Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2016.art26d
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Fachbeitrag: Peerkulturelle Praktiken zwischen Möglichkeitsraum und schulischer Ordnung
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Ariane Otto
Positive Peerkultur ist ein pädagogischer Arbeitsansatz, der insbesondere im schulischen Kontext breite Anwendung findet. Er verfolgt das vorrangige Ziel, in pädagogisch gerahmten Gesprächskreisen Jugendlichen Raum zu geben, um für sie lebensrelevante Themen und Anliegen zu besprechen. Im vorliegenden Beitrag werden die empirischen Ergebnisse einer qualitativen Studie zum Arbeitsansatz vorgestellt. Der Fokus liegt dabei auf den Fragen, wie Positive Peerkultur im Schulalltag initiiert und umgesetzt wird und welche Formen von Peergemeinschaften dabei entstehen. Der Beitrag schließt mit einer kritischen Reflexion in Form einer theoretischen Einordnung der Ergebnisse und Impulsen für die Praxis Positiver Peerkultur.
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225 VHN, 85. Jg., S. 225 -236 (2016) DOI 10.2378/ vhn2016.art26d © Ernst Reinhardt Verlag FACH B E ITR AG 1 Einleitung Schule als Bildungsinstitution gewinnt für Heranwachsende mit zunehmendem Alter als Entstehungsort von Freundschaften und gemeinsamer Jugendtreffpunkt wachsende Bedeutung (vgl. Helsper/ Böhme 2010, 639). Peerkulturelle Aktivitäten werden dabei stets von schulischen Regeln und Normen begleitet, worüber sich die Heranwachsenden bewusst sind und ihr Verhalten darauf abstimmen. Sie handeln als „institutionelle Akteure“ (Fend 2008, 153) und orientieren sich in dieser Rolle an der schulischen Ordnung 1 . Parallel gestalten sich Interaktionen zwischen den Jugendlichen selbst, in denen sie als Peers handeln und eine „peereigene soziale Ordnung schaffen, die kaum an der schulischen orientiert ist“ (de Boer 2009, 105). Schüler bewegen sich damit in einem ständigen Balanceakt - zwischen der Ordnung der Schule und der der Peerkultur. An zahlreichen Stellen kann diese Doppelrolle zu Spannungen führen und Risiken für die eigene Schulbiografie hervorrufen (vgl. Otto 2015, 28). Peerkulturelle Praktiken zwischen Möglichkeitsraum und schulischer Ordnung Schülerperspektiven auf den Arbeitsansatz Positive Peerkultur im schulischen Handlungsraum Ariane Otto Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Zusammenfassung: Positive Peerkultur ist ein pädagogischer Arbeitsansatz, der insbesondere im schulischen Kontext breite Anwendung findet. Er verfolgt das vorrangige Ziel, in pädagogisch gerahmten Gesprächskreisen Jugendlichen Raum zu geben, um für sie lebensrelevante Themen und Anliegen zu besprechen. Im vorliegenden Beitrag werden die empirischen Ergebnisse einer qualitativen Studie zum Arbeitsansatz vorgestellt. Der Fokus liegt dabei auf den Fragen, wie Positive Peerkultur im Schulalltag initiiert und umgesetzt wird und welche Formen von Peergemeinschaften dabei entstehen. Der Beitrag schließt mit einer kritischen Reflexion in Form einer theoretischen Einordnung der Ergebnisse und Impulsen für die Praxis Positiver Peerkultur. Schlüsselbegriffe: Positive Peerkultur, Schule, Schüler, Peergemeinschaft Peer Cultural Practices Between Space of Possibilities and School Order - Students Perspectives on the Approach of Positive Peer Culture in School Summary: Positive Peer Culture is an educational working approach, which is widely used in school context. In pedagogically initiated discussion groups, young people are supposed to discuss life issues and concerns relevant to them. This paper presents the empirical results of a qualitative study to this approach. The focus is on issues such as Positive Peer Culture is initiated and implemented in everyday school life and what forms of peer communities are thereby created. The paper concludes with a critical reflection in the form of a theoretical classification of the results and with impulses for practice of Positive Peer Culture. Keywords: Positive Peer Culture, school, students, peer community VHN 3 | 2016 226 ARIANE OTTO Peerkulturelle Praktiken FACH B E ITR AG Nichtsdestotrotz dürfen Peerbeziehungen nicht losgelöst von den schulisch-institutionellen Möglichkeiten für die Gestaltung unterschiedlicher Beziehungen betrachtet werden, da sie mehr denn je als soziale und bildungsbezogene Ressource innerhalb der Schule betrachtet werden können, um den verschiedenen Herausforderungen moderner Lebenswelten gerecht zu werden (vgl. hierzu Hurrelmann/ Andresen 2007; Harring 2007; Grunert 2005; Krüger/ Grunert 2009). Um das peerkulturelle Kapital zu nutzen und den Fokus auf den sozialisatorischen Wert der Gleichaltrigenkultur zu lenken, ist es sinnvoll, innerhalb der Institution Schule Nischen zu schaffen, die peerkulturelle Praktiken ermöglichen. Einen pädagogischen Arbeitsansatz dafür stellt das Konzept Positive Peerkultur (Opp/ Unger 2006) dar. Es verfolgt das Ziel, Heranwachsenden in ritualisierten und pädagogisch initiierten Gesprächsrunden die Möglichkeit zu geben, für sie lebensrelevante Anliegen zu besprechen. Im Rahmen einer qualitativen Studie 2 wurde der Frage nachgegangen, wie die pädagogische Programmatik Positiver Peerkultur im konkreten schulischen Alltag umgesetzt wird und welche Formen von Peerbeziehungen dabei entstehen. Zielführend war es, einen empirischen Beitrag zur pädagogischen Realität peerkultureller Praktiken im schulischen Kontext zu leisten und den Arbeitsansatz Positive Peerkultur in seiner Praxis zu hinterfragen. 2 Konzeption und theoretische Verortung des Arbeitsansatzes Positive Peerkultur Zahlreiche empirische Studien verweisen auf die Bedeutung, die die Heranwachsenden in der Jugendphase untereinander für individuelle Entwicklungsprozesse einnehmen (u. a. Breitenbach 2000; Reinders u. a. 2005; Alisch/ Wagner 2006; Krüger/ Pfaff 2008; Leven u. a. 2010). Das Forschungsinteresse richtet sich neben den risikoverstärkenden Einflüssen, beispielsweise durch die Einbindung in delinquente Jugendgruppen, auch auf das peerkulturelle Kapital, das die Heranwachsenden füreinander aufbringen können. Das konzeptionelle Verständnis Positiver Peerkultur setzt an dieser Stelle an und versucht das Peerkapital im pädagogischen Rahmen positiv zu nutzen. Diese Vorstellung impliziert keine Harmonisierung im Sinne konfliktfreier Interaktion zwischen den Jugendlichen. Konflikte und Auseinandersetzungen sind Teil peerkultureller Praktiken und stellen willkommene Lernanlässe dar. Es geht dabei um die Entwicklung einer Diskurskultur, die die Erfahrung von Respekt und Autonomieentwicklung unterstützt. Daran anschließend verweist der Begriff der Kultur auf die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die Schutz und Orientierung bieten soll. Innerhalb dieser Gemeinschaft soll es zu Aushandlungen der individuellen Interessen zugunsten der Gemeinschaft kommen, ohne dabei die Würde des Einzelnen zu beschneiden. Es geht also um einen Prozess der Kooperation und Partizipation (Opp 2006; Opp/ Teichmann 2008). Im Rahmen dieser konzeptionellen Vorstellungen greift der Arbeitsansatz Positive Peerkultur im schulischen Kontext in seiner methodischen Umsetzung auf strukturierte Ablaufschritte, feste Regeln und gemeinsam ausgehandelte Rituale zurück, die insbesondere die Gesprächsstrukturierung und die Verschwiegenheit der Teilnehmer gegenüber Außenstehenden unterstützen sollen (vgl. hierzu Teichmann 2006). Theoretische Grundlagen des Arbeitsansatzes bilden dabei zum einen ressourcen- und stärkenorientierte Ansätze, die im pädagogischen Kontext maßgeblich auf Analysen verschiedener Studien der Resilienzforschung aufbauen (vgl. hierzu Werner 2008). Deren Erkenntnisse richten den Blick darauf, Heranwachsenden Räume zur Erprobung und Entwicklung zur Verfügung zu stellen, in denen sie eigenverant- VHN 3 | 2016 227 ARIANE OTTO Peerkulturelle Praktiken FACH B E ITR AG wortlich und partizipativ agieren können. Zum anderen ist Positive Peerkultur auf pädagogische Gruppenarbeit zurückzuführen (Vorrath/ Brendtro 2008; Dewey 1993; Redl 1971) und zielt darauf ab, eine Kultur der Kommunikation und des Miteinanderverbundenseins zu entwickeln. Die Peergruppe und die Einbindung in deren soziale Gemeinschaft soll Schutz und Orientierung bieten und im Austausch mit authentischen Rollenmodellen Problemlöseprozesse initiieren. 3 Stand der Forschung und Konkretisierung der Forschungsfrage Im Rahmen empirischer Analysen zum Arbeitsansatz Positive Peerkultur dokumentiert sich ein breites Forschungsdesiderat. Es existieren bisher kaum Untersuchungen, die den Arbeitsansatz und seine Annahmen als Gegenstand der Analyse in den Blick nehmen. Aufgrund gemeinsamer theoretischer Bezugspunkte können allerdings Studien als relevante Forschungsstränge angesehen werden, die den Klassenrat und ähnliche Verfahren in den Fokus rücken. Zentrale Ergebnisse solcher Arbeiten können wie folgt knapp zusammengefasst werden: 1) Es zeigt sich, dass dem Klassenrat und ähnlichen Verfahren Grenzen in Bezug auf die Entwicklung einer Konfliktkultur immanent sind, da die Kinder der Doppelrolle als Peer sowie Schüler und somit einem Dilemma ausgesetzt sind (Breidenstein/ Kelle 1998; de Boer 2006). Darüber hinaus weisen sowohl die Analysen von Friedrichs (2004) als auch die von Breidenstein und Kelle (1998) darauf hin, dass das Austragen von Streitigkeiten in der Öffentlichkeit der Klasse mit zunehmendem Alter abnehme. Konflikte würden nun häufiger unter den unmittelbar Beteiligten selbst ausgetragen. Es bestünde das Risiko, dass solche Formate in höheren Klassenstufen an Bedeutung verlören. 2) Gruppenprozesse spielen eine wesentliche Rolle, wurden allerdings bisher nur marginal betrachtet. Lediglich Heinzel (2002) und Bauer (2013) stellen heraus, dass sich der Klassenrat im Spannungsfeld zwischen Exklusions- und Inklusionsprozessen bewegt. 3) Die Rolle des Lehrers erscheint paradox: er soll das Geschehen leiten und regulieren und zugleich gleichberechtigtes Mitglied sein (Kiper 1997; Heinzel 2002; de Boer 2006; Bauer 2013). 4) Bei der Frage nach der Schultranszendenz der Gespräche deuten sich konträre Ergebnisse an. Heinzel (2001) bezeichnet Kreisgespräche als Übergangsraum zwischen schulischer und außerschulischer Lebenswelt, während andere Autoren auf die Immanenz schulischer Themen verweisen (Breidenstein/ Jergus 2005; de Boer 2006). Ausgehend von den knapp skizzierten Forschungslücken ging ich im Rahmen meiner Analysen folgenden Forschungsfragen nach: 1. Der Anspruch Positiver Peerkultur liegt darin, einen lebensweltorientierten Ansatz für Heranwachsende im schulischen Kontext bereitzustellen. Das geht über die konzeptionellen Vorstellungen des Klassenrats hinaus. Es stellen sich demzufolge zwei Fragen: Welche Relevanz messen die Jugendlichen den Gesprächskreisen bezüglich ihrer schulischen und außerschulischen Lebenspraxis bei und inwiefern geht diese möglicherweise über die Grenzen der schulischen Institution hinaus? 2. Weiter richtet sich das Augenmerk der Untersuchung auf die Konstellation der Gleichaltrigen als Peergruppe: Trägt der schulische Raum dazu bei, peerkulturelle Praktiken zu ermöglichen und gemeinschaftsstiftende Momente zu initiieren oder verweilen die Jugendlichen in ihrer Schülerrolle? VHN 3 | 2016 228 ARIANE OTTO Peerkulturelle Praktiken FACH B E ITR AG 3. An diese Fragen anschließend rücken auch die Sichtweisen der Akteure auf das pädagogische Handeln in den Fokus. Es stellt sich die Frage, welchen Einfluss die pädagogische Rahmung der Gespräche in unterschiedlich organisierten Gruppen für die Orientierungen der Jugendlichen hat und inwiefern sich diese Gespräche von solchen in ihren außerschulischen Freundeskreisen unterscheiden. 4 Sample und methodisches Vorgehen In meiner Studie wende ich mich der Praxis Positiver Peerkultur in der Sekundarstufe zu. Das Sample der Untersuchung setzte sich aus 6 Realgruppen an 5 verschiedenen Schulen zusammen, womit sich eine Datenbasis von 12 Gruppendiskussionen ergab. Nach dem Prinzip der minimalen und maximalen Kontraste (Glaser/ Strauss 2005) wurde anschließend eine Auswahl von 5 Gruppendiskussionen getroffen: Die Gruppe Selke, eine 9. Klasse in einer Realschule, die den Arbeitsansatz in Form eines Neigungskurses als Wahlpflichtangebot klassenübergreifend wöchentlich durchführt. Die Gruppe Doro, die sich in einem Vorqualifizierungsjahr an einer kaufmännischen Schule befindet und im Rahmen eines obligatorischen Unterrichtsfachs ebenfalls wöchentlich Gesprächskreise durchführt. Die Gruppe Sina, deren Teilnehmer eine Leistungs- und Begabtenklasse einer 8. Klasse im Gymnasium besuchen und gemeinsame Gespräche 14-tägig fakultativ durchführten. Zum Zeitpunkt der Erhebung hat sich die Klasse bereits dafür entschieden, den Gesprächskreis abzubrechen. Sowie die Gruppen Ole und Jasu, zwei 7. Klassen einer integrativen Oberschule, die einmal wöchentlich für eine Unterrichtsstunde zusammenkommen. Als Erhebungsverfahren diente das Gruppendiskussionsverfahren. Zielführend war es, die Jugendlichen in einen Interaktions- und Kommunikationszusammenhang treten zu lassen, in dem sie über ihre Erfahrungen und Erlebnisse mit dem pädagogischen Arbeitsansatz Positive Peerkultur berichteten. Mit dem Eingangsstimulus „Mich interessieren jetzt besonders eure Erfahrungen und Erlebnisse mit eurem Gesprächskreis 3 . Dabei interessiert mich alles, was euch wichtig ist. Lasst euch ruhig Zeit und erzählt alle Einzelheiten! “ wurden ausführliche Darstellungen von Erlebnissen generiert, die einen Zugang zur Handlungspraxis der Gruppen ermöglichten. Mithilfe der dokumentarischen Methode (Bohnsack 1989; 2010) konnte das atheoretische Wissen, das die Akteure der jeweiligen Gruppe miteinander teilen, rekonstruiert werden. In einem abschließenden Schritt, der Typenbildung, welche auf die Generierung einer beziehungsweise mehrerer Typiken abzielt, wurde über den Einzelfall hinausgegangen, und die Ergebnisse wurden theoretisch generalisiert. 5 Formen der Passung Positiver Peerkultur im schulischen Kontext In einer zusammenfassenden Betrachtung der drei von mir rekonstruierten Typen lassen sich unterschiedlich ausgeprägte Formen der Passung des pädagogischen Arbeitsansatzes Positive Peerkultur im schulischen Kontext herausstellen. Diese Passungsverhältnisse entstanden unter dem Gesichtspunkt des Zusammenhangs zwischen unterschiedlich pädagogisch gerahmten Peervergemeinschaftungen und an diese herangetragenen pädagogischen Mittel, hier die Moderatoren der Gesprächsrunden und die geltenden Regeln. Die unterschiedlichen Passungen machen deutlich, wie wichtig eine empirische Auseinandersetzung mit den normativen Ansprüchen des Arbeitsansatzes ist, um so Ambivalenzen seiner praktischen Umsetzung einer kritischen wissenschaftlichen Reflexion zu unterziehen. VHN 3 | 2016 229 ARIANE OTTO Peerkulturelle Praktiken FACH B E ITR AG 5.1 Typ A: Positive Peerkultur als eigendefinierter Möglichkeitsraum In einem ersten Typ meiner Untersuchung entsteht zwischen den schulischen Peervergemeinschaftungen und den pädagogischen Mitteln ein Passungsverhältnis, bei dem es zu einer gruppenindividuellen Nutzbarmachung der Gespräche für die Jugendlichen kommt. Die Moderatorinnen der Gesprächsrunden stellen den Gruppen einen Raum zur Verfügung, der den Jugendlichen in ihren bisherigen Schülerbiografien nicht gegeben war. Er bricht mit den teilweise belastenden und ermüdenden Schulerfahrungen der Jugendlichen und wird als eine Art Höhepunkt der Schulwoche deklariert. Aufgrund der institutionellen Verpflichtung der Veranstaltungen wird parallel die Sicherheit eines kontinuierlichen Austausches garantiert. Die schulische Einbettung der Gesprächsrunden wird daher nicht als zusätzliche Verpflichtung wahrgenommen, sondern ermöglicht eine Verlässlichkeit der Gruppentreffen. Die Moderatorinnen unterstützen die Gruppen dabei, eigene gruppenrelevante Themen zu setzen, indem sie keine thematische Rahmung der Gespräche vorgeben. Je nach thematischer Schwerpunktsetzung nehmen sie während der Gesprächsrunden eine passive beziehungsweise aktive Position im Gruppenkollektiv ein, was eine hohe Anschlussfähigkeit an die Orientierungen an Entlastung und Unterstützung aufweist. Haben schulische Themen einen zentralen Stellenwert, fungiert die Lehrerin in einer beratenden Rolle unterstützend, um lösungsorientierte Gespräche voranzutreiben und den schulischen Alltag zu entlasten: Daria: ja und die Lehrer hilf uns […] die Probleme die Lösung weil wir haben zum Beispiel Probleme mit Noten die helfen uns ja und nich wir müssen die ganze Zeit selber denken was müssen wir machen (Z. 67ff) Liegt der Schwerpunkt hingegen auf außerschulischen Anliegen, kommt es zu einer passiven Begleitung der Gesprächsrunden, und die Jugendlichen selbst sind die Experten in eigener Sache. Beide Formen der Rollenerfüllung ermöglichen Anerkennungsprozesse für alle am Gruppenprozess beteiligten Akteure. Die Regeln der Verschwiegenheit und der Gesprächsstrukturierung mithilfe eines gruppeneigenen Gesprächstiers werden durch die Moderatorinnen an die Gruppen herangetragen und als bedeutsam angesehen. Beide lassen sich in den positiven Horizont der Gruppen verorten, da sie die Rahmenbedingungen schaffen, um die Gespräche gruppenindividuell nutzbar zu machen. An die Regel der Verschwiegenheit sind alle Akteure, einschließlich der Moderatorinnen, gebunden, womit eine Vertrauensbasis hergestellt wird. Die Öffnung gegenüber der Gruppe stellt somit kein Risiko dar und fördert einen wechselseitigen und intimen Austausch: Heike: ja na hier weiß man auf jeden Fall dass man hier auch 100 % weiß dass es eben nich weiter erzählt wird weil du weißt das ja nie wenn du was deiner Freundin erzählst ob die dann vielleicht zum Nächsten geht und das irgendwie weiter erzählt und hier weiß man halt dass es nich weiter erzählt wird und das find ich halt schon wichtig wenn man über Probleme redet oder halt naja über was Wichtiges und dann redet man halt lieber hier in der Runde als mit irgendwelchen Freunden die halt nich in der Runde sin (Z. 40ff) Die Verwendung eines Gesprächstiers unterstützt die Gesprächsführung. Mit dem Erhalt des Rederechts erhält man die Aufmerksamkeit der anderen und die Möglichkeit, die eigenen Anliegen in der Gruppe besprechen zu können, wodurch ebenfalls Anerkennungsprozesse gefördert werden. Beide Regeln tragen letztlich dazu bei, dass sich die Gruppen als Peerkonstellation erfahren, die eine andere Qualität gegenüber außerschulischen Freundschaftsverhältnissen hat. Einerseits kommt es hier zu einem Austausch privater Themen im VHN 3 | 2016 230 ARIANE OTTO Peerkulturelle Praktiken FACH B E ITR AG Rahmen eines verschwiegenen Expertentums, das ihnen im außerschulischen Lebensbereich nicht zugänglich ist. Andererseits können aufgrund der Strukturierungshilfen konstruktiv Lösungen gesucht werden, was für die Besprechung öffentlicher Anliegen als sinnvoll angesehen wird. Den Gruppen wird selbst überlassen zu entscheiden, welche Anliegen für sie relevant sind und wofür der zur Verfügung gestellte Raum genutzt werden soll. Dadurch gewinnen die Problemlösegespräche für die Lebenspraxis der Jugendlichen an Bedeutung. Es können sowohl schulisch als auch außerschulisch relevante Anliegen bearbeitet werden, um letztendlich die außerschulische Lebenswelt zu entlasten. Zwischen der Bereitstellung eines solchen Möglichkeitsraumes und der jeweiligen Peervergemeinschaftung stellt das Reglement der Gespräche eine Art Bindeglied dar. Die Regeln werden von den Moderatorinnen als Unterstützung angeboten und von den Jugendlichen als gruppeneigene Praktiken verwendet. 5.2 Typ B: Positive Peerkultur als ein schulisch-vordefinierter Raum Unzureichend gestaltet sich das Passungsverhältnis in einem weiteren rekonstruierten Typ, bei dem sich das Format Positive Peerkultur auf einen schulischen Funktionsraum reduziert. Die Moderatorinnen stellen einen Raum bereit, der intervenierend auf bestehende klasseninterne Konflikte einwirkt, wobei sie als Aufsichtspersonen wahrgenommen werden und regulierend sowie kontrollierend in das Geschehen eingreifen. Zum anderen legen sie die thematische Ausgestaltung der Gespräche fest, sodass sie lediglich für die Klärung konfliktreicher Situationen und organisatorischer Angelegenheiten genutzt werden können: Alexander: […] wir machen uns hier eigentlich alle unsere Probleme und das mit Klassenfahrt und Wandertag Philipp: ja und wenn wir da nichts haben dann gehen wir ja zurück in den Unterricht und da machen wir irgendwas weiter schriftliche Aufgaben oder so oder manchmal auch mündliche Unterrichtsstimmung so (Z. 161ff) Für die Jugendlichen wird ein Problemlöseraum konstruiert, in dem die thematische Schwerpunktsetzung der Gespräche vorgegeben ist und diese einen schuldominanten Charakter annehmen. Mit dem Ziel, schulkonformes Verhalten zu initiieren, werden die Gespräche innerhalb der Peergruppen für das Alltagsgeschehen funktionalisiert, um das anerkannte Schulformat wieder herzustellen. Anliegen, die sich als gruppenbedeutsam dokumentierten, werden hingegen vernachlässigt. Die Gesprächsrunden werden von den Heranwachsenden allerdings nicht negiert, da hiermit die Möglichkeit besteht, das Schulische zu umgehen. Der funktionalisierte Raum wird aufrechterhalten, da er noch immer einen Kontrast zum gewohnten Schulformat darstellt. Auf dieser Grundlage kommt es zu einer sekundären Anpassung der Gruppen an die durch die Moderatorinnen herangetragenen Regeln. Diese umfassen insbesondere die Einhaltung von Ruhe, die Strukturierung der Gespräche mithilfe eines Gesprächstieres und das Beimessen von Ernsthaftigkeit. Sie werden zwar als Verbote wahrgenommen, jedoch als sinnhaft angesehen, da sie dem Anspruch von Schulkonformität folgen. Sie werden von den Gruppen akzeptiert, allerdings nur punktuell umgesetzt. In der Diskussion der Gruppe Jasu lässt sich darüber hinaus eine besondere Form der Enaktierung des Reglements feststellen: Alexander: wir beide mussten 600 Wörter Entschuldigungssprüche schreiben als Strafe weil da welche beleidigt waren naja wir warn halt einige aus unserer Klasse ständig genervt und vom Unterricht abgelenkt und die ham das besprochen ham das angesprochen und dann wurde und VHN 3 | 2016 231 ARIANE OTTO Peerkulturelle Praktiken FACH B E ITR AG dann wurde das beschlossen mit der ganzen Klasse und dann wurde uns halt ne Strafe verschrieben (Z. 16ff) Im Falle eines Regelbruchs werden durch die Gruppe selbst Sanktionen ausgesprochen. Dies kann als ein Versuch angesehen werden, den schuldominanten Raum gruppenindividuell auszugestalten. Allerdings nicht mit dem Ziel, Peervergemeinschaftung zu initiieren, sondern formale Gerechtigkeit und somit schulkonforme Anpassung zu produzieren. Das zentrale Anliegen der Gespräche begrenzt sich somit auch weiterhin auf die Lösung unterrichtlicher Probleme und stellt einen bereits vordefinierten Raum für die Jugendlichen dar. Den Jugendlichen wird die Möglichkeit fast vollständig entzogen, gruppenrelevante Themen zu setzen und eigene peerkulturelle Praktiken umzusetzen. Sie erfahren sich als Vertreter der Institution, indem sie regelwidriges Verhalten aufdecken und denunzieren. Dabei gelingt es ansatzweise, unterrichtliche Störungen zu unterbinden. Ausschlaggebend dafür sind der regulierende und kontrollierende Einfluss der Moderatorin und deren Regelwerk. Eine Bearbeitung gruppenindividueller Anliegen findet allerdings keinen Raum, wodurch zentrale Probleme bestehen bleiben. Dem Relevanzsystem der Gruppen wird nur unzureichend entsprochen und der Arbeitsansatz Positive Peerkultur auf den Versuch reduziert, Schulkonformität zu erzeugen. 5.3 Typ C: Positive Peerkultur als nicht-kollektiv akzeptierter Peerraum In einem letzten Typ konstruiert die Moderatorin einen Raum, der auf einen schuldominanten und zwanghaften Peerzusammenhang stößt und kontroverse Erwartungen sowie Wahrnehmungen hervorruft. Dem Kollektiv wird mit dem Ansatz Positive Peerkultur ein Format auferlegt, welches intervenierend in die bestehenden Konflikte eingreift und die Jugendlichen zu einer intimen Peerkommunikation verpflichten will. Die Gespräche werden zu Beginn durch die Moderatorin mittels strukturierender und kontrollierender Elemente ausgestaltet, wodurch sich die Jugendlichen als passive Akteure erfahren: Astrid: und dann ham die dann mit uns in den ersten Stunden ähm immer ein Kreis gemacht und dann ham dann gabs da verschiedene Wächter also einer hat dann immer auf die Zeit geachtet und der andre hat dann immer versucht die Klasse still zu halten da gabs ganz lustige kleine Schildchen ja (Z. 22ff) Das Reglement umfasst vor allem den Einsatz von Wächterrollen und eines Gesprächstieres sowie die Regel der Verschwiegenheit. Ihre Sinnhaftigkeit bewegt sich im Spannungsfeld zwischen Autonomiebeschränkung und Strukturierungshilfen. Werden sie von einigen als infantile Überwachungsinstrumente angesehen, welche die Jugendlichen in ihrer Eigenständigkeit beschneiden, verbinden andere damit eine sinnvolle Unterstützung für eine konstruktive Konfliktlösung: Gerd: und wir hatten so ein lustiges Redetierchen […] Sofie: aber das war auch nur weil wir immer so durcheinander reden und dann ist es immer so laut und das Redetierchen sollte ja nur bezwecken dass nur der redet der das Tier hat und das is ja eigentlich auch peinlich dass wir das nicht mal hinkriegen Gerd: man kann sich jetzt darüber streiten ob das jetzt ja kindlich war oder irgendwie ganz lustig und ne gute Idee (Z. 142ff) Es kommt allerdings zu keiner Einigung, welche Elemente als sinnvoll betrachtet werden können, sodass sie als gruppenfremde Praxis bestehen bleiben. Der fehlende Konsens bringt VHN 3 | 2016 232 ARIANE OTTO Peerkulturelle Praktiken FACH B E ITR AG zwangsläufig ein Unterlaufen der Regeln mit sich, was das eigentliche Anliegen der Gespräche verkehrt. Die Klasse konstruiert sich dabei einen unkontrollierten Beschwerderaum, der die Probleme potenziert und die Konflikte weiter zuspitzt. Parallel schlägt der Versuch einer festen Etablierung der Gesprächsstunden in das schulische Alltagsgeschehen fehl. Es kommt zu keiner Kontinuität und zur Überführung von Vereinbarungen in die Schulpraxis der Jugendlichen. Die Stunden nehmen somit den Charakter einer intervenierenden Schnellreparatur an, was Gruppenbildungsprozessen und dem Aufbau einer Vertrauensbasis entgegenwirkt. Bestehende divergente Bestrebungen in der Klassengemeinschaft können sowohl mithilfe der Moderatorin als auch des Reglements nicht aufgelöst werden. Vielmehr verursacht die fehlende kollektive Zustimmung gegenüber dem gesamten Format neue Konflikte und letztendlich auch den weiteren Zerfall der Klassengemeinschaft. 6 Theoretische Einordnung und Reflexionen für die Praxis Ein zentraler Aspekt, der im Rahmen meiner Rekonstruktionen beleuchtet werden sollte, fokussierte die Frage, inwiefern die Gespräche in die schulischen und außerschulischen Lebenswelten hineingreifen und von den Jugendlichen nutzbar gemacht werden können. Entgegen einiger Schlussfolgerungen anderer empirischer Arbeiten (Breidenstein/ Kelle 1998; Friedrichs 2004) scheint es durchaus möglich, in einem pädagogisch gerahmten Setting peerkulturelle Praktiken zu initiieren, sodass diese auch von Jugendlichen für die Bearbeitung der für sie relevanten Themen genutzt werden können. Die Jugendlichen erfahren verlässliche Beziehungsstrukturen, mithilfe derer sie ihre eigene Lebenspraxis reflektieren und Handlungsmöglichkeiten erproben können. Dabei ist allerdings wesentlich, dass die Gesprächsrunden auch dem Relevanzsystem der Gruppe entsprechen. Kommt es zu einer Vordefinition bzw. Instrumentalisierung der Gespräche durch den Pädagogen, reduziert sich das Format auf einen schulischen Funktionsraum und erscheint für peerkulturelle Aktivitäten nur wenig sinnstiftend. Eine Gefahr besteht darüber hinaus in Bezug auf das Konstruieren eines Konfliktlöse- oder unkontrollierten Beschwerderaums. Analysen zum Klassenrat und ähnlichen Verfahren sehen hierin kein geeignetes Konfliktlöseritual (de Boer 2006; Friedrichs 2004) bzw. verweisen auf die Gefahr der Praxis des Beschwerens, die sich vor allem gegen diejenigen richtet, die bereits im Vorfeld Stigmatisierungen ausgesetzt waren (Breidenstein/ Kelle 1998). Auch in den von mir rekonstruierten Typen B und C mutieren die Gespräche teilweise zu einer Art Gerichtsverfahren bzw. führten die Beschwerden zu einer unkontrollierten Praxis, was der Initiierung fürsorgender Vergemeinschaftungen entgegenwirkt. Eine Auslagerung solcher Konflikte ignoriert allerdings, dass am „Status eines Sozialfalls“ (Breidenstein/ Kelle 1998, 89) auch außerhalb der Gesprächsrunden gearbeitet wird. Die Konsequenz liegt darin, den Konflikt pädagogisch aufzunehmen und die Gruppe dafür zu sensibilisieren. Das Problem sollte nicht einfach an die Gruppe verwiesen werden, sondern es sollte zu einer pädagogisch angeleiteten Suche nach Kooperation und Konsenslösung kommen (vgl. Opp/ Teichmann 2008, 24). Daran anschließend stellt sich die Frage, inwiefern die Jugendlichen die Gesprächskreise als eine unterrichtliche Veranstaltung wahrnehmen oder damit einen eigenen Peerraum verbinden. Dabei wird der Blick auf konkrete peerkulturelle Interaktionen und Anpassungsmechanismen der Heranwachsenden gerichtet. Erving Goffman (1977) stellt heraus, dass Interaktionen Anpassungsstrukturen unterliegen, um sein Handeln situationsgerecht abzustimmen. Er unterscheidet hier zwischen primärer und sekundärer Anpassung sowie den sozialen Interaktionsfeldern der Vorder- und VHN 3 | 2016 233 ARIANE OTTO Peerkulturelle Praktiken FACH B E ITR AG Hinterbühne, was Zinnecker (1978) auf die Schule übertrug. Im Typ A wird das Reglement als gruppeneigene Praxis wahrgenommen und stellt ein pädagogisches Angebot der Moderatorinnen dar, das gruppenindividuell genutzt wird. Der Arbeitsansatz Positive Peerkultur konstituiert sich somit als eine Vorderbühne in der Schule, in der sich die Jugendlichen offiziell in der Rolle als Peers erfahren. Es ist nicht notwendig, „die institutionelle Ordnung zu unterlaufen und unter der Hand ins Gegenteil zu verkehren“ (Zinnecker 1978, 34). Sie bietet einen Rahmen, in der sich die Heranwachsenden als Experten erfahren und bei der Bewältigung herausfordernder Entwicklungsaufgaben reziproke Hilfe leisten. Positive Peerkultur kann allerdings auch als Pädagogisierung der Peerkultur verstanden werden, wie es im Typ B der Studie augenscheinlich wird. Gruppeneigene Relevanzen werden zugunsten der schulischen Ordnung zurückgedrängt, wodurch das Format nicht über eine schulische Veranstaltung hinausgeht. Die Gesprächskreise sind hier als unterrichtliche Vorderbühne gekennzeichnet, in der Interaktionen der Jugendlichen pädagogisch kontrolliert und peerkulturelle Aktivitäten auf die Hinterbühne verbannt werden. Ein Zugang zu partizipativen und autonomen Handlungsräumen wird damit verwehrt. Eine letzte Frage richtet das Augenmerk auf die Konstellation als Peergruppe im Rahmen des pädagogischen Arbeitsansatzes Positiver Peerkultur: Inwiefern können im schulischen Kontext Peerbeziehungen initiiert werden, die auf Respekt und Solidarität beruhen und symmetrische Interaktionsbeziehungen ermöglichen? Hier spielt der Aspekt der Mitbestimmungsrechte, die den Jugendlichen eingeräumt werden, und damit Prozesse der moralischen und sozialen Anerkennung, wie sie Honneth (1992) beschreibt, eine zentrale Rolle. Helsper (2001) überträgt Honneths Anerkennungstheorie auf pädagogische Zusammenhänge und stellt heraus, dass zum einen das Zugeständnis prinzipiell gleicher Rechte für soziale Lernprozesse ausschlaggebend ist und die Achtung des Einzelnen sowie die des Kollektivs einschließt und zum anderen die Akzeptanz von Andersartigkeit eine wesentliche Voraussetzung ist, um Entwürdigung und Ausschluss zu vermeiden. Im Typ A wird das Beziehungsgefüge als vertraut, fürsorglich und teilweise auch familiär beschrieben. Die Jugendlichen nehmen sich als kompetente Ansprechpartner wahr, was ihnen in ihrer Rolle als Peer soziale Anerkennung und ein gesteigertes Selbstwertgefühl verschafft (Honneth 1992). Die Rolle der Moderatorin ist hierfür ausschlaggebend. Sie konstituiert sowohl als passives wie auch als aktives Mitglied die Rahmenbedingungen, indem sie sich zwischen den Polen der Zurücknahme und Unterstützung bewegt und ihre Rolle abhängig von den situativen Einforderungen der Gruppen macht. Im Typ B hingegen dokumentiert sich eine instrumentalisierte, kontrollförmige Autonomie (vgl. hierzu auch Helsper u. a. 2001). Das vorrangige Ziel, die institutionelle Ordnung zu stabilisieren, verhindert soziale und moralische Anerkennung, und die Jugendlichen erfahren sich als Disziplinierungshilfen der Pädagogen. Durch die dominante Strukturierung der Lehrkraft reduziert sich der Arbeitsansatz auf einen problemorientierten und schulischen Raum (vgl. hierzu auch Kiper 1997; Lähnemann 2007), der bestrebt ist, das Klassenleben an die Normen der Schule anzupassen. Im Typ C wird den Heranwachsenden ein Format auferlegt, welches beabsichtigt, „emotionalisierte Peerbeziehungen“ (Helsper 2012, 88) zu initiieren. Dieser Eingriff stellt die Jugendlichen in ein ambivalentes Autonomieverhältnis: Einerseits werden sie zu einer intimen Peerkommunikation verpflichtet, wobei ihnen gleichzeitig die Möglichkeit entzogen wird, sich als Kollektiv selbst zu definieren; andererseits können geltende Regeln nicht durchgesetzt und im schulischen Alltag etabliert werden, womit ihnen die Umsetzung und Überführung des Formats selbst auferlegt wird. VHN 3 | 2016 234 ARIANE OTTO Peerkulturelle Praktiken FACH B E ITR AG Das Anliegen meiner empirischen Analysen war es, Sichtweisen von Jugendlichen auf den Arbeitsansatz Positive Peerkultur im schulischen Kontext zu rekonstruieren. Dabei konnte zusammenfassend herausgestellt werden, dass der Ansatz in seiner praktischen Umsetzung höchst gegensätzliche Formen annehmen kann. Positive Peerkultur als pädagogischer Arbeitsansatz kann Möglichkeitsräume im schulischen Rahmen öffnen, in denen sich Jugendliche als Peers erfahren und den für sie sozialisatorischen Wert in ihrer Entwicklung entfalten. Dabei ist allerdings Voraussetzung, „auf die Komplexität und Heterogenität der Lebensansprüche Heranwachsender flexibel zu reagieren“ (Otto 2015, 202). Eine weitreichende Suspendierung von unterrichtlichen Strukturen und Hierarchien sowie die Zurücknahme pädagogischer Anforderungen und Erwartungen sind unabdingbar, um Jugendlichen im schulischen Setting Selbstbestimmungsräume zu eröffnen: „Positive Peerkultur darf nicht benutzt werden, um den Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schulen auf weitere Akteure zu verteilen. […] Der Arbeitsansatz […] steht immer im Dienste der Peers selbst und nicht im Dienste der Institution Schule.“ (ebd., Hervorhebung im Original.) Es ist davon auszugehen, dass man in der praktischen Arbeit mit dem Konzept zwangsläufig Ambivalenzen begegnet. Diese gilt es ständig zu reflektieren, sodass die normativen Zielsetzungen Positiver Peerkultur nicht ins Gegenteil verkehrt werden und der Arbeitsansatz damit anfällig für ein Scheitern wird. Anmerkungen 1 Unter schulischer Ordnung werden hier, angelehnt an die Ausführungen von Kalthoff und Kelle (2000), rechtliche, räumlich-zeitliche Regelungen sowie Interaktions- und Kommunikationsregeln, Rituale und Routinen verstanden, die die Schule in ihrer Eigendynamik funktionieren lässt. 2 Eine ausführliche Darstellung des in diesem Beitrag nur knapp skizzierten Forschungsdesigns findet sich in Otto 2015. 3 Im Stimulus wurde auf den Terminus Gesprächskreis zurückgegriffen, da dieser als gängige Bezeichnung für alle Gruppen diente. Die Bezeichnung Positive Peerkultur war fast allen Jugendlichen ein Begriff, wurde allerdings in der Praxis nicht verwendet. Literatur Alisch, L. M.; Wagner, J. (Hrsg.) (2006): Freundschaften unter Kindern und Jugendlichen. Interdisziplinäre Perspektiven und Befunde. Weinheim: Juventa Verlag Bauer, A. (2013): „Erzähl doch mal vom Klassenrat! “ Selbstorganisation im Spannungsfeld von Schule und Peerkultur. Halle: Universitätsverlag Bohnsack, R. 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