Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2016.art06d
5_085_2016_1/5_085_2016_1.pdf11
2016
851
Trend: Spiritualität - Zugang zu einer neuen Sinnorientierung
11
2016
Otto Speck
Erst seit etwa zwei Jahrzehnten ist Spiritualität zu einem dynamischen Trendwort geworden. Davon zeugt nicht nur ein expandierender „Esoterik“-Markt, sondern auch ein verstärktes Interesse von Wissenschaft und Religion, wie es vornehmlich aus dem angelsächsischen Raum bekannt geworden ist. Hier spricht man von einem „Spiritual Turn“ oder einer „Spiritual Revolution“. Vor allem aus den USA liegt eine Fülle empirisch-wissenschaftlicher Forschungsarbeiten zu diesem Thema vor; es wird hier kaum zur Kenntnis genommen (Oser u. a. 2006). Mehr bekannt ist hier die von A. H. Mas-low begründete und von Ken Wilber weiterentwickelte „Transpersonale Psychologie“. Hierzulande hat die Arbeit von A. Bucher (2007) auf das neue Thema aufmerksam gemacht.
5_085_2016_1_0007
68 VHN, 85. Jg., S. 68 -70 (2016) DOI 10.2378/ vhn2016.art06d © Ernst Reinhardt Verlag TRE ND Spiritualität - Zugang zu einer neuen Sinnorientierung Otto Speck LM-Universität München Erst seit etwa zwei Jahrzehnten ist Spiritualität zu einem dynamischen Trendwort geworden. Davon zeugt nicht nur ein expandierender „Esoterik“-Markt, sondern auch ein verstärktes Interesse von Wissenschaft und Religion, wie es vornehmlich aus dem angelsächsischen Raum bekannt geworden ist. Hier spricht man von einem „Spiritual Turn“ oder einer „Spiritual Revolution“. Vor allem aus den USA liegt eine Fülle empirisch-wissenschaftlicher Forschungsarbeiten zu diesem Thema vor; es wird hier kaum zur Kenntnis genommen (Oser u. a. 2006). Mehr bekannt ist hier die von A. H. Maslow begründete und von Ken Wilber weiterentwickelte „Transpersonale Psychologie“. Hierzulande hat die Arbeit von A. Bucher (2007) auf das neue Thema aufmerksam gemacht. Selbst religiös distanzierte Menschen fragen sich, ob es gegenüber der erlebten Alltagsmühle nicht „etwas darüber Hinausgehendes“ gibt. „Is that all there is? “ Ist Leben nicht mehr, als individuelle und soziale Erfolge hergeben? Gesucht wird nach einer übergreifenden Ganzheit und nach der Freiheit des Selbst gegenüber übermächtig werdenden Fremdbestimmungen, nach mehr Raum für innerliche und überdauernde Freude am Leben und für erfüllenden Lebenssinn über alle Oberflächlichkeiten hinweg. Es muss etwas existenziell sehr Bedeutsames sein, wenn sich mehrere zehntausend junge Christen aus aller Welt und verschiedener Religionen regelmäßig und tagelang in Taizé zu Gemeinschaften und Gottesdiensten unter dem Motto „Gott macht glücklich! “ zusammenfinden. Gesucht wird nach einer „höheren Wahrheit“, nach etwas, was das vorgefundene materielle Leben transzendiert. Dass es sich um einen universalen Wert handelt, geht u. a. daraus hervor, dass diese Bewegung auch Menschen einbezieht, die nicht religiös gebunden sind. An sich ist spirituelles Erleben so alt wie die Menschheit, ein verlässlich integrierter Bestandteil menschlichen Lebens. Dass dieses Weltbild vor allem im Westen nahezu verschwunden ist und Spiritualität heute wieder zur Geltung gebracht wird, hängt vor allem mit der „Entzauberung“ der Welt durch den rationalen Fortschritt zusammen, der inzwischen an Grenzen gestoßen ist, die den Menschen ratlos machen. Die Entspiritualisierung ging mit sozio-kulturellen Veränderungen einher, die durch Aufklärung, Industrialisierung, Technisierung, Ökonomisierung und Postmoderne bedingt waren. Sie bedrohen inzwischen auch real den Sinn und die Qualität menschenwürdigen Lebens bzw. letztlich sogar das Überleben. Durch das Übergewicht versachlichender Lebensformen und die vorherrschende immanente Lebensorientierung ist das Leben eher leer und flach geworden. Verloren zu gehen droht nicht nur das Glauben, sondern auch das Vertrauen zueinander. Soziologische Studien zeigen, wie sehr der Mensch zum Getriebenen unter ständig stressigem Kontrolldruck geworden ist. Überforderungen, soziale Entfremdungen und psychi- VHN 1 | 2016 69 OTTO SPECK Spiritualität - Zugang zu einer neuen Sinnorientierung TRE ND sche Störungen seien die Folgen. Das Leben sei weithin auf diesseitiges Glück (happiness) reduziert. Die ursprüngliche Konzeption eines „guten Lebens“ auf der Basis von „Selbstverwirklichung“ erscheint verbaut, zumal der Mensch seine letzte Zielorientierung nicht mehr in der Ewigkeit eines „höheren“ Lebens erkennt, sondern sich nur in einem durch den Tod begrenzten und in Konkurrenz mit anderen zu managenden Leben sieht. Die auffallend verbreitete Depression wird als Erschöpfung des souveränen Individuums gedeutet, das vergeblich versucht, nur es selbst zu sein und eine Metaautorität für sich ablehnt, die aber im Grunde der Menschenwürde einen nicht nur sozialen, sondern darüber hinaus einen sakralen, einen transzendental gesicherten Wert geben könnte. In spirituellen Erfahrungen, wie sie seit je in allen Kulturen und Religionen tief verankert sind oder waren, transzendiert das Selbst zu einer Verbundenheit mit dem Alleinen und Ganzen und begegnet dabei letztlich auch dem „Geheimnis, das wir Gott nennen“. Es geht also nicht um eine bloße Übersteigerung des Ich- Erlebens. Diese wäre ein esoterischer Narzissmus, darauf angelegt, das eigene Wohlergehen zu optimieren und sich sein „Glück“ oder sein Heil selbst zu verschaffen. Spiritualität oder spirituelles Bewusstsein ist eine Grundeigenschaft des Menschen, die darauf gerichtet ist, sich über das physisch-materiell Gegebene und das sinnlich Wahrnehmbare hinaus Sinnhintergründe und universale Gültigkeiten zu erschließen, die ein inneres Gegengewicht zum Leben in seiner Begrenztheit und äußeren Abhängigkeit bilden können. Spiritualität wird als Intuition, als Ergriffensein, als Ahnung, Erleuchtung oder als plötzliche Idee erlebt, die man sich jedoch nicht hinreichend erklären kann. Was dabei zutiefst angesprochen wird, ist das „Herz“. Dieses gilt in allen Kulturen als die Mitte des Menschen, als der tiefste und wirkliche Grund seines Wesens - nicht der Kopf! Starke Belege für die Realität spirituellen Erlebens erbringt die Nahtod-Forschung. Nahtod- Erfahrungen kommen bei etwa 5 % aller Menschen vor. Es handelt sich dabei um übersinnliche Erfahrungen, die ein Mensch bei einem unfalls- oder operationsbedingten Herzstillstand (Koma) für kurze Zeit erlebt, wobei er in einer unbeschreiblich schönen lichterfüllten Umgebung bestimmte Szenerien mit lebensbedeutsamen Inhalten erlebt, z. B. eine Erkenntnis gebende Lebensrückschau, ein liebevolles Mit- und Füreinander, die klare Unterscheidung von Recht und Unrecht, eine nicht-verurteilende Umwelt und/ oder Vertrauen in das Leben. Das Besondere daran ist das Erleben des eigenen Bewusstseins außerhalb des Körpers, ein Indiz dafür, dass das Bewusstsein ein unendliches sein muss, also mit dem Tod des Körpers nicht erlischt, was jedoch nicht bedeutet, dass es etwas „Übernatürliches“ sei. Wissenschaftliche Befunde deuten darauf hin, dass Spiritualität genisch angelegt, ihre Entwicklung aber auf eine spirituelle Erziehung angewiesen ist; diese müsste schon in den ersten Lebensjahren beginnen und sich besonders auf das unmittelbare Erleben spirituell-emotionaler Situationen stützen, bezogen etwa auf Natur und Kosmos, auf die soziale Mitwelt, auf sich selbst und auf ein höheres, göttliches Wesen (Bucher 2007). Fragen über „Gott und die Welt“, über Himmel und Erde, über sich selbst als Mensch und über den Sinn des Lebens und den Wert der Dinge, wie sie schon kleine Kinder stellen, müssten glaubwürdig beantwortet werden können. Das Thema Spiritualität dürfte für die Heilpädagogik insofern besonders wichtig sein, als es bei einer Behinderung um besonders herausfordernde Lebenslagen geht, die durch soziale oder pädagogische Arrangements allein nicht nachhaltig bewältigt werden können. Die helfende Wirkung der Religiosität für die Bewältigung schicksalhafter Belastungen, z. B. durch eine Behinderung, ist wissenschaftlich belegt. VHN 1 | 2016 70 OTTO SPECK Spiritualität - Zugang zu einer neuen Sinnorientierung TRE ND Immer mehr Bedeutung gewinnt heute Spiritualität in Bezug auf Gesundheit und Krankheit. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen u. a., dass spirituelles Bewusstsein die Gesundheit stärken und erhalten kann, dass Heilungen durch bestimmte Bewusstseinszustände und spirituelle Einstellungen und Praktiken unterstützt und sogar Selbstheilungen möglich werden. Deshalb sollte nicht die Krankheit, sondern der Kranke mehr im Vordergrund stehen. An einigen Medizinischen Fakultäten wurden Professuren für „spiritual care“ eingerichtet. Die Chancen für einen spirituellen Wandel sind heute deshalb so groß, weil erstmals in Ost und West übergreifende spirituelle Weisheiten lebendig sind. Literatur Bucher, A. (2007): Psychologie der Spiritualität. Handbuch. Weinheim: Beltz Oser, F. K.; Scarlett, W. G.; Bucher, A. (2006): Religious and Spiritual Development throughout the Life Span. In: Damon, W.; Lerner, R. M. (Ed.): Handbook of Child Psychology, Vol. 1. New York: Wiley & Sons, 942 -998 Speck, O. (2015): Spirituelles Bewusstsein. Nahtod-Erfahrungen - Wissenschaftliche und kulturelle Aspekte. 2. Aufl. Norderstedt: BoD Anschrift des Autors Prof. em. Dr. Otto Speck Pfarrer-Grimm-Straße 42 D-80999 München otto.speck@superkabel.de
