eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 85/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2016
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Urs Haeberlin zum Abschied

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2016
Urs Haeberlin
Die VHN ohne Urs Haeberlin – geht das? Für viele treue Leserinnen und Leser unserer Zeitschrift mag der Gedanke befremdlich sein, wird doch die VHN weitherum mit dem Namen des Geschäftsführenden Herausgebers Urs Haeberlin gleichgesetzt. Und dies kommt nicht von ungefähr: Seit dem 1. Januar 1983 amtet U. Haeberlin als Herausgeber der VHN! Während 34 Jahren hat er die Zeitschrift mit ruhiger Hand durch alle Fährnisse geführt und hat ihr seinen unverwechselbaren Stempel aufgedrückt. Dabei ist es ihm gelungen, das Versprechen einzuhalten, welches er der Leserschaft im „Vorwort des neuen Herausgebers“ in Heft 1/1983 gegeben hat, dass die VHN nämlich einer menschlichen Grundhaltung verpflichtet bleibe und die gleiche Würde aller Menschen verteidige.
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330 VHN, 85. Jg., S. 330 -341 (2016) DOI 10.2378/ vhn2016.art41d © Ernst Reinhardt Verlag Urs Haeberlin zum Abschied ABSCHI E D Eine Ära geht zu Ende Die VHN ohne Urs Haeberlin - geht das? Für viele treue Leserinnen und Leser unserer Zeitschrift mag der Gedanke befremdlich sein, wird doch die VHN weitherum mit dem Namen des Geschäftsführenden Herausgebers Urs Haeberlin gleichgesetzt. Und dies kommt nicht von ungefähr: Seit dem 1. Januar 1983 amtet U. Haeberlin als Herausgeber der VHN! Während 34 Jahren hat er die Zeitschrift mit ruhiger Hand durch alle Fährnisse geführt und hat ihr seinen unverwechselbaren Stempel aufgedrückt. Dabei ist es ihm gelungen, das Versprechen einzuhalten, welches er der Leserschaft im „Vorwort des neuen Herausgebers“ in Heft 1/ 1983 gegeben hat, dass die VHN nämlich einer menschlichen Grundhaltung verpflichtet bleibe und die gleiche Würde aller Menschen verteidige. Es war kein leichtes Erbe, das Urs Haeberlin seinerzeit aus den Händen von Eduard Montalta übernommen hat, denn die Fußspuren, die sein Vorgänger in der VHN hinterlassen hatte, waren groß. Aber mit einer klaren Vorstellung davon, wohin die VHN-Reise gehen sollte, mit unermüdlichem Engagement und mit hohen Qualitätsansprüchen hat Haeberlin die Zeitschrift stets weiterentwickelt und ihr hohes Ansehen bis auf den heutigen Tag gefestigt und vergrößert. So kann die neue Herausgeberschaft unter der Leitung von Prof. Erich Hartmann eine gesunde, bestens verankerte Zeitschrift übernehmen und diese mit neuem Elan in eine hoffentlich rosige Zukunft führen. Die Geschichte der VHN und ihren Bezug zum scheidenden Herausgeber kann niemand so gut darstellen wie Urs Haeberlin selber, weshalb an dieser Stelle auf das Essay „Ein subjektiv gefärbter Rückblick des scheidenden VHN-Herausgebers“ am Anfang dieses Hefts verwiesen sei. Während der vielen Jahre als Heilpädagogik- Professor und Herausgeber der VHN hat Urs Haeberlin unzählige Kontakte geknüpft und gepflegt. Im Folgenden kommen einige Weggefährten zu Wort, die sich in ganz unterschiedlicher Weise an Urs Haeberlin erinnern, sei es durch eine Reminiszenz an sein Werk oder durch eine Anekdote, die im Gedächtnis haften geblieben ist. Zusammen mit diesen Autorinnen und Autoren danken wir Urs Haeberlin im Namen der gesamten Leserschaft der VHN für alles, was er für die Zeitschrift getan hat, und wünschen ihm viel Freude und Zufriedenheit im neuen Lebensabschnitt. Martin Baumgartner VHN-Redaktor VHN 4 | 2016 331 Urs Haeberlin zum Abschied ABSCHI E D Der Zufall hieß Pestalozzi Martin Th. Hahn Gammertingen Urs Haeberlin lernte ich durch Zufall kennen. Der Zufall hieß „Pestalozzi“. Vorgeschichte Während des Krieges besuchte ich eine einklassige Volksschule in einem Dorf am Rande des Schwäbischen Waldes, nordöstlich von Stuttgart. Unser Lehrer galt als „Edelkommunist“ und war seiner politischen Gesinnung wegen nicht zum Militär eingezogen worden. Hinter dem Pult hing deshalb auch kein Hitlerbild an der Wand (wie in anderen Schulen), sondern das bekannte Bild von Heinrich Pestalozzi, der ein Kind auf dem Arm hatte. Unser Lehrer erzählte uns von Pestalozzi und seiner Arbeit in Stans. Von da an (Grundschule! ) war Pestalozzi für mich ein fester Begriff, fast im Status eines Heiligen. Während meiner Ausbildung zum Volksschullehrer meldete ich mich zu einem Referat über Pestalozzi, und auf einer Radtour durch Graubünden und Tirol diskutierte ich in der Jugendherberge von Maloja einen Abend lang mit dem Herbergsvater (der gleichzeitig Lehrer in Maloja war) über Pestalozzi und seine Behandlung in der Lehrerbildung der Schweiz. Als Junglehrer erwarb ich die achtbändige Rotapfel-Ausgabe der Werke Pestalozzis (Hrsg. Paul Baumgartner, Zürich 1945). Ich fühlte mich als Pestalozzi-Kenner und ihm auch in der Praxis verwandt, zumal ich in einem Heim bei erziehungsschwierigen Kindern arbeitete. Zufall Pestalozzi Mein Zweitstudium an der Universität Tübingen erfolgte nebenberuflich. Neben einer 42-Stunden-Woche konnte ich nur in einem vorgegebenen „Zeitfenster“ Studienangebote wahrnehmen. In dem Fenster des ersten Semesters stand ein Pestalozzi-Seminar von einem gewissen Urs Haeberlin. Vermutungen gingen in Richtung Schweiz: „Urs“ und „Haeberlin“ (Paul Haeberlin kannte ich aus der Literatur). Pestalozzi? - Da fühlte ich mich als Studienanfänger sicher! Ob der mir etwas bieten kann? - Mit einer Mischung aus Neugier und Überheblichkeit belegte ich das Seminar und musste feststellen: Erstens: Es war tatsächlich ein Schweizer (unschwer an der Sprache erkennbar). Zweitens: Er verstand etwas von Pestalozzi und konnte mir bis dahin unbekannte Aspekte seines Lebens und Werkes aufzeigen, d. h. Respekt abverlangen. Drittens: Es war ein sympathischer, redlich und angenehm nüchtern vortragender Dozent, frei von damals üblichen Anbiederungen an die Studierenden. Und dann Paul Moor Zu Pestalozzi kam Paul Moor als verbindendes Element: Urs Haeberlin war Moor-Schüler, hatte bei ihm promoviert. Moors Werke waren in meinem Selbststudium zur „Heilpädagogik- Bibel“ geworden. Zu gerne hätte ich auch bei ihm studiert. Fortan achtete ich in meinem berufsbedingten Tübinger „Zeitfenster“ auf die Lehrangebote von Urs Haeberlin. Nicht zufällig, sondern gezielt belegte ich seine Veranstaltungen zu Forschungsmethoden: Meine Dissertation - „Behinderung als soziale Abhängigkeit“ - hatte einen gewaltigen empirischen Teil mit enormem Beratungsbedarf, den Urs Haeberlin in Tübinger Weinstuben abdecken half. Er wurde VHN 4 | 2016 332 Urs Haeberlin zum Abschied ABSCHI E D offiziell von meinem Doktorvater, Andreas Flitner, mit der Betreuung meiner Dissertation beauftragt und war Zweitprüfer bei der Promotion. Folgen des Zufalls Aus dem „Zufall Pestalozzi“ wurden in zwei langen Berufsleben zwischen Fribourg und Berlin gute persönliche und fachliche Verbindungen, die sich in vielen Begegnungen, Tagungen, Publikationen, Vorträgen, Lehraufträgen und vorzüglichen Menüs im Schwarzen Adler zu Fribourg dokumentieren lassen. Der Gourmet Urs Haeberlin! Er darf nicht vergessen werden! Auch für seine Entdeckung muss letztlich Pestalozzi herhalten. Die VHN war sein Lieblingskind. Er trug sie behütet auf dem Arm. Wie Pestalozzi in Stans. Ob er loslassen kann? Mein Dank gilt Urs Haeberlin und Pestalozzi, der uns zusammengebracht hat. Urs Haeberlin, ein Kämpfer für ein besseres Leben von Menschen mit Beeinträchtigungen Fritz Oser Freiburg/ Schweiz Urs Haeberlin ist und war unter den Professoren unserer Fakultät einer der sogenannten „Großen“. Mit dieser Aussage möchte ich andeuten, dass sein Wort ein großes Gewicht und eine starke Wirkung hatten. In meiner Sicht sind es vier Gegebenheiten, besser gesagt vier berufliche Steuerungsziele, die diese Tatsache unterstreichen: Er setzte und setzt sich erstens ein für einen hohen Lebenswert aller Art von Behinderung. Eine Besonderheit dieses Einsatzes betrifft die Integration von Behinderten in den Normalunterricht (sofern dies für Schülerinnen und Schüler verkraftbar ist). Zweitens ist Urs Haeberlin ein Vorkämpfer für eine evidenzbasierte Heilpädagogik. Drittens kämpfte er für einen von diagnostisch, präventiv und interventiv ausgebildeten Personen betreuten heilpädagogischen Dienst, der die gleichen Qualifikationen beansprucht wie der von Schulpsychologen, aber zusätzlich einen anderen, eben heilpädagogischen Akzent setzte. Und viertens, Urs Haeberlin wollte eine akademische Ausbildung für schulische Heilpädagoginnen und Heilpädagogen. Das war und ist sein Kämpfen an vier Fronten. Diese Fronten möchte ich kurz ausleuchten: Zu 1: Die Beeinträchtigung als Chance für die Anderen Als Eltern eines Autisten mussten wir schwer lernen, was es heißt, wenn Behörden einen im Stich lassen und die Invalidenversicherung ihre Funktion nicht ohne Weiteres aufnimmt. Ein Beispiel: Bei der Integration unseres Sohnes in die Normalschule (vom Kindergarten bis in die Sekundarstufe) fiel immer wieder die Aussage, dass es natürlich ein Professorenkind brauche, damit dieses Recht umgesetzt werde. Bei einer Sitzung mit politisch Verantwortlichen, wo öffentlich wieder eine solche Bemerkung fiel, antwortete meine Frau (damals als Politikerin), dass es in der Tat so sei, dass politische Kräfte, wie die hier im Raum versammelten, nicht fähig seien, dieses Recht für alle sichtbar und unterstützend durchzusetzen, was für Haeberlin geradezu ein Fanal wurde, eine Rede über die Ermöglichung einer integrativen Bildung von Kindern mit Beeinträchtigungen, auch geistig Behinderten. Nicht allein durch Sonderschulen, sondern auch durch viel größere Bemühungen müsse die Unterstützung der Lehrkräfte und der Eltern garantiert werden. Eltern sind die, die alleine dastehen mit einem behinderten Kind, und das dürfe nicht so bleiben. In einer Lizentiats- VHN 4 | 2016 333 Urs Haeberlin zum Abschied ABSCHI E D arbeit hat Barbara Bonetti gezeigt, dass insbesondere in jenen Klassen Integration erfolgreich war, in welchen denjenigen geholfen wurde, die integrierten, also den Schülerinnen und Schülern, die in ihrem Verhalten die zu Integrierenden akzeptieren, unterstützen, mitnehmen, mitbeteiligen lernten. Das war das zu Leistende. In dem schönen Roman von Hanns-Josef Ortheil „Die Erfindung des Lebens“ kommt das stumme Kind in die Klasse, und der Lehrer stellt sich zuerst beschützend vor es. Die Klasse wird aber von Tag zu Tag aggressiver gegen diese Andersheit, sodass am Schluss auch der Lehrer ausruft, ein stummes Kind sei eine Zumutung für eine Klasse, und das Kind trotz seiner hohen Intelligenz die Schule verlässt. Das ist eine aufregende Beschreibung dessen, was Haeberlin in seinen theoretischen, empirischen und praktischen Arbeiten mit aller Kraft zu verhindern suchte. Und diese einzelne Szene steht für viele andere, ähnliche. Es sind also die anderen Kinder, die einen schwierigen Lernweg durchmachen, bis sie das zu integrierende Kind an jeder Stelle seiner Existenz hineinnehmen und es an jeder Form von Gemeinschaft bis hin zu den Streichen und den Schlitzohrigkeiten täglicher Dynamik teilnehmen lassen. Dies konnte nur mit einem Konzept möglich werden, das statt Behütung vermehrt Förderung und Unterstützung in den Mittelpunkt setzte. Es wäre auch vermessen zu glauben, Urs Haeberlin habe die Integration bedingungslos gefordert. Er kennt die Grenzen, diejenigen der Schule als System, diejenige der je altersspezifischen Klassen, diejenigen der Lehrkräfte und diejenigen des Behinderten selber. Zu seinem Lebenswerk gehört die Auslotung dieser Grenzen und die Suche nach möglichen Brückenschlägen. Zu 2: Die Entwicklung einer evidenzbasierten Heilpädagogik Zur Frage, welche Interventionen positive Veränderungen bei unterschiedlichen diagnostizierten geistigen oder körperlichen Behinderungen bewirken, hatte Urs Haeberlin klare Vorstellungen. Dies hinderte ihn nicht daran, diese in sorgfältig geplanten Studien zu überprüfen. Entscheidungen früher versus später oder begleiteter versus nicht begleiteter Integration als Beispiel wurden sogfältig längsschnittlich überprüft. Es wurden Testinstrumente entwickelt und validiert, die nicht einfach dem wissenschaftlichen Erkennen an sich, sondern vor allem dem Wohl des/ der Behinderten dienten. Diese Aussage ist sehr wichtig, wenn etwa an die großen psychologischen Konzepte wie Intelligenz, Motivation, Gedächtnis, Selbstwirksamkeit, Kreativität usw. gedacht wird. Die üblichen psychologischen Testverfahren würden z. B. niemals die kleinen Fortschritte eines Autisten erfassen. Für Fragen körperlicher Behinderung war - auch und gerade in der Forschung - die Zusammenarbeit mit Juristen und Medizinern höchst bedeutungsvoll. Zu 3: Der Aufbau eines heilpädagogischen Dienstes für die Schule, aber auch für Familie und Gesellschaft, bedeutet, dass ausgebildete und sich auf Evidenz und Diagnostik beziehende Heilpädagogen und Heilpädagoginnen (zusätzlich zur Schulpsychologie) für alle Formen geistiger und körperlicher Behinderungen in allen Feldern systematisch Hilfeangebote machen können. Über Förderdiagnostik, Begleitung und Supervision in allen Bereichen der heilpädagogischen Arbeit werden von der Abklärung bis zur Stütztherapie heilpädagogisch ausgerichtete Dienste etabliert. Zu 4: Auch die Heilpädagogen und Heilpädagoginnen als Lehrer, die in sogenannten kleinen Klassen unterrichteten oder in Spezialeinrichtungen tätig sind, sollten nach Haeberlin akademisch d. h. zusätzlich zu ihrem Lehrerinnen-Können wissenschaftlich ausgebildet werden. Klassisch die Ausbildung in Logopädie. Hier kommen zwei Anliegen zusammen: Haeberlin ist zugleich Pädagoge und Heilpädagoge. Ihm ist das Problem der Entsolidarisierung der Gesellschaft mit der Behinderung in VHN 4 | 2016 334 Urs Haeberlin zum Abschied ABSCHI E D hohem Maße bewusst. Haeberlin ist nie einfach für eine Maßnahme. Er setzt sie nur durch, wenn sowohl das behinderte Kind wie auch seine Umgebung von der Situation profitieren können. Hinter diesen vier genannten Anliegen steht bei Urs Haeberlin letztlich ein Menschenbild im Vordergrund, das den Wert menschlichen Lebens an sich als unbedingte Satzung täglich sichtbar macht, das die kleinen, aber sinnvollen Veränderungen beim Individuum erkennt. Urs Haeberlin reflektiert das Leben mit der Behinderung umsichtig positiv auf der Individuumswie der Gesellschafts- und der politischen Ebene. Sein Vierfrontenkampf hat sich gelohnt. Heilpädagogik ist heute nicht mehr unbeachtetes Sonderfach, sie steht inmitten pädagogischer Bemühungen, in der auch eine akademische Ausbildung in diesem Fach eine sinnvolle Option für einen jungen Menschen geworden ist. Urs Haeberlin ist ein Kämpfer für eine besseres Leben aller Behinderten. Persönliche Anmerkungen zur Verabschiedung von Urs Haeberlin als Geschäftsführendem Herausgeber der VHN Ulrike Schildmann Berlin Es ist Urs Haeberlin, dem ich - als Autorin und Beiratsmitglied der VHN - meine Zusammenarbeit mit dieser Fachzeitschrift verdanke. Persönlich in Kontakt kam ich mit ihm dadurch, dass er mich zweimal ins Heilpädagogische Institut der Universität Freiburg/ Schweiz einlud: im Januar 1999 zu einem Vortrag über das „Forschungsfeld Normalität“, das ich damals im Rahmen einer DFG-Forschergruppe der Universität Dortmund bearbeitete, und im November 2005 über „Verhältnisse zwischen Behinderung und Geschlecht in der Lebensspanne“, ein Thema, das mich seit dieser Zeit (von 2010 - 2013 von der DFG gefördert) wissenschaftlich beschäftigt. Schon damals bemerkte ich, dass Urs Haeberlin Interesse an Fragestellungen zeigte, die (jedenfalls zu der Zeit) vom Mainstream unserer Disziplin noch eher als marginal (wenn nicht gar als überflüssig) betrachtet wurden, bei ihm aber auf eine für mich bemerkenswerte Aufmerksamkeit stießen. Es wird deutlich: Ich erleb(t)e Urs Haeberlin als einen Kollegen, der anderen wissenschaftlichen Positionen offen und im positiven Sinne neugierig begegnet. Was mich aber an ihm besonders beeindruckt, ist seine eigene wissenschaftliche Bandbreite zwischen theoretisch-ethischer Positionierung in der Heilpädagogik im Kanon der Erziehungswissenschaften und der empirischen Bildungsforschung unter aufmerksamer Berücksichtigung integrationspädagogischer Entwicklungen. Diese kennzeichnet ihn als Wissenschaftler mit ausgeprägtem, unverwechselbarem Format. Davon profitieren viele andere, jüngere wie ältere Kolleginnen und Kollegen unserer Disziplin, wie der Struktur und der thematischen Vielfalt der VHN zu entnehmen ist. Danke, Urs Haeberlin, sagt an dieser Stelle Ulrike Schildmann Engagement und Verantwortung Franz B. Wember Dortmund Bei der Erinnerung an zurückliegende Gespräche, flüchtig und nur höchst subjektiv verfügbar, fallen mir die zwei Begriffe in der Überschrift ein, und beim Blick in die verfügbare Fachliteratur finde ich Bestätigung: Urs Haeberlin imponiert mir wegen seines nachhaltigen Einsatzes für die Sache benachteiligter und behinderter Kinder und Jugendlicher, wegen VHN 4 | 2016 335 Urs Haeberlin zum Abschied ABSCHI E D seines überlegten, gezielt Kontrapunkte setzenden Handelns in Forschung und Lehre und wegen seiner konsequenten Mahnungen zur ethischen Reflexion des heilpädagogischen Tuns. Urs Haeberlins Engagement, sein bewusster Einsatz als Heilpädagoge für benachteiligte und behinderte Kinder und Jugendliche, zeigt sich nicht nur in bisweilen provokant formulierten Einzelbeiträgen, sondern durchgängig in seinen Lehrbüchern, die allesamt über lange Jahre mehrere Auflagen erfahren haben. Mehr noch als die bloße Argumentation überzeugt, dass seine großen Forschungsprojekte das Engagement zeigen, das er nicht nur von uns, sondern offensichtlich auch von sich selbst fordert: Die Forschungen zur Integration von Lernbehinderten (mit Bless, Moser und Klaghofer, 1991, 4 2003), zu den Langzeitwirkungen der schulischen Integration (mit Eckhart, Sahli Lozano und Blanc, 2011), zur Problematik Immigrantenkinder und schulische Selektion (mit Kronig und Eckhart, 2000, 2 2007) und zu den ungleichen Chancen ausländischer und weiblicher Jugendlicher beim Wechsel Von der Schule in die Berufslehre (mit Imdorf und Kronig, 2004) sind groß angelegte Projekte, die aufmerken lassen, und dies aus zwei Gründen. Erstens stellen sie seltene Beispiele dar für umfangreiche empirische Studien, die mit hoher methodischer Sorgfalt Daten zur Bearbeitung praxisnaher und überaus relevanter Fragen erarbeitet haben, und zweitens werden die Ergebnisse mit heilpädagogischem Engagement interpretiert und pointiert vorgetragen - wertgeleitete Forschung zwischen objektiver Distanz und teilnehmender Nähe. Urs Haeberlins Verantwortung zeigt sich in seinen grundlegenden Schriften zur Theorie der Heilpädagogik, in denen er eine wertgeleitete Wissenschaft fordert, etwa in Das Menschenbild für die Heilpädagogik (1985, 6 2010) und in Grundlagen der Heilpädagogik (1996, 2005). Er untersucht das heilpädagogische Denken und Tun hinsichtlich seiner ethischmoralischen Qualitäten, und er lässt die Heilpädagoginnen und Heilpädagogen nicht in komfortabler Selbstzufriedenheit ihrer Arbeit nachgehen. Wir können entscheiden, was wir tun oder lassen, und wir tragen für unsere Entscheidungen, für unsere Handlungen und Unterlassungen Verantwortung. Urs Haeberlin hat mir in der Theorie Orientierung gegeben und in der Forschung Wegmarken gesetzt. Er hat die gegenwärtigen Verhältnisse nicht an sich studiert, sondern mit dem Blick auf Verbesserungen, und er hat bereits vor vielen Jahren Themen bearbeitet, die gegenwärtig wieder wichtig sind und die auch in Zukunft relevant sein werden - in Engagement und Verantwortung. Literatur Eckhart, M.; Haeberlin, U.; Sahli Lozano, C.; Blanc, P. (2011): Langzeitwirkungen der schulischen Integration. Eine empirische Studie zur Bedeutung von Integrationserfahrungen in der Schulzeit für die soziale und berufliche Situation im jungen Erwachsenenalter. Bern: Haupt Haeberlin, U. (1985/ 6 2010): Das Menschenbild für die Heilpädagogik. Bern: Haupt Haeberlin, U. (1996/ 2 2005): Grundlagen der Heilpädagogik. Einführung in eine wertgeleitete erziehungswissenschaftliche Disziplin. Bern: Haupt Haeberlin, U.; Bless, G.; Moser, U. (1991): Die Integration von Lernbehinderten. Versuche, Theorien, Forschungen, Enttäuschungen, Hoffnungen. Bern: Haupt Haeberlin, U.; Imdorf, C.; Kronig, W. (2004): Von der Schule in die Berufslehre. Untersuchungen zur Benachteiligung von ausländischen und von weiblichen Jugendlichen bei der Lehrstellensuche. Bern: Haupt Kronig, W.; Haeberlin, U.; Eckhart, M. (2000/ 2 2007): Immigrantenkinder und schulische Selektion. Pädagogische Visionen, theoretische Erklärungen und empirische Untersuchungen zur Wirkung integrierender und separierender Schulformen in den Grundschuljahren. Bern: Haupt VHN 4 | 2016 336 Urs Haeberlin zum Abschied ABSCHI E D Ein Vorgesetzter der alten Garde Christine Amrein Luzern Bei meiner Pensionierung 2010 konnte ich auf eine über 20-jährige Zusammenarbeit mit Urs Haeberlin (UH) zurückschauen. Nach dem Abschluss meines Studiums am HPI Freiburg Ende der 1980er Jahre übergab mir UH die Verantwortung für die redaktionellen Belange der VHN. Dies war der Beginn einer jahrzehntelangen intensiven, produktiven Zusammenarbeit. Während der ersten Jahre meiner Tätigkeit als Redaktorin der VHN arbeiteten wir noch nach den alten, recht „familiären“ Strukturen, die auf die Anfänge der VHN als „Heilpädagogische Werkblätter“ - herausgegeben vom Heilpädagogischen Institut in Luzern - zurückgingen. In lebhafter Erinnerung bleibt mir vor allem der enge und persönliche Austausch mit der Druckerei von Matt in Stans, welche seit der Gründung der Zeitschrift für die Herstellung und den Versand der VHN zuständig war. Wie oft konnte ich nach Absprache oder auf dringenden Wunsch von UH noch in letzter Minute einen kurzen Beitrag hineinschmuggeln, wie oft fuhr ich nach Stans, um die Druckfahnen abzuholen, die auf dem Postweg nicht mehr rechtzeitig nach Freiburg gelangt waren, um sie mit Zustimmung von UH am Wochenende auf Fehler durchzukämmen. UH ließ mir bei der Arbeit viel eigenen Spielraum, war jedoch stets als Ansprechpartner erreichbar. Sein dicht gewobenes Beziehungsnetz mit Professorinnen, Professoren und Universitätsinstituten im ganzen deutschsprachigen Raum ermöglichte mir publizistische Kontakte mit zahlreichen damals führenden Heilpädagogen und Heilpädagoginnen im In- und Ausland. Dank UH konnte ich auch mein heilpädagogisches Fachwissen stetig vertiefen und erweitern, denn als VHN-Redaktorin war ich oft an Tagungen und Kongressen vertreten, sei es als Berichterstatterin oder als Betreuerin eines Büchertisches. 2004 ging die verlegerische Verantwortung der VHN in die Hände des Ernst Reinhardt-Verlags in München über. Die Strukturen wurden gestrafft, die Termine verbindlich(er). Jedes Jahr im Frühling fand nun in München die Redaktionskonferenz mit den Verlagsverantwortlichen statt. An der Kemnatenstraße wurde intensiv über Inhalte, Abonnentenzahlen, Finanzen und Personelles diskutiert. Nach diesen arbeitsreichen Tagen kam jedoch auch das gesellige Beisammensein nie zu kurz. Anlässlich dieser Kurzreisen nach Bayern habe ich UH auch von seiner anderen Seite kennengelernt. München bedeutete nämlich für meinen Boss nicht nur Arbeit, sondern auch Kultur und Genuss. Unsere Gespräche im Vorfeld der Redaktionssitzung endeten meist mit Tipps und Hinweisen zum aktuellen kulturellen Geschehen und zu kulinarischen Höhepunkten in München. Ohne die Empfehlungen von UH hätte ich wohl die eine oder andere großartige Ausstellung verpasst, ohne sein Flair für gutes Essen wäre mir wohl manche bayrische Köstlichkeit entgangen. Vor allem aber hätte ich ohne die Einladung von Herrn und Frau Haeberlin niemals im Biergarten auf den Wiesn eine ganze Mass Bier konsumiert, unterlegt mit Brezn und Radi und begleitet vom fröhlichen Treiben eines Münchner Feierabends. Es war ein entspanntes, heiteres Beisammensein, das einen intensiven Arbeitstag im Verlag krönte! Die immerwährend aufgegebene Heilpädagogik Ferdinand Klein Bad Aibling Mein Rückwärts-Blick nach vorn macht auf drei Begegnungen mit Urs Haeberlin aufmerksam. Was sagt mir die Erinnerung? Malt sie mit dem goldenen Pinsel? Oder doch nicht? Und dennoch. Eines ist sicher: Erinnerung verleiht der Gegenwart Gestalt. VHN 4 | 2016 337 Urs Haeberlin zum Abschied ABSCHI E D Im Anschluss an mein Referat „Das verkürzte Gegenstands- und Methodenbewusstsein der Sonderpädagogik und Ansätze zur Überwindung durch heilpädagogisches Handeln“ bei der 20. Arbeitstagung der Dozenten für Sonderpädagogik in deutschsprachigen Ländern in Basel im Jahre 1983 meldete sich Urs Haeberlin zu Wort - freilich etwas zurückhaltend und mit einem etwas verschmitzten Lächeln, aber in der Sache klar. Sein Diskursbeitrag zielte auf das von mir herausgestellte Moor-Postulat „Heilpädagogik ist Pädagogik“, das ich doch etwas voreilig von der Allgemeinen Pädagogik her eher formal begründete. Haeberlin machte auf verschüttete Zugänge zu Paul Moor aufmerksam, dessen Werk ein christlich-humanistisches Menschenbild bestimmte. Und als wir uns beim 3. Europäischen Symposion „Europas Verantwortung für die Behinderten - Kreativität und Behinderung“ in Heraklion/ Kreta (31. August bis 3. September 1990) näher kennenlernten, erzählte ich von meinen prägenden Erinnerungen an Mimi Scheiblauer bei der Erlanger Lebenshilfe und wie sie durch ihre heilpädagogische Haltung im Medium von Rhythmik und Musik gerade bei Menschen mit schwerer Behinderung ungeahnte Kräfte wecken konnte und wir dann mit den Kindern „gescheiblauert“ hatten. Und ich erwähnte auch das auf einem öffentlichen Platz in Heraklion von mir gestaltete Scheiblauer-Seminar mit griechischen Pädagoginnen. Herr Haeberlin hörte diesen heilpädagogischen Praxiserfahrungen interessiert zu. Ich berichtete ihm auch über den Film „Ursula oder das unwerte Leben“ aus dem Jahre 1966 (siehe Bild) und über die Teilnahme von Heinrich Hanselmann an Scheiblauers rhythmischer Gymnastik mit schwierigen Kindern und Jugendlichen im Landerziehungsheim Albisbrunn. Hanselmanns Schülerin und spätere Mitarbeiterin am Heilpädagogischen Seminar Zürich war bei diesen rhythmisch-musikalischen Übungsstunden Hanselmanns Lehrerin - und er bildete auch durch die Erfahrungen mit den jungen Menschen seine Professionalität weiter. Wohl diese wechselseitige Ergänzung und Vertiefung von wissenschaftlicher Rationalität und empathischer Praxis könnte es gewesen sein, die Herrn Haeberlin spontan dazu bewegten, mich zu einer Veranstaltung ins Heilpädagogische Institut der Universität Freiburg einzuladen und die Scheiblauer-Rhythmik vorzustellen. Den Aufenthalt habe ich auch deshalb in guter Erinnerung, weil die Familie Haeberlin ein wohltuender Gastgeber war. Beim Gespräch äußerte er die Sorge, dass er seine Vorlesungen dem Niveau des schwindenden Reflexionsvermögens der Studierenden anpassen müsse. Heute könnte ich ihm mit Karl Popper darauf so antworten: Wer einen wissenschaftlichen Sachverhalt nicht einfach und klar ausdrücken kann, der soll solange daran weiterarbeiten, bis er ihn verständlich sagen kann. (Die überarbeitete Fassung meines Vortrags erschien in der VHN 60 [1991], 2, S. 137 - 148: „Scheiblauer-Rhythmik unter heilpädagogischem Aspekt - insbesondere für das Kind mit schwerer geistiger Behinderung“.) Mimi Scheiblauer im Dialog mit Ursula, einem taubblinden Kind (Aus dem Film „Ursula oder das unwerte Leben“ 1966, © Langjahr Film GmbH, CH-6037 Root) VHN 4 | 2016 338 Urs Haeberlin zum Abschied ABSCHI E D Der Diskursbeitrag in Basel und die Neugier an der heilpädagogisch-rhythmischen Praxis bestätigen, wie Kollege Haeberlin mit hoher wissenschaftlicher Sensibilität sein wertgeleitetes Menschenbild für die Heilpädagogik im Fokus der Sinnfrage bis in die Gegenwart thematisiert. Er nimmt das heilpädagogische Wächteramt ganz entschieden wahr, weist das reduktionistische Menschenbild in die Schranken und lädt zum offenen Diskurs ein, der im heilpädagogischen Handlungsfeld eine Berufsethik der bedingungslosen Achtung der Würde des Menschen fordert. Wertgeleitete Heilpädagogik Erinnerung an ein Vermächtnis Hans Wocken Hamburg Die „Praktische Ethik“ des australischen Philosophen Peter Singer, die auch noch die Tötung eines behinderten Babys unter Umständen erlaubt, ist in Deutschland auf mannigfachen Widerstand gestoßen. Als in den 1990er Jahren an der Universität Gießen eine Diskussionsveranstaltung zu den Thesen Singers geplant war, erhielt ich von dem Protagonisten der „Krüppelbewegung“ Franz Christoph einen Anruf. Er wolle von mir wissen, wie ich zu diesem Vorhaben stünde. Ich antwortete ihm mit einem Loblied auf die grundgesetzliche Freiheit der Wissenschaft und würdigte die Universität als den gesellschaftlichen Hort wissenschaftlicher Freiheit. Franz Christoph informierte mich sodann darüber, dass er mit vielen Betroffenen der „Krüppelbewegung“ in den vorderen Reihen sitzen würde. Findest du es legitim, takt- und respektvoll, fragte er weiter, wenn einige Wissenschaftler des prominenten Podiums dann den anwesenden Betroffenen geradeaus ins Gesicht sagen, wer von ihnen bei der Geburt als „lebenswert“ gegolten hätte und bei wem auch eine Tötung ethisch erlaubt gewesen wäre? - Ich fühlte mich ertappt, gemein und schäbig, und in der Zwickmühle zwischen einer Wertschätzung wissenschaftlicher Freiheit und dem pädagogischen Engagement für die Würde behinderter Menschen. Dieses Ereignis war und ist für mich Anlass, über das Thema „Wertgeleitete Wissenschaft“ (Haeberlin) nachzudenken. Die eigene wissenschaftstheoretische Positionierung kann hier nur in einer rudimentären und fragmentarischen Thesenform dargestellt werden. Kann die heilpädagogische Wissenschaft helfen und raten, wie man sich in dieser verzwickten Lage „richtig“ und verantwortungsvoll verhält? Von Max Weber stammt bekanntlich das Postulat wissenschaftlicher Wertfreiheit. Weber fordert eine strikte Trennung von Tatsachen- und Werturteilen. Empirische Wissenschaft könne ethische Forderungen, normative Urteile und erstrebenswerte Ideale nicht begründen oder gar „beweisen“. Erfahrungswissenschaft fühlt sich bei allen Fragen danach, was gut ist und was man tun soll, unzuständig und überfordert. Folgt man dem Wertfreiheitspostulat von Max Weber, dann können also von der Wissenschaft keine verbindlichen Werturteile und gültigen Maßstäbe ethischen Handelns erwartet werden. Wenn Wissenschaft nicht in der Lage ist, mit eigenen Mitteln intersubjektiv gültige Werte, Normen, Ideale, Urteile zu generieren und zu begründen, woher nehmen wir dann die Maßstäbe richtigen Handelns? Wie kann eine Behinderten- und Heilpädagogik, die nach wie vor wissenschaftlich sein will, sich trotzdem an Werten und Normen orientieren? Haeberlin postuliert eine „wertgeleitete Heilpädagogik“, in der alles pädagogische Denken und Handeln von drei Grundwerten getragen ist: „vom Wert der Unverletzlichkeit von jeglichem menschlichen Leben, vom Wert der Gleichwertigkeit aller Menschen bei extremster individueller Verschiedenartigkeit und vom Wert VHN 4 | 2016 339 Urs Haeberlin zum Abschied ABSCHI E D der unverlierbaren Würde jedes Menschen“ (Haeberlin 2005, 33). Die Auswahl dieser drei Grundwerte ist durch eine tiefgründige Überzeugung des Autors begründet: „Es ist die Überzeugung, dass jeder Mensch Teil der Schöpfung ist.“ (ebd.). An dieser Stelle - so meine ich - verlässt die „wertgeleitete Heilpädagogik“ den wissenschaftlichen Tugendpfad einer durch und durch rationalen Argumentation und nimmt Zuflucht zu einem metaphysischen Schöpfer Gott. All diejenigen, die nicht an einen überirdischen Gott glauben, gehen damit leer aus; sie sind nicht an die drei Grundwerte gebunden, sie sind freigesetzt und gleichsam moralisch entpflichtet. Eine metaphysische Grundlegung der wertgeleiteten Heilpädagogik scheint mir indes nicht notwendig und zwingend zu sein. Ich möchte in der gebotenen Kürze zwei Alternativen aufzeigen, wie Wissenschaft auf rationalen Wegen zu Werten finden und stehen kann, ohne sich auf Transzendenz zu beziehen. Professionen pflegen nicht selten sich selbst eine geschriebene oder ungeschriebene Verfassung zu geben, in der sie ihr Selbstverständnis darlegen, Merkmale guter Professionalität benennen und insbesondere Normen und Werte artikulieren, die als bedeutsam für diesen Beruf und diese Berufsgruppe angesehen werden. Ein professioneller Verhaltenskodex beschreibt, was ein Angehöriger dieser Berufsgruppe tun und lassen sollte. Es ist eine Art freiwillige Selbstkontrolle; kein Gruppenmitglied muss sich zwingend an die Verhaltensvorschriften halten, aber Abweichungen gelten innerhalb der Zunft als unerwünscht und unehrenhaft. Als das prominenteste Beispiel kann der Eid des Hippokrates gelten, der zwar in mancherlei Hinsicht historisch überholt ist, aber bis auf den heutigen Tag immer noch implizit als eine berufliche Selbstverpflichtung von Ärzten empfunden wird. Der Eid des Hippokrates untersagte beispielsweise sowohl den Schwangerschaftsabbruch als auch die aktive Sterbehilfe. Das pädagogische Pendant dazu ist der Sokratische Eid, den Hartmut von Hentig für Pädagogen entworfen hat; dieser blieb allerdings weitgehend wirkungslos. Erwähnenswert ist auch der Pressekodex, der Richtlinien des Deutschen Presserates für die journalistische Tätigkeit enthält. In der Behinderten- und Heilpädagogik wird die Thematik notwendiger Wertorientierungen und wertbestimmter Verhaltensweisen heute regelhaft unter dem Terminus ‚Haltung‘ erörtert. Bei Haeberlin (2005, 35ff.) heißt es explizit: „Heilpädagogik als Haltung“. Auch im inklusionspädagogischen Diskurs nehmen die einstellungsbedingten Grundorientierungen einen sehr prominenten Platz ein. Stellvertretend für viele andere sei Otto Herz zitiert: „Inklusion ist eine Haltung! “ Ich selbst habe für Inklusionspolitik und -pädagogik einen 4P-Kodex formuliert, der sich aus den Elementen Philosophie, Pragmatismus, Professionalität und Partizipation zusammensetzt (Wocken 2014). Es steht heil- und inklusionspädagogischem Denken und Handeln gut zu Gesicht, wenn sie von einem professionellen Ethos durchdrungen sind. Es wäre eine wertgeleitete Haltung, die nicht ‚von oben‘, von einem Schöpfer Gott kommt, sondern aus dem Innenraum einer Profession. Nun zu der zweiten Möglichkeit, wie Werte und Normen sich mit Wissenschaft verträglich verbinden können. Alle Wissenschaft existiert nicht in einem elfenbeinernen Turm, sondern mitten in der Gesellschaft. Gerade wegen ihrer hohen Wertschätzung wird Wissenschaft sehr regelhaft von gesellschaftlichen Interessen, Gruppen und Parteiungen in Anspruch genommen, um partikulare Ziele und Programmatiken „wissenschaftlich“ zu untermauern. Das gesamte Gutachtenwesen und -unwesen ist über weite Strecken eben nicht ein Beleg für eine interessenneutrale, unabhängige Wissenschaft, sondern im Gegenteil für ein Unternehmen, das benutzt wird, sich benutzen lässt und auch selbst eigene Interessen und Wertpräferenzen gesellschaftlicher und pädagogischer VHN 4 | 2016 340 Urs Haeberlin zum Abschied ABSCHI E D Art einbringt. Mein Vorschlag für eine „wertgeleitete Wissenschaft“ besteht nun darin, alle Wissenschaft auf jene normativen Vorgaben und gesetzlichen Grundlagen zurückzubinden und zu verpflichten, die schlechthin für alle gelten. Zu denken ist dabei insbesondere an die Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte, an die Kinderrechtskonvention, an die Behindertenrechtskonvention und an das Grundgesetz. Die völkerrechtlichen Verträge gelten für alle; für alle Unterzeichnerstaaten, für alle Bundesländer, für alle Regierungen und Parlamente, alle Lehrer- und Elternverbände, für alle gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen - und damit auch für Universität und Wissenschaft. Wissenschaft kann sich aus diesem völker- und grundgesetzlichen Netzwerk nicht davonstehlen, sondern unterliegt den gleichen Rechtsvorschriften, Handlungsvorgaben und Zielsetzungen. All diese ethischen Rechtsverpflichtungen kommen nicht nach Art eines deus ex machina ‚von oben‘, sondern sind durchgängig demokratisch legitimierte, konsensual geteilte und rechtsverbindliche Werte- und Normenkataloge, von denen auch Wissenschaft sich nicht lossagen und mit Berufung auf Freiheit der Wissenschaft dispensieren kann. Es gibt also bereits eine real existierende Wertebindung der Wissenschaft! Diese muss weder neu erfunden noch demokratisch abgestimmt werden, weil der Konsensus der Vertragsstaaten bzw. der Konsensus des eigenen Vaterlandes bereits in einer höchst möglichen Kodifizierungsform als Völkerrecht oder als Landesverfassung vorliegt. Dass mit diesem Vorschlag weiß Gott nicht alle Probleme der Beziehung zwischen Wissenschaftlichkeit und Wertorientierung vom Tisch sind, liegt auf der Hand. Ein kleines Beispiel mag dies illustrieren. Alle Zeichnerstaaten der BRK haben sich verpflichtet, „ein inklusives Bildungswesen auf allen Ebenen“ aufzubauen. Der Wissenschaftliche Beirat Bayerns proklamiert nun mit seiner Publikation „Inklusives Schulsystem“ (Heimlich u. a. 2016) demonstrativ den Vollzug der UN-Vorschrift, wohl wissend, dass in Bayern nach wie vor ein weltweit einmaliges, viergliedriges Schulsystem mit Gymnasium, Realschule, Hauptschule und Sonderschule zu besichtigen ist, in das lediglich einige „inklusive“ Implantate eingepflanzt wurden. Die Fassungslosigkeit ob solcher regierungskonformer Umetikettierung des gegliederten Schulsystems kennt keine Grenzen. Eine wertgeleitete Wissenschaft hätte sich an Geist und Buchstaben der Behindertenrechtskonvention zu orientieren. Die propagandistische Ausrufung einer inklusiven bayerischen Bildungsrepublik mag zwar den Beifall der bayerischen Staatsregierung finden, muss aber mangels einer gültigen Auslegung der BRK als eine wissenschaftliche Beihilfe zu einer nicht völkerrechtskonformen Inklusionspolitik Bayerns gewertet werden. Wenn darüber hinaus dann auch noch wissenschaftliche Befunde zur realen Inklusionsentwicklung in Bayern, die keineswegs von einem progressiven Aufbau eines inklusiven Bildungssystems zeugen (Wocken 2015), konsequent negiert und unterschlagen werden, dann befleißigt sich eine derartig einseitige „Wissenschaft“ nicht einer unverkürzten, vollständigen Wahrnehmung der Inklusionswirklichkeit, sondern breitet den Mantel des Schweigens über eine dunkle Seite bayerischer Inklusionspolitik aus. Eine wertgeleitete Behinderten- und Heilpädagogik würde nicht opportunistisch handeln und auch nicht devot vor den herrschenden Verhältnissen einknicken. Ja, und wie würde Urs Haeberlin sich als Präsident einer Universität bezüglich der Singer- Diskussionsveranstaltung entscheiden? Würde er sie mit der Begründung ‚Wertfreiheit der Wissenschaft‘ zulassen und begrüßen oder würde er sie mit der Begründung ‚advokatorische Anwaltschaft für Behinderte‘ verbieten? Die wertgeleitete Behinderten- und Heilpädagogik von Urs Haeberlin würde das unverletzliche Recht aller Menschen auf Leben von Anfang an nicht zur Diskussion stellen. VHN 4 | 2016 341 Urs Haeberlin zum Abschied ABSCHI E D Literatur Haeberlin, U. (2005): Grundlagen der Heilpädagogik. Einführung in eine wertgeleitete erziehungswissenschaftliche Disziplin. Bern: Haupt Heimlich, U.; Kahlert, J.; Lelgemann, R.; Fischer, E. (Hrsg.) (2016): Inklusives Schulsysystem. Analysen, Befunde, Empfehlung zum bayerischen Weg. Bad Heilbrunn: Klinkhardt Wocken, H. (2014): Bayern integriert Inklusion. Über die schwierige Koexistenz widersprüchlicher Systeme. Hamburg: Feldhaus Verlag Wocken, H. (2015): Der 4P-Kodex. Über grundlegende Qualitäten für inklusive Entwicklungen und Prozesse. In: Wocken, H.: Im Haus der inklusiven Schule. Grundrisse - Räume - Fenster. Hamburg: Feldhaus Verlag, 153 -192 Die Entdeckung des Kreises auf der Haeberlinschen Wiese Reimer Kornmann Heidelberg Es war gleich die erste Begegnung mit Urs Haeberlin, die einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen hat. Im Jahre 1983 wurde der Kreis der Ständigen Berater der VHN installiert, und dabei wurde auch mir die Ehre zuteil, in diesem Gremium mitzuwirken. Dabei kamen zu den üblichen Begutachtungen von Manuskripten auch noch die von mir sehr gern angenommenen und mit großem Genuss verbundenen Einladungen zu Vorträgen im Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg/ Schweiz hinzu. Genießen konnte ich allein schon die ernsthaften, niveauvollen und interessierten Fragen und Diskussionsbeiträge zu meinen Ausführungen, die dann kurze Zeit später - meistens unter Berücksichtigung der erhaltenen Anregungen - in der VHN veröffentlicht wurden. Der Genuss steigerte sich jedoch noch erheblich bei den anschließenden guten fachlichen und privaten Gesprächen in kleiner Runde, die stets auch mit kulinarischen Köstlichkeiten gekrönt waren. So auch am Freitag, dem 17. Juni 1983. Eingeladen hatte Frau Haeberlin, und wir konnten uns bei einem ausgezeichneten Essen im Garten vor dem Hause auch noch an einem wunderschönen Sommerabend mit herrlichem Blick über die Gebirgszüge erfreuen. Der bleibende Eindruck, den dieser Abend bei mir hinterlassen hat, ist sicherlich auch einem inzwischen sehr selten gewordenen Ereignis zu verdanken, das ich immer wieder gern erzähle. Ich war nicht der einzige Gast: Eingefunden hatte sich auch noch Dr. Walter Spiess, damals Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Heilpädagogischen Institut. Doch er traf nicht etwa per Auto oder Motorrad, auch nicht zu Fuß oder mit dem Fahrrad dort ein - nein: Er kam hoch zu Ross und band dann sein Pferd wie selbstverständlich an einer dafür geeigneten Vorrichtung fest! Sogleich fühlte ich mich in eine Zeit zurückversetzt, aus der die Märchen stammen, die mein Erleben in der Kindheit bereichert hatten, und ich musste auch an meinen längst verstorbenen Onkel Paul denken, der noch im Jahre 1959 als Landarzt einen Teil seiner Hausbesuche mit dem Pferd absolvierte. Doch es sind nicht nur Erinnerungen, die diese kleine Episode bei mir lebendig hält. Für mich hat sie auch noch Zukunftsbezug gewonnen. Plane ich seither auf der Grundlage des kulturhistorischen Denkansatzes im Geometrieunterricht die Einführung des Kreises, dann greife ich zur Veranschaulichung immer auf das Bild eines weidenden Tieres zurück, das an einer langen Leine fest angebunden ist und dabei Spuren hinterlässt, die einen deutlichen Kreis markieren. Noch bin ich der Frage nicht nachgegangen, ob entsprechende Erfahrungen in der Menschheitsgeschichte zur Entdeckung des Kreises und zur Erfindung des Rades beigetragen haben, doch für die Zukunft möchte ich dies nicht ausschließen.