungen der beruflichen Bildung und die Jugendhilfe. Ich stimme Ihnen, lieber Herr Prof. Ahrbeck, vollständig zu, dass nicht nur alle Artikel der UN-BRK, also auch der Artikel 7 zum Wohl des Kindes, zu beachten sind, sondern ebenso insbesondere die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen. Und wir sind uns sicherlich auch einig darin, dass der menschenrechtliche Behinderungsbegriff, wie ihn die UN- BRK ja ausdrücklich zugrunde legt, sowie das Konzept der Menschenstärken für alle Menschenkinder in marginalen Positionen gilt. Daneben ist es meiner Ansicht nach selbstverständlich, unsere deutschen Bildungstraditionen und unsere gewachsenen Strukturen zu berücksichtigen, um die Menschen auf dem Weg zu einem inklusiven Bildungsangebot mitzunehmen und nicht politische Entscheidungen gegen sie zu fällen. Ein Beispiel ist hier das bereits erwähnte Elternwahlrecht und der Erhalt der speziellen Sonderschulen sowie der Bildungsabteilungen der Regionalen Bildungs- und Beratungszentren (ReBBZ) in Hamburg. VHN 3 | 2016 251 BERND AHRBECK, ANGELA EHLERS Inklusion kontrovers DIALOG Aber wir sind uns sicherlich auch darin einig, dass hier eine gezielte Weiterentwicklung ebenso dringend nottut wie in den allgemeinen Schulen. Besonders dringlich erscheint mir die Unterrichtsentwicklung und Leistungsorientierung für alle Kinder und Jugendlichen sowohl im sogenannten Mittelfeld als auch in allen marginalen Positionen. Ich denke neben den Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen bzw. einem sonderpädagogischen Förderbedarf an diejenigen mit einem Migrationshintergrund, mit Fluchterfahrungen und Traumatisierungen, mit Lebenssituationen in Armutslagen, aber auch mit besonderen und hohen Begabungen. Wir haben die Verpflichtung, angemessene Vorkehrungen für alle Kinder und Jugendlichen an allen Lernorten zu schaffen. Das gilt aus meiner Sicht unbedingt ebenso für die speziellen Einrichtungen, in denen die Unterrichtsentwicklung und Leistungsorientierung bisher häufig vernachlässigt wird. Wobei wir beim nächsten Punkt sind. Sie schreiben, dass Lehrerinnen und Lehrer nicht über die Bedingungen verfügen würden, die sie für eine erfolgreiche inklusive Bildungsarbeit benötigten. Diese Ansicht kann ich aus der Hamburger Warte ebenfalls nicht teilen. Es gibt vielfältige Angebote der Begleitung der einzelnen Schule, der Rückmeldungen zu Leistungen in den Fächern, zur Schulentwicklung usw. Und das Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung bietet eine Vielzahl an Fortbildungen zur Unterrichtsentwicklung und Erweiterung der unterrichtlichen Kompetenzen in heterogenen Lerngruppen bis hin zum Coaching von Jahrgangs- oder Klassenteams und zur Supervision an. Daneben bieten wir als Behörde zahlreiche landesweite Veranstaltungen sowie Qualifizierungen an. Genannt werden müssen hier unbedingt die Zertifizierungen für Förderkoordinatorinnen und Förderkoordinatoren an allgemeinen Schulen sowie die vielfältigen Netzwerke und multiprofessionellen Austauschrunden. Lange nicht alle bereitgestellten Angebote für eine gelingende inklusive Bildung kann ich im Rahmen unseres kleinen Briefwechsels aufführen, aber zwei Aspekte möchte ich doch erwähnen: n Die Rahmenvereinbarung Schule - Jugendhilfe zur gezielten und paritätischen Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit sehr herausfordernden Verhaltensweisen und ihren Eltern und Angehörigen sowie n die Schulbesuche zum Stand der inklusiven Bildung, die ein Experten- und Steuerungswissen generieren können, um das uns andere Länder beneiden dürften. Es geht also in Hamburg keinesfalls darum, dass „sich Behinderung im Rahmen einer bunten Vielfalt unterschiedlicher Lebensformen auflöst“, wie Sie schreiben. Sondern den Akteuren im Entwicklungsprozess inklusiver Hamburger Schulen geht es um passgenaue und förderliche Angebote je nach individuellem Bedarf und besonderen Bedingungen des einzelnen Kindes oder Jugendlichen (Freie und Hansestadt Hamburg 2015). Auch wir haben uns übrigens für eine Mischform aus kindbezogener und systembezogener Ressourcenvergabe entschieden. Diese Entscheidung fußt aber keinesfalls auf der Annahme, dass alle Schülerinnen und Schüler gleich und damit auch gleich oder „unspezifisch“ zu versorgen seien, sondern auf der Überlegung, dass eine systemische Versorgung der Planungssicherheit der Schulen dient. Aber die Frage der Ressourcensteuerung und der sinnvollen prozessbegleitenden Diagnostik können wir vielleicht in einer nächsten Runde diskutieren. Was meinen Sie dazu? Mit herzlichen Grüßen aus Hamburg Ihre Angela Ehlers VHN 3 | 2016 252 BERND AHRBECK, ANGELA EHLERS Inklusion kontrovers DIALOG Bernd Ahrbeck an Angela Ehlers Liebe Frau Ehlers, haben Sie vielen Dank für Ihre Antwort, in der Sie meinen Überlegungen in vielen Bereichen zustimmen, Gemeinsamkeiten feststellen, aber auch einige mehr oder weniger kontroverse Punkte ansprechen. Bevor ich unmittelbar auf Ihre zuletzt gestellte Frage eingehe, noch einige Anmerkungen. Ich beziehe mich in meiner Darstellung nicht speziell auf die Hamburger Situation, sondern auf das, was theoretisch diskutiert wird, für verschiedene Bundesländer dokumentiert ist und sich vielfach vor Ort beobachten lässt. Faktisch beschreiten die einzelnen Bundesländer unterschiedliche Wege bezüglich des Entwicklungstempos, aber auch hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung des Umsteuerungsprozesses und ihrer Zielvorstellungen. Länder wie Bayern und Sachsen wollen auch langfristig ein differenziertes System aufrechterhalten, andere wie Bremen spezielle Einrichtungen weitestgehend abschaffen. Ein wirkliches Elternwahlrecht kann es natürlich nur dort geben, wo faktisch auch Wahlmöglichkeiten bestehen und jedes der Systeme angemessen ausgestattet ist. Es geht dabei also um eine grundsätzliche Frage: auch dann, wenn sich künftig mehr Eltern für eine gemeinsame Beschulung entscheiden. Bedenklich ist allerdings eine politisch verbreitete Einstellung, die den Elternwillen trotz gegenteiliger Bekundungen gering schätzt - zuweilen mit Unterstützung aus dem wissenschaftlichen Bereich. Sie geht untergründig davon aus, dass die heutigen Eltern nicht aufgeklärt genug seien, um den Intentionen der politischen Entscheidungsträger zu folgen. Die Eltern seien „noch nicht so weit“, heißt es dann, es sei noch nicht gelungen, sie auf den richtigen Weg „mitzunehmen“. Eine solche Haltung ist aus meiner Sicht fatal, zumal nationale und internationale Befunde zeigen, dass auch nach langen Integrations- und Inklusionserfahrungen unterschiedliche Sichtweisen und Wünsche fortbestehen (vgl. Ahrbeck u. a. 2015; Felder/ Schneiders 2016). Insofern bin ich froh und erleichtert, wenn Sie schreiben, dass in Hamburg der Elternwille besonders ernst genommen wird. Ich stimme Ihnen auch in folgendem Punkt zu: Bei institutionellen und pädagogischen Weiterentwicklungen ist es äußerst wichtig, dass auch der Leistungsaspekt angemessen berücksichtigt wird. Eine rein „menschenrechtliche“ Betrachtung übersieht dies häufig. Es kommt eben nicht nur darauf an, dass zukünftig mehr Schülerinnen und Schüler gemeinsam beschult werden, sondern es geht auch darum, wie dies geschieht, welche Erfolge sich einstellen und welche Misserfolge zu verzeichnen sind. Insofern bleibt abzuwarten, wie sich die angestrebte Individualisierung des Unterrichts längerfristig auswirken wird. Vor allem angesichts dessen, dass sich gegenwärtig kritische Stimmen mehren, die unter Effektivitätsgesichtspunkten Zweifel an einer hochgradigen Individualisierung anmelden. Erinnert sei hier beispielhaft an die Analyse des finnischen Schulsystems, die Heller Sahlgren (2015) kürzlich vorgelegt hat. Nun aber unmittelbar zur Ressourcensteuerung und einer prozessbegleitenden Diagnostik. Außer Zweifel steht, dass pädagogische Prozesse generell einer ständigen Rückkopplung bedürfen. Sie sind auf eine kontinuierliche Diagnostik angewiesen. Das gilt auch für die Förderung des einzelnen Kindes, zumal bei individualisiertem Unterricht. Schülerinnen und Schüler mit stärkeren Beeinträchtigungen bedürfen hier einer besonderen Aufmerksamkeit, oft einer speziell auf sie abgestimmten, intensiveren Diagnostik, die sich ihren schulischen (und außerschulischen) Entwicklungs- VHN 3 | 2016 253 BERND AHRBECK, ANGELA EHLERS Inklusion kontrovers DIALOG problemen stellt. Die Vergabe eines sonderpädagogischen Förderbedarfs folgt u. a. dieser Notwendigkeit. Er wird dann fehlinterpretiert, wenn er ausschließlich als Statusfeststellung dient, ohne dass personen- und umweltbezogene Förderperspektiven eröffnet werden (vgl. Asmussen 2012). Ein weiteres Missverständnis bezieht sich auf die verbreitete Sorge vor einer sogenannten Defizitorientierung. Ihr zufolge soll auch eine Förderungszwecken dienende Diagnostik permanent in der Gefahr stehen, Kinder auf ungehörige Weise zu etikettieren, indem sie auf ihre Unzulänglichkeiten festgelegt werden. Übersehen wird dabei, dass eine zielgerichtete Förderung überhaupt erst dadurch möglich wird, dass Beeinträchtigungen und Entwicklungshindernisse als solche wahrgenommen, anerkannt und analysiert werden. Erst auf dieser Basis kann sich eine Besserung der kindlichen Lern- und Entwicklungssituation einstellen, nicht dadurch, dass der pädagogische Blick halbiert wird und sich von dem abwendet, was als schwierig und belastend gilt. Denn damit ist der kindlichen Entwicklung nicht gedient. Aber wenn ich Ihre Ausführungen recht interpretiere, sehen Sie dies auch so. Das leitet über zu der Frage nach einer systemischen Ressourcenvergabe. Sie bietet sicherlich einige Vorteile. Schulen können flexibler mit den zur Verfügung stehenden Mitteln umgehen und sie stärker für unterrichtliche Prozesse einsetzen, die nicht nur den beeinträchtigten Kindern dienen. Gleichwohl ist dieses Verfahren nicht unproblematisch. Zunächst stellt sich die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Schulen, die sich auf wandelnde Schülerpopulationen und ihre speziellen Problemlagen einstellen müssen. Mit der Folge, dass unterschiedliche Bedarfe entstehen, die auch bei ähnlichen sozialen Rahmenbedingungen erheblich variieren können. Weiterhin muss sichergestellt werden, dass die notwendigen Mittel auch wirklich beim Kind ankommen und nicht - was faktisch häufig geschieht - im System Schule versickern. Diese Klage ist von Eltern und Lehrern in vielen Bundesländern immer wieder zu hören. Angesichts der ohnehin nur begrenzt zur Verfügung stehenden Mittel, die häufig als unzureichend erlebt werden, sollte diese Sorge ernst genommen werden. Und es muss bedacht werden, was ich bereits eingangs geschrieben habe: Ein immer wieder vorgebrachtes Argument für eine systemische Mittelvergabe lautet, dass damit eine Fixierung auf einzelne problembehaftete Kinder vermieden und Etikettierungen verhindert werden. Aber ohne einen gezielten Blick auf die betroffenen Kinder, das schreiben Sie ja auch, können inklusive Prozesse nicht erfolgreich gestaltet werden. Mich macht es schon einigermaßen nachdenklich, wenn Lehrerinnen und Lehrer mit zunehmender Inklusionserfahrung dafür plädieren, dass zu einem individuellen sonderpädagogischen Förderbedarf und einer personenbezogenen Mittelvergabe zurückgekehrt wird. Das zumindest ist das Zwischenergebnis einer großen, noch laufenden empirischen Studie, über die ich hier leider noch nicht ausführlicher berichten kann. Auf Ihre abschließende Antwort, liebe Frau Ehlers, bin ich gespannt. Ihr Bernd Ahrbeck Angela Ehlers an Bernd Ahrbeck Lieber Herr Ahrbeck, herzlichen Dank für Ihre freundliche Antwort, die mich zu einer kurzen Replik anregt. Es ist natürlich Ihr großer Vorteil, aber auch Ihr Auftrag als Wissenschaftler, den Gesamtüberblick zu behalten, während ich vor allem VHN 3 | 2016 254 BERND AHRBECK, ANGELA EHLERS Inklusion kontrovers DIALOG auf die Entwicklung im Bundesland Hamburg schaue, aber schon auch die Entwicklungen in den anderen Ländern und auf der Ebene der Kultusministerkonferenz einbeziehe. Sie schreiben, ein wirkliches Elternwahlrecht könne es nur dort geben, wo faktisch Wahlmöglichkeiten bestehen und jedes der Systeme angemessen ausgestattet sei. Dem schließe ich mich selbstverständlich an. Allerdings gibt es immer wieder Diskussionen darum, was als angemessene Ausstattung der Schulen für alle Kinder und Jugendlichen empfunden wird. Dabei ist für mich ein wesentliches Ausstattungsmerkmal der inklusiven Schule, dass dort Schülerinnen und Schüler mit einem besonderen Unterstützungsbedarf und ohne einen solchen miteinander leben, lernen, zusammenwirken und voneinander profitieren. Eltern müssen diesen - wie ich finde - herausragenden Vorteil abwägen gegen das möglicherweise nicht wohnortnah vorhandene Therapieschwimmbecken oder die Sonderpädagogin mit Spezialkompetenz in jeder Klasse. Über die besondere Verantwortung, die den Eltern durch diese Entscheidungsfreiheit übertragen wird, können wir sicherlich auch noch einmal an anderer Stelle ausführlich diskutieren. Die von Ihnen, lieber Herr Ahrbeck, zitierte politische Einstellung, den Elternwillen trotz gegenteiliger Bekundungen geringzuschätzen, weil die Eltern noch nicht auf dem richtigen Bewusstseinsstand für inklusive Bildung seien, lehne ich naturgemäß genauso vehement ab wie Sie. Eine solche von Arroganz und Ignoranz geprägte Grundhaltung ist vermessen und der Zivilgesellschaft, die wie von der UN-BRK vorgeschrieben (Artikel 33) in alle Prozesse einer inklusiven gesellschaftlichen Entwicklung einzubeziehen ist, schlichtweg unangemessen. Ich setze dem die These entgegen, dass die Schul- und Unterrichtsentwicklung vielerorts noch nicht so weit vorangeschritten ist, dass sich Eltern darauf verlassen können, für ihr Kind - insbesondere mit einem intensiveren sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf - eine gute inklusive Schule zu finden. Zu allen diesen Überlegungen gehört aber auch die Diskussion, ob denn die Schul- und Unterrichtsentwicklung in den speziellen Einrichtungen (Sonder-/ Förderschulen) mit den aktuellen wissenschaftlichen Grundlagen und Erkenntnissen Schritt hält. Ich habe da mancherorts meine Zweifel und glaube, dass bis zur Sicherstellung einer echten Wahlfreiheit mit angemessenen Leistungsanforderungen an inklusiven wie speziellen Standorten noch viel zu tun ist. Es muss das Ziel für jede Schülerin und jeden Schüler unabhängig von seinen Kompetenzen und Problemlagen sein, zu größtmöglicher Leistungsfähigkeit, Teilhabe und Teilnahme an gesellschaftlichen Prozessen zu gelangen und angemessene Unterstützung auf diesem Weg zu erhalten. Dazu gehört für mich, dass pädagogische Fachkräfte unterschiedlicher Professionen in abgestimmter Teamarbeit diese Leistungen einfordern. Es kann nicht sein, dass Schülerinnen und Schüler in speziellen Einrichtungen für die Förderschwerpunkte Geistige Entwicklung oder Körperliche und motorische Entwicklung einmal im Rahmen unterrichtlicher Förderpflege lernen, Bananenbrei zu schlucken, und dass dann gilt, bis zum Ende der Schulzeit wird immer wieder der Bananenbrei gegessen. Das ist sicherlich eine etwas überspitzte Darstellung, wird aber vermutlich bei manchem Insider gewisse Assoziationen wachrufen. Aber ein Entweder-oder zwischen Kontakten und Kommunikationsmöglichkeiten zu gleichaltrigen Mitschülerinnen und Mitschülern und einem fachlich-sonderpädagogisch hochqualifizierten Bildungsangebot darf es aus meiner Sicht im Lichte der UN-BRK sowieso nicht geben. Aber auch in dieser Frage sind wir uns sicherlich wieder einig. VHN 3 | 2016 255 BERND AHRBECK, ANGELA EHLERS Inklusion kontrovers DIALOG Sie sprechen in Ihrem Beitrag die Zweifel an, die unter Effektivitätsgesichtspunkten an der Zielsetzung einer intensiven Individualisierung angemeldet werden. Hier habe ich allerdings große Fragezeichen, denn das, was ich beobachte, ist häufig nach wie vor einerseits das Fehlen einer gezielten Individualisierung mit klar benannten Zielsetzungen im Rahmen einer qualifizierten Förderplanung, andererseits der Mangel an Lerngelegenheiten in gezielt geplanten sozialen Gruppenprozessen in einem methodisch variantenreichen Unterrichtsgeschehen. Hier wie auch in den Fragen der lernprozessbegleitenden Diagnostik und der integrierten Lern- und Förderplanung wünsche ich mir deutlich mehr Forschung und konkrete Hinweise der Wissenschaft in der Verknüpfung von Kompetenzen für inklusives Lehren und Lernen. Ich wünsche mir von der Wissenschaft die Integration in bereits erprobte Modelle guten Unterrichts in Bezug auf inklusive schulische Kontexte, in Fragen des Lernens unter erschwerten Bedingungen sowie in fachdidaktische, fachspezifische Zusammenhänge, kurzum die universitäre Forschung in Bezug auf Kompetenzen für inklusives Lehren und Lernen. Und da sind wir mit Sicherheit in unseren Betrachtungsweisen wiederum dicht beieinander. Herzlich Ihre Angela Ehlers Literatur Ahrbeck, B.; Fickler-Stang, U.; Friedrich, S.; Weiland, K. (2015): Befragung der Elternvertreterinnen und Elternvertreter zur Umsetzung der Inklusion in Nordrhein-Westfalen. Forschungsbericht. Eine Studie im Auftrag der FDP-Fraktion im Land Nordrhein-Westfalen. Berlin: Humboldt-Universität Asmussen, S. (2012): Sonderpädagogische Diagnostik - eine Bestandsaufnahme. In: Pädagogische Impulse, vds-Landesverband Baden- Württemberg 45 (3), 21 -25 Döttinger, I.; Ehlers, A. (2015): Inklusion in Hamburg. In: Bertelsmann Stiftung, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Deutsche UNESCO-Kommission (Hrsg.): Gemeinsam lernen - Auf dem Weg zu einer inklusiven Schule. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung, 170 -192 Europarat, Ministerkomitee (2006): Empfehlung Rec (2006)5 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten zum Aktionsplan des Europarats zur Förderung der Rechte und vollen Teilhabe behinderter Menschen an der Gesellschaft: Verbesserung der Lebensqualität behinderter Menschen in Europa 2006 -2015. Online unter: http: / / www.behindertenbeauftragte.de/ Sha redDocs/ Downloads/ DE/ AktionsplanEuroparat. pdf? __blob=publicationFile, 15. 1. 2016 Felder, M.; Schneiders, K. (2016): Inklusion kontrovers: Herausforderungen für die Soziale Arbeit. Schwalbach: Wochenschau Freie und Hansestadt Hamburg, Behörde für Schule und Berufsbildung (Hrsg.) (2015): Handreichung Inklusive Bildung und sonderpädagogische Förderung, Baustein Diagnostik und Förderplanung. Online unter: http: / / www.ham burg.de/ contentblob/ 4375226/ data/ diagnos tik-download.pdf, 15. 1. 2016 Heller Sahlgren, G. (2015): Real Finnish Lessons. The true story of an educational superpower. London: Centre for policy studies. Online unter: https: / / www.cps.org.uk/ files/ reports/ original/ 150410115444-RealFinnishLessonsFULLDRAFT COVER.pdf, 15. 1. 2016 Hinz, A. (2009): Inklusive Pädagogik in der Schule - veränderter Orientierungsrahmen für die schulische Sonderpädagogik! ? Oder doch deren Ende? In: Zeitschrift für Heilpädagogik 60, 171 -179 Tenorth, H.-E. (2013): Inklusion - Prämissen und Problemzonen eines kontroversen Themas. In: Baumert, J. u. a. (Hrsg.): Inklusion. Forschungsergebnisse und Perspektiven. Schulmanagement Handbuch 146. München: Oldenbourg, 6 -14 UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2009). Online unter: https: / / www.behindertenbeauftragter.de/ SharedDocs/ Publikationen/ DE/ Broschuere_UNKonvention_ KK.pdf? __blob=publicationFile, 15. 1. 2016 VHN 3 | 2016 256 BERND AHRBECK, ANGELA EHLERS Inklusion kontrovers DIALOG Anschrift der Autoren Prof. Dr. Bernd Ahrbeck Humboldt-Universität zu Berlin Institut für Rehabilitationswissenschaften Georgenstraße 36 D-10099 Berlin Tel. +49 (0) 30 20 93 42 21 / -43 94 bernd.ahrbeck@hu-berlin.de Dr. Angela Ehlers Behörde für Schule und Berufsbildung Referat Inklusion - Gestaltung und Konzeption Hamburger Straße 31 D-22083 Hamburg Tel. +49 (0) 40 4 28 63 20 94 angela.ehlers@bsb.hamburg.de