eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 85/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2016
854

Fachbeitrag: Lehrer/innenbildung für Inklusion in der Sekundarstufe

101
2016
Gottfried Biewer
Ausgehend von aktuellen internationalen Entwicklungslinien einer Lehrer/innenbildung für Inklusion auf dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention, stellt der Beitrag Chancen und Problemlagen am Beispiel der gegenwärtigen Lehrerbildungsreform in Österreich dar. Eine eigenständige Ausbildung zur Sonderschullehrkraft ist dort nicht mehr vorgesehen, zugunsten der Verankerung inklusionspädagogischer Inhalte in der Regelschullehrerausbildung. Darüber hinaus besteht die Option eines vertieften Studiums, das in der Sekundarstufe in der Ersetzung eines der beiden Unterrichtsfächer durch -Inklusive Pädagogik als Schwerpunktstudium besteht. Die Veränderungen sind eingebettet in den Versuch einer grundlegenden Reform der gesamten Pädagog/innenbildung für alle Altersstufen von 0 bis 18 Jahren. Die Etablierung Inklusiver Pädagogik in der Regelschullehrerausbildung mit einer optionalen Vertiefung bietet neue Chancen, die aber von mehreren Rahmenbedingungen der Realisierung abhängen und die Gefahr des Scheiterns evozieren.
5_085_2016_004_0323
323 VHN, 85. Jg., S. 323 -329 (2016) DOI 10.2378/ vhn2016.art40d © Ernst Reinhardt Verlag Lehrer/ innenbildung für Inklusion in der Sekundarstufe Internationale Entwicklungen und Problemlagen am Beispiel Österreichs Gottfried Biewer Universität Wien Zusammenfassung: Ausgehend von aktuellen internationalen Entwicklungslinien einer Lehrer/ innenbildung für Inklusion auf dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention, stellt der Beitrag Chancen und Problemlagen am Beispiel der gegenwärtigen Lehrerbildungsreform in Österreich dar. Eine eigenständige Ausbildung zur Sonderschullehrkraft ist dort nicht mehr vorgesehen, zugunsten der Verankerung inklusionspädagogischer Inhalte in der Regelschullehrerausbildung. Darüber hinaus besteht die Option eines vertieften Studiums, das in der Sekundarstufe in der Ersetzung eines der beiden Unterrichtsfächer durch Inklusive Pädagogik als Schwerpunktstudium besteht. Die Veränderungen sind eingebettet in den Versuch einer grundlegenden Reform der gesamten Pädagog/ innenbildung für alle Altersstufen von 0 bis 18 Jahren. Die Etablierung Inklusiver Pädagogik in der Regelschullehrerausbildung mit einer optionalen Vertiefung bietet neue Chancen, die aber von mehreren Rahmenbedingungen der Realisierung abhängen und die Gefahr des Scheiterns evozieren. Schlüsselbegriffe: Professionalisierung, Inklusion, Lehrerbildung, Österreich Teacher Training for Inclusion in Secondary Schools - International Trends and Difficulties on the Example of Austria Summary: Starting from current international developments, based on the UNCRPD, this paper presents chances and problems of the reform of teacher education in Austria. The hitherto separate training of special school teachers will be cancelled in favour of establishing inclusion as part of the education of all teachers. Furthermore, there will be the new option to replace one of two teaching subjects by studying inclusive education in a deepened way. The changes are embedded in a fundamental reform of teacher education in Austria for all age brackets from 0 to 18. The establishment of inclusive education in the new teacher education for regular schools, with the option of deepening by studying inclusive education as a subject, provides additional chances. Nevertheless, the realisation depends on several frame conditions and evokes the risk of failure. Keywords: Professionalization, inclusion, teacher education, Austria FACH B E ITR AG TH EME NSTR ANG Inklusion und Pädagogische Profession 1 Konzeptionen schulischer Inklusion und korrespondierende Professionsmodelle Eine eigenständige Ausbildung zum sonderpädagogischen Lehramt steht auf dem Hintergrund der Forderung nach Inklusion gegenwärtig auch im internationalen Rahmen zur Disposition. Was an deren Stelle treten soll, ist aber durchaus offen und führt weltweit zu sehr unterschiedlichen Vorschlägen (Forlin 2012). Konsens besteht bei allen Reformversuchen für Inklusion in der Forderung, allen Lehrkräften notwendige Basiskompetenzen für den inklusiven Unterricht zu vermitteln. Die Frage nach darüber hinausgehenden Spezialisierungszwei- VHN 4 | 2016 324 GOTTFRIED BIEWER Lehrer/ innenbildung für Inklusion FACH B E ITR AG gen für den inklusiven Unterricht wird gegenwärtig sehr unterschiedlich beantwortet. So wird der Anspruch erhoben, Lehrkräfte sollten ihren Unterricht so gestalten, dass sie allen Kindern gerecht werden. Mitunter werden sie aber mit dieser Forderung alleine gelassen, ohne vertiefende professionelle Unterstützung. Dies spiegelt sich auch in den auf die Berufstätigkeit vorbereitenden Ausbildungsmodellen wider. Der Begriff Inklusion hat im Bildungskontext mehrere mögliche Bedeutungen, welche die Bezugsgruppe unterschiedlich weit fassen. Von einer engeren Fassung von Inklusion kann ausgegangen werden, wenn der Begriff sich auf die ehemalige Bezugsgruppe der Sonderpädagogik bezieht. Die weitere Fassung sieht Kinder mit Behinderungen nur noch als eine von vielen Gruppen, die von Marginalisierung und Ausschluss bedroht sind, neben Kindern „aus ethnischen, sprachlichen und religiösen Minderheiten und - mit globalem Blick - auch HIV-Waisen, Flüchtlings- und Straßenkinder“ (Biewer/ Schütz 2016, 124). Dieses Verständnis wird seit 2005 durch die „Guidelines for Inclusion“ der UNESCO in globalem Rahmen propagiert (UNESCO 2005). Daneben finden sich Positionen, Inklusion beziehe sich überhaupt auf institutionelle Systeme und die Rahmenbedingungen für alle Kinder, die sie besuchen, seien damit angesprochen. Gleichzeitig wird auf die Benennung von Problemen verzichtet, die sich für einzelne Kinder dort stellen. Ungeachtet des moralischen Postulats, alle Lehrkräfte sollten sich für alle Schüler/ innen verantwortlich fühlen, gibt es doch gravierende Unterschiede bei den Kompetenzen der Lehrkräfte, dieser Verantwortung auch nachkommen zu können. Es ist nicht nur eine Frage der Einstellungen, sondern auch des Wissens und der Fähigkeiten der Lehrkräfte, den Herausforderungen einer sehr heterogenen Schülerschaft zu genügen. Es macht daher durchaus Sinn, die Frage nach spezialisiertem Wissen und entsprechenden Fähigkeiten der Lehrkräfte in inklusiven Lernumgebungen zu stellen. Die Erwartung, alle Lehrkräfte sollten sich verantwortlich für alle Schüler/ innen fühlen ist eine der auch im internationalen Rahmen vertretenen Positionen, die aber der Kritik von denjenigen ausgesetzt ist, die hier eine Quelle der Überforderung und des Widerwillens gegen den Inklusionsanspruch sehen. Alternativ dazu wird sonderpädagogische Unterstützung für einzelne Kinder, entsprechend ihren festgestellten Defiziten, im Kontext von Inklusion ebenfalls vertreten. Daneben oder dazwischen gibt es eine Vielzahl weiterer Modelle mit mehr oder weniger inklusionspädagogischer oder sonderpädagogischer Professionalität. 2 Ausgangsbedingungen der Pädagog/ innenausbildung in Österreich Österreich hat, ähnlich wie die übrigen deutschsprachigen Länder, eine Primarstufe („Volksschule“), die als Einheitsschule geführt wird, mit einer anschließenden 4-jährigen Hauptschule, die nach moderaten inhaltlichen Veränderungen mittlerweile „Neue Mittelschule“ heißt, und mit einer anschließenden einjährigen Polytechnischen Schule. Parallel dazu gibt es die „Allgemeinbildende Höhere Schule (AHS)“ mit einer 4-jährigen Unterstufe für die Schülerinnen und Schüler von 10 bis 14 Jahren (Sekundarstufe I) und die AHS-Oberstufe für die Altersstufe von 14 bis 18 Jahren (Sekundarstufe II). Ohne das vorhandene Sonderschulsystem infrage zu stellen, wurde für Eltern von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf 1993 das Wahlrecht zwischen Sonderschule und integrativer Beschulung eingeführt. In den folgenden 10 Jahren führte dies zu einer kontinuierlichen Zunahme der Integrationsquote, die allerdings seit 2004 etwa konstant ist. Die Quote der Schüler/ innen mit SPF im Schulpflichtalter beträgt gegenwärtig ca. 3,8 %, wobei sich etwa die Hälfte dieser Schüler in Sonderschul- VHN 4 | 2016 325 GOTTFRIED BIEWER Lehrer/ innenbildung für Inklusion FACH B E ITR AG klassen und die andere Hälfte in integrativen Settings befinden. Sowohl die Quote der Etikettierung mit einem SPF wie auch die Sonderschulquote von unter 2 % (mit 1,5 % in der Primar- und 2,2 % in der Sekundarstufe) (vgl. BMBF 2015) liegen deutlich unter denjenigen der übrigen deutschsprachigen Länder. Die recht hohe Integrationsquote erklärt sich z. T. durch eine im Vergleich zu Deutschland und der Schweiz günstige personelle Belegung der Integrationsklassen in Form von Doppelbesetzungen mit Regelschullehrkraft und Sonderpädagogen (Biewer 2006). Lehrkräfte für Volks-, Haupt- und Sonderschulen wurden bislang in einem 3-jährigen einphasigen BA-Studium an Pädagogischen Hochschulen ausgebildet, während Lehrkräfte an Höheren Schulen ein mindestens 4 ½-jähriges Magisterstudium an Universitäten absolvierten. Es handelte sich um unterschiedliche Studiendauer an unterschiedlichen Institutionen. Während die Pädagogischen Hochschulen ebenso wie alle Schulen dem Bildungsministerium unterstehen, ist für die Finanzierung der Ausbildung der Lehrkräfte an Höheren Schulen das Wissenschaftsministerium zuständig über die seit 2002 autonomen Universitäten. Zwischen beiden Berufsgruppen existieren daher erhebliche Unterschiede bezüglich Studiendauer, Besoldung und sozialem Status. Die jetzigen Pädagogischen Hochschulen wurden erst im Jahre 2007 zu Hochschulen erklärt, die mit dem Bachelor einen ersten akademischen Abschluss vergeben dürfen. Zuvor waren sie als Pädagogische Akademien zwar Ausbildungseinrichtungen des tertiären Sektors, hatten aber keinen Hochschulstatus. Als Personal wurden Lehrkräfte aus den Schulen rekrutiert, mit der Folge, dass sehr viele der dort Lehrenden selbst keinen akademischen Abschluss vorweisen konnten. Die Ernennung zu Hochschulen war zwar verbunden mit Qualifizierungsversuchen des Personals und einer stärkeren Gewichtung akademischer Abschlüsse, strukturelle Merkmale unterschieden sie aber nach wie vor recht deutlich von den Universitäten. Dazu gehören fehlende oder unzureichende Selbstverwaltungsstrukturen bei den Pädagogischen Hochschulen, die Weisungsbefugnis vorgeordneter Dienststellen wie z. B. des zuständigen Ministeriums, eingeschränkte Möglichkeiten bei der Personalauswahl und insbesondere eine unzureichende Forschungskultur (Biewer 2010). 3 Strukturelle Rahmenbedingungen der neuen Lehrer/ innenbildung für Inklusion Im Jahre 2010 erfolgte auf der politischen Ebene der österreichischen Bundesregierung ein Vorstoß zur Neugestaltung der Pädagog/ innenausbildung über die Einsetzung einer Expert/ innenkommission. Der Hintergrund war die Feststellung einer Anzahl struktureller Defizite, auch im internationalen Vergleich. Die Qualität sollte erhöht, Akademisierung sollte für die Pädagog/ innen für alle Altersbereiche ermöglicht und getrennte Ausbildungsgänge sollten zusammengeführt werden. Insbesondere sollte die Trennung der Lehrämter für Hauptschulen und Höhere Schulen überwunden werden. Der Umgestaltungsprozess der Pädagog/ innenbildung in Österreich fällt eher zufällig zusammen mit den Anforderungen, welche die UN-Behindertenrechtskonvention und deren Postulate an das Bildungssystem stellen und die ebenfalls zu Konsequenzen auf der Ebene der Vorbildung des Fachpersonals führen müssen. Das Papier, das die Vorbereitungsgruppe für die Lehrer/ innenbildung NEU im Juni 2011 vorgelegt hat, hat den Versuch unternommen, die Ausbildung des pädagogischen Fachpersonals für die Altersgruppen von 0 bis 18 Jahren neu zu denken (Vorbereitungsgruppe Päd- VHN 4 | 2016 326 GOTTFRIED BIEWER Lehrer/ innenbildung für Inklusion FACH B E ITR AG agogInnenbildung NEU 2011). Leitend waren nicht bisherige Strukturen, sondern die Erfordernisse der Zukunft: So sollten die Ausbildungen der Fachkräfte für alle Altersstufen aufeinander abgestimmt und Möglichkeiten der Akademisierung geschaffen werden, bis hin zur Promotion. Die Trennung in verschiedene Lehrämter für Hauptschulen und Höhere Schulen sollte durch ein einheitliches Sekundarstufenlehramt Allgemeinbildung ersetzt werden. Sowohl für die Primarstufe wie für die Sekundarstufe war ein 4-jähriges Bachelorstudium vorgesehen. Der 4-jährige Bachelor sollte durch eine anschließende Induktionsphase und ein Masterstudium ergänzt werden, das mit der Induktionsphase verflochten sein kann (Vorbereitungsgruppe PädagogInnenbildung NEU 2011). Die nötige Expertise, um Kinder und Jugendliche mit Behinderungen in der Regelschule zu unterrichten, sollte in den Regelschullehrämtern angesiedelt werden. Grundlegendes Wissen in Inklusiver Pädagogik wird damit zum Inhalt für alle Stufenlehrämter. Gleichzeitig soll auch die Möglichkeit geschaffen werden, dass sich eine kleinere Gruppe von Studierenden in diese Inhalte vertiefen und das nötige Spezialwissen in der jeweiligen Schulform bereitstellen kann. Für die Sekundarstufe hat man die Form gewählt, statt zwei Unterrichtsfächer nur eines zu studieren und statt dem zweiten Unterrichtsfach ein Schwerpunktfach Inklusive Pädagogik zu wählen. Dieses Modell, das in ähnlicher Form inzwischen auch für das deutsche Bundesland Berlin vorgesehen ist, wurde 2011 über die Vorbereitungsgruppe konzipiert, und 2013 wurde über eine gleichzeitige Änderung des Hochschulgesetzes (für die Pädagogischen Hochschulen) und des Universitätsgesetzes die rechtliche Grundlage für die Umsetzung geschaffen (Feyerer 2015). Dieser gesetzliche Schritt beinhaltet eine wichtige Konsequenz für die institutionelle Zuordnung: Die Ausbildung von Lehrkräften für Kinder und Jugendliche mit Behinderung in der Sekundarstufe, die bislang ausschließlich an Pädagogischen Hochschulen erfolgte, ist seitdem auch Aufgabe der Universitäten als den Trägern der Sekundarstufenlehrerausbildungen. 4 Probleme der Umsetzung am Beispiel der Universität Wien und der Region Nordost Bedingt durch die Festlegungen im neuen Lehrer/ innenbildungsgesetz wurde der Primarstufenbereich für die Pädagogischen Hochschulen reserviert, während das neue Sekundarstufenlehramt von den Universitäten über die Kooperation mit den Pädagogischen Hochschulen angeboten werden sollte. Aus diesem Grunde beschränkte sich die Universität Wien, die traditionell nur die Lehrkräfte für Höhere Schulen ausbildete, auf die Etablierung des neuen Sekundarstufenlehramts. Die Systematik der neuen Studienpläne an der Universität Wien im Verbund mit den Pädagogischen Hochschulen in Wien und Niederösterreich verwendet einen weiten und einen engen Inklusionsbegriff (i. S. von Kapitel 1 dieses Beitrages) in unterschiedlichen Studiensträngen. So umfasst ein Viertel des Studienplans der Allgemeinen Bildungswissenschaftlichen Grundlagen - also dem, was alle Lehramtsstudierenden absolvieren müssen - Modulblöcke, die mit dem Titel „Inklusive Schule und Vielfalt“ überschrieben sind. Hier sind neben Behinderungen auch Sprache, Geschlecht und Herkunft als Heterogenitätsdimensionen genannt. Es handelt sich also um einen weiten Inklusionsbegriff, der sich auf die Vielfalt sozialer, institutioneller, kultureller und kognitiver Voraussetzungen beziehen und die Studierenden zur Einsicht führen soll, „dass Vielfalt (Heterogenität) begrifflich und empirisch als Chance gelingender schulischer Bildung zu sehen ist“ (Universität Wien 2014, o. S.). VHN 4 | 2016 327 GOTTFRIED BIEWER Lehrer/ innenbildung für Inklusion FACH B E ITR AG Mit der Abschaffung der Sonderschullehrerausbildung und ihrer Ersetzung durch die Vertiefungsmöglichkeit in Inklusiver Pädagogik war die äußere Struktur der Lehrämter neu geordnet. Als im Jahre 2011 das Papier der ExpertInnengruppe PädagogInnenbildung NEU erschien, fehlte es an den Universitäten weitgehend an der Einsicht, dass hier eine neue Aufgabe auf sie zukommen würde. Sie wurde erst zur Kenntnis genommen in dem Umfang, wie aktive Personen in diesem Bereich dafür eintraten. Dieser Prozess dauerte an allen österreichischen Universitäten lange und war an keiner Stelle durch besondere Aktivitäten der Universitätsleitungen begleitet. Vielmehr dominierten Untätigkeit oder gar Ablehnung, die erst unter mehr oder minder subtilem (äußeren) Druck zu Konsequenzen führten. Entsprechend schwierig gestaltete sich die Bereitschaft, Ressourcen für den neuen Studiengang bereitzustellen. Die Universität Wien mit mehr als 12’000 Lehramtsstudierenden im Sekundarstufenbereich hat allein aufgrund ihrer Größe eine Sonderstellung für die bundesweite Umsetzung der neuen Regelungen. Der Erstellung eines Lehrplanes für das Studium des Schwerpunktfachs Inklusive Pädagogik ging eine mehrjährige intensive interne und externe Öffentlichkeitsarbeit voraus, bevor die ersten studienrechtlichen Schritte zur Etablierung des neuen Studiengangs in die Wege geleitet wurden. Erst im Herbst 2015 bildete sich eine Curriculare Arbeitsgruppe aus Vertreter/ innen der Universität Wien und der drei beteiligten Pädagogischen Hochschulen, die ein Curriculum erstellte und den beschlussfassenden Gremien der vier Institutionen vorlegen konnte. Die gegenwärtige Situation (Sommer 2016) an der Universität Wien ist dadurch gekennzeichnet, dass ein ambitioniertes und stimmiges Curriculum für den 4-jährigen Bachelor Inklusive Pädagogik vorliegt. Dort ist vorgesehen, Grundlagen inklusiver Pädagogik und Inhalte zum „Lernen unter erschwerten Bedingungen“ zu vermitteln und damit gleichzeitig eine Abkehr von der Kategorie der Lernbehinderung vorzunehmen. Eine überwiegend non-kategoriale Orientierung trotz individueller Schwerpunktsetzungen, der hohe Stellenwert von pädagogischer Diagnostik und Beratung und die Einbindung inklusiver Fachdidaktik soll die Absolventen für eine Tätigkeit in der inklusiven Schule der Zukunft befähigen. Der Zeitpunkt des Beginns des neuen Studiengangs ist aber noch offen, da es (noch) nicht gelungen ist, die Finanzierung des Studiums insbesondere für den universitären Anteil sicherzustellen. 5 Chancen und Risiken der neuen Entwicklung Die Abschaffung der Sonderschullehrkräfte als eigene Berufsgruppe und die Integration ihrer Tätigkeitsbereiche in das professionelle Feld der Primarstufen- und Sekundarstufenlehrer/ innen darf als ein wichtiger Schritt hin zu einer inklusionsorientierten Lehrer/ innenbildung betrachtet werden. Anfangs geäußerte Befürchtungen vor einer Deprofessionalisierung und des Verlustes spezifischer Kompetenzen zur Bildung und Unterrichtung von Schüler/ innen mit Behinderung erweisen sich als gegenstandslos angesichts der deutlichen Erhöhung der Vermittlung von spezialisiertem Wissen im Vergleich zur vorausgegangenen Sonderschullehrer/ innenausbildung im neuen Lehrerbildungsformat. Die wirklichen Probleme liegen dafür in einem anderen Bereich. Als massive Problemlage stellt sich die Vorgabe der Kooperation zwischen Pädagogischen Hochschulen und Universitäten dar. Insbesondere die Autonomie der österreichischen Universitäten seit dem Universitätsgesetz 2002, die Profilbildung und eigene inhaltliche Weichenstellungen er- VHN 4 | 2016 328 GOTTFRIED BIEWER Lehrer/ innenbildung für Inklusion FACH B E ITR AG möglichte, stellt sich in dieser besonderen Situation als eine reale Gefahr für die Implementierung gesellschaftlich notwendiger Schritte dar. Da darüber hinaus Lehrerbildungsaktivitäten nicht eigens budgetiert sind, sondern Bestandteil des allgemeinen Universitätshaushaltes sind, hängt es von der Schwerpunktsetzung des jeweiligen Rektorats ab, welchen Stellenwert die Lehrer/ innenbildung in den allgemeinen Universitätsaktivitäten erhält. Da nachweisbare Forschungsleistungen und internationale Reputation mit Lehrerbildungsfächern mit hohen Studierendenzahlen nicht leicht erreichbar sind, droht diesem Bereich bereits die inneruniversitäre Marginalisierung, bevor sich überhaupt tragfähige Strukturen aufgebaut haben. Die Bereitschaft, Mittel in neue Aufgaben umzuschichten, ist in einer chronisch unterfinanzierten Universität eher gering. Österreich propagiert nach wie vor den freien Zugang zu staatlichen Universitäten, ohne Studiengebühren zu erheben und ohne Studienplatzfinanzierung. Viele Fächer, insbesondere aber der bildungswissenschaftliche Anteil des Lehramtsstudiums, leiden daher unter dem krassen Missverhältnis zwischen einer großen Zahl von Studierenden und der geringen Zahl Lehrender. Ein neues Studienfach einzurichten, das einem gesellschaftlichen Bedarf entspricht, gegenwärtig sehr gute Berufschancen der potenziellen Absolvent/ innen erwarten lässt und möglicherweise auf das Interesse einer großen Zahl von Studierenden trifft, stellt für die Universitätsleitung ein unkalkulierbares Risiko dar. Dies ist gegenwärtig das Haupthemmnis für die Etablierung Inklusiver Pädagogik als Schwerpunktfach, und es entsteht unter den Bedingungen der Hochschulautonomie die gesellschaftspolitisch absurde Situation, dass Strukturen nur zögerlich etabliert werden, weil der Bedarf an potenziellen Absolvent/ innen so groß ist und deshalb eine entsprechende Nachfrage beim Studiengang erwartet wird. Seit 2015 werden keine neuen Studierenden für das Sonderschullehramt mehr an den Pädagogischen Hochschulen eingeschrieben. Als Folge der Verlängerung der Ausbildungszeit im Bachelor in Kombination mit den Verzögerungen bei der Umstellung von der alten auf die neue Lehrer/ innenbildung entfallen zwei Absolvent/ innenjahrgänge beim Lehramt. Ab dem Herbst 2016 sollen die neuen Studienpläne für das 4-jährige BA-Studium mit der Wahlmöglichkeit der Inklusiven Pädagogik im Sekundarstufenlehramt in Kraft treten, sofern die Umsetzung über die Kooperation von Universitäten und Pädagogischen Hochschulen gelingt. Sollte dies nicht gelingen, muss der Ausfall mindestens eines weiteren Absolvent/ innenjahrgangs befürchtet werden. Wird die Induktions- und Masterstudienphase dazugerechnet, so zeichnet sich für Österreich für die nächsten Jahre ein massives Problem ab, den ausscheidenden Bestand an Sonderschullehrkräften durch qualifiziertes Personal aus dem neuen Studiengang zu ersetzen. 6 Fazit Wenn man die Situation der Lehrer/ innenbildung für Inklusion in Österreich betrachtet, erkennt man einerseits eine Reihe inhaltlicher Fortschritte im konzeptionellen Bereich. Die Etablierung inklusionspädagogischer Professionalität in den neuen Stufenlehrämtern, die quantitative Ausweitung vertiefenden Wissens, die Option der Ersetzung des zweiten Unterrichtsfachs durch die Schwerpunktsetzung in Inklusiver Pädagogik und die Orientierung auf die Regelbeschulung von Schüler/ innen mit Unterstützungsbedarf gehören zu diesen Erfolgen. Gleichzeitig existieren aber Rahmenbedingungen, die diese Zielsetzungen konterkarieren, sodass die Umsetzung eines Studiums „Inklusive Pädagogik als Schwerpunktfach“ auch nach mehrjährigem Vorlauf noch völlig offen ist. VHN 4 | 2016 329 GOTTFRIED BIEWER Lehrer/ innenbildung für Inklusion FACH B E ITR AG Literatur Biewer, G. (2006): Schulische Integration in Deutschland und Österreich im Vergleich. In: Erziehung und Unterricht - Österreichische Pädagogische Zeitschrift 156, 21 -28 Biewer, G. (2010): Inklusive Schule - Folgerungen für die Aus-, Fort- und Weiterbildung von allgemeinen Pädagogen und Pädagoginnen sowie Sonderpädagogen und Sonderpädagoginnen mit Blick auf die Konzeptionen der Bachelor- und Master-Studiengänge. In: Ellger-Rüttgardt, S.; Wachtel, G. (Hrsg.): Pädagogische Professionalität und Behinderung. Herausforderungen aus historischer, nationaler und internationaler Perspektive. Stuttgart: Kohlhammer, 159 -165 Biewer, G.; Schütz, S. (2016): Inklusion. In: Hedderich, I.; Biewer, G.; Hollenweger, J.; Markowetz, R. (Hrsg.): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt (UTB), 123 -127 BMBF/ Bundesministerium für Bildung und Frauen (2015): Zahlenspiegel 2015. Statistiken im Bereich Schule und Erwachsenenbildung in Österreich. Wien: BMBF Feyerer, E. (2015): Inklusive Lehrer_innenbildung. Österreich geht neue Wege. In: Gemeinsam leben - Zeitschrift für Inklusion 23, 3 -18 Forlin, C. (Hrsg.) (2012): Future Directions for Inclusive Teacher Education. An International Perspective. London, New York: Routledge UNESCO (2005): Guidelines for Inclusion. Paris: UNESCO Universität Wien (2014): Allgemeines Curriculum für das Bachelorstudium zur Erlangung eines Lehramts im Bereich der Sekundarstufe (Allgemeinbildung) an der Universität Wien. Mitteilungsblatt Studienjahr 2013/ 2014 - Ausgegeben am 27. 6. 2014 - 39. Stück. Online unter: https: / / www.univie.ac.at/ mtbl02/ 2013_2014/ 2013_2014_195.pdf, 6. 6. 2016 Vorbereitungsgruppe PädagogInnenbildung NEU (2011): PädagogInnenbildung NEU. Die Zukunft der pädagogischen Berufe. Empfehlungen der Vorbereitungsgruppe vom Juni 2011. Wien: BMUKK, BMBWF. Online unter: https: / / www. bmbf.gv.at/ pbneu_endbericht_20840.pdf? 4d tiae, 6. 6. 2016 Anschrift des Autors Univ. Prof. Dr. Gottfried Biewer Universität Wien Institut für Bildungswissenschaft Heilpädagogik und Inklusive Pädagogik Sensengasse 3 a, 3. Stock A-1090 Wien Tel.: +43 (1) 42 77 4 68 00 gottfried.biewer@univie.ac.at