eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 85/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2016.art27d
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Fachbeitrag: Im Großen und Ganzen zufrieden

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Monika T. Wicki
Im Rahmen der Studie „PALCAP – Palliative Care in den Wohnheimen der Behindertenhilfe“ wurden alle Leitenden der Wohnheime der Behindertenhilfe in der Schweiz bezüglich der medizinischen und psychiatrischen Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Leitungspersonen im Großen und Ganzen zufrieden mit der medizinischen und psychiatrischen Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner sind. Die Befragung zeigt aber auch, dass Lücken in der Gesundheitsversorgung im Bereich der freien Arztwahl und bei der Diagnose demenzieller Erkrankungen bestehen, die diskutiert werden müssen.
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237 VHN, 85. Jg., S. 237 -244 (2016) DOI 10.2378/ vhn2016.art27d © Ernst Reinhardt Verlag FACH B E ITR AG 1 Ausgangslage: Defizite bei der Gesundheitsversorgung von Menschen mit Beeinträchtigungen Rund 14 % der Schweizer Bevölkerung berichten über gesundheitliche Einschränkungen, die länger als sechs Monate andauern und die sie im täglichen Leben und in Interaktion mit den gegebenen Umweltbedingungen als Behinderung erleben (Widmer o. J.; Bundesamt für Statistik 2009). Zahlreiche Studien zeigen, dass Erwachsene mit einer Beeinträchtigung häufiger über gesundheitliche Probleme klagen als ihre Altersgenossen ohne Beeinträchtigungen (Bundesamt für Statistik 2016). Dennoch suchen sie weniger häufig eine Arztpraxis auf, auch aufgrund der Kosten (Gulley/ Altman 2008). Personen mit einer langdauernden oder auch lebenslangen Beeinträchtigung haben häufiger Bewegungsmangel (van Schrojenstein Lantman- De Valk u. a. 2000; Reichard u. a. 2004; Haveman u. a. 2010), Diabetes (Reichard/ Stolzle 2011), psychische Probleme (Fletcher u. a. 2007) und Übergewicht (De Winter u. a. 2012) als ihre gleichaltrigen Peers. Ebenso führen sie häufiger einen ungesunden Lebenswandel (Hilgenkamp u. a. 2012). Weiter zeigen Studien eine hohe Prävalenz demenzieller Erkrankungen Im Großen und Ganzen zufrieden Medizinische und psychiatrische Versorgung in den Wohnheimen der Behindertenhilfe Monika T. Wicki Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik (HfH), Zürich Zusammenfassung: Im Rahmen der Studie „PALCAP - Palliative Care in den Wohnheimen der Behindertenhilfe“ wurden alle Leitenden der Wohnheime der Behindertenhilfe in der Schweiz bezüglich der medizinischen und psychiatrischen Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Leitungspersonen im Großen und Ganzen zufrieden mit der medizinischen und psychiatrischen Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner sind. Die Befragung zeigt aber auch, dass Lücken in der Gesundheitsversorgung im Bereich der freien Arztwahl und bei der Diagnose demenzieller Erkrankungen bestehen, die diskutiert werden müssen. Schlüsselbegriffe: Public Health, Gesundheitsversorgung, Behinderung, Wohnheime der Behindertenhilfe, Demenz More or Less Satisfied - Medical and Psychiatric Care in Residential Homes for People With Disabilities Summary: Within the study „PALCAP - Palliative Care for People with ID“, directors of residential homes for people with disabilities in Switzerland have been asked about the medical and psychiatric care of their residents. The results show that the directors are more or less satisfied with the medical and psychiatric care provided for residents. However, the results also show different problems concerning the free choice of physicians and related to the diagnosis of dementia. These have to be discussed. Keywords: Public Health, medical care, disability, residential homes, dementia VHN 3 | 2016 238 MONIKA T. WICKI Medizinische und psychiatrische Versorgung in Wohnheimen FACH B E ITR AG bei Personen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung (Strydom u. a. 2013; Sinai u. a. 2012; Sheehan u. a. 2014). Obwohl die Personen mit lebenslangen Beeinträchtigungen öfter chronische Krankheiten aufweisen als Personen ohne solche Beeinträchtigungen, erhalten sie seltener eine präventive Behandlung (Emerson/ Hatton 2014). So besuchen Frauen mit einer lebenslangen Beeinträchtigung seltener Krebsvorsorgeuntersuchungen (Armour u. a. 2009) als Frauen ohne solche Beeinträchtigungen. Gesundheitsprobleme werden bei Personen mit einer intellektuellen oder schweren mehrfachen Beeinträchtigung oft erst spät oder gar nicht erkannt (Hassiotis/ Turk 2012). Die Ursachen dafür können Schwierigkeiten in der Kommunikation (Tuffrey-Wjine u. a. 2008) und daraus folgend im präzisen Erfassen von Symptomen (McCarron u. a. 2011) sein. Menschen mit länger dauernden oder lebenslangen Beeinträchtigungen benötigen mehr und häufiger die Leistungen des Gesundheitswesens als Menschen ohne solche Beeinträchtigungen, und es stellt sich die Frage, ob die Leistungen im Gesundheitswesen für die betroffenen Personen erreichbar und gut sind. Bislang liegen zu dieser Frage in der Schweiz kaum Daten vor. Bei der Durchführung der Studie „PALCAP - Palliative Care in den Wohnheimen der Behindertenhilfe“ im Rahmen des Nationalen Forschungsprogrammes NFP 67 „Lebensende“ wurden unter anderem spezifische Fragen zur medizinischen und psychiatrischen Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner gestellt. Ziel des Forschungsprojektes PALCAP - Palliative Pflege in den Wohnheimen der Behindertenhilfe war es, die Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Erwachsenen mit Beeinträchtigungen, die in Wohnheimen der Behindertenhilfe leben, an ihrem Lebensende zu untersuchen. Mit einer Befragung bei den Leiterinnen und Leitern der Wohnheime der Behindertenhilfe in der Schweiz wurde untersucht, ob Personen mit Beeinträchtigungen auch dann in den Wohnheimen bleiben können, wenn sie stark pflegebedürftig werden, ob Leitlinien zur Pflege am Lebensende vorliegen und welche Möglichkeiten der Selbstbestimmung Erwachsene mit einer Beeinträchtigung an ihrem Lebensende in den Wohnheimen der Behindertenhilfe in der Schweiz haben. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass nur ein Drittel aller Bewohnerinnen und Bewohner auch dann im Wohnheim bleiben kann, wenn sie über einen längeren Zeitraum pflegebedürftig werden. Das heißt, bei einem hohen Pflegebedarf werden viele Personen mit Behinderung aus den Wohnheimen umziehen müssen. Der Einbezug der Personen mit Beeinträchtigungen bei Entscheidungen am Lebensende ist deutlich tiefer als derjenige der Angehörigen, der Bezugspersonen, Pflegenden, Beistände oder der Ärzte. Die Analysen zeigen auch, dass das durchschnittliche Sterbealter mit gut 57 Jahren im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung sehr tief liegt (Wicki/ Meier 2015). Das durchschnittliche Sterbealter der Gesamtbevölkerung lag in der Schweiz 2011 bei Männern bei 80,4 Jahren und bei Frauen bei 84,6 Jahren (Bundesamt für Statistik 2014). Diesbezüglich eröffnen sich Fragen der medizinischen und psychiatrischen Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner in den Wohnheimen der Behindertenhilfe. 2 Methodisches Vorgehen: Befragung der Wohnheime Im Rahmen des Forschungsprojektes PALCAP wurde erhoben, wie die psychologische, psychiatrische und medizinische Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner in den Wohnheimen geregelt ist und wie zufrieden die Wohnheimleitenden mit dieser Versorgung sind. Im Herbst 2012 wurden 437 Wohnheime mit einem Fragebogen angeschrieben (vgl. auch Wicki/ Meier 2015). In den Wohnheimen wurden die Anzahl Plätze und das Alter der Bewoh- VHN 3 | 2016 239 MONIKA T. WICKI Medizinische und psychiatrische Versorgung in Wohnheimen FACH B E ITR AG nerinnen und Bewohner erhoben. Es wurde gefragt, wie die ärztliche Versorgung im Wohnheim organisiert sei. Dabei wurde unterschieden zwischen Ärztinnen und Ärzten, die nicht durch das Wohnheim angestellt waren, und solchen, die als Heimärztinnen und Heimärzte angestellt waren, sowie zwischen der Möglichkeit, dass die Bewohnerinnen und Bewohner ihren Arzt oder ihre Ärztin frei wählen konnten oder nicht. Dies führte zu sechs unterschiedlichen Organisationsformen, von denen die Leitenden aus verschiedenen Antwortoptionen eine auswählen konnten (vgl. Tab. 1). Anschließend wurde mit einer fünftstufigen Likert-Skala (1 = sehr unzufrieden bis 5 = sehr zufrieden) erfasst, wie zufrieden die Leitenden mit der medizinischen Versorgung waren. In einem zweiten Schritt wurde untersucht, wie viele Bewohnerinnen und Bewohner nach Meinung der Leitenden eine fachpsychiatrische oder psychologische Behandlung benötigten und wie viele eine solche erhielten. Es wurde erfasst, wie die fachpsychiatrische Behandlung organisiert war. Von vier Möglichkeiten konnten die Befragten mehrere ankreuzen und anschließend auf einer fünfstufigen Likert- Skala (1 = sehr unzufrieden bis 5 = sehr zufrieden) angeben, wie zufrieden sie mit der fachpsychiatrischen Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner in verschiedenen Aspekten seien (Umgang mit Bewohnern/ Bewohnerinnen; Medikamentöse Therapie; Einbezug des Personals; diagnostische Klärung; Verfügbarkeit; Hilfe bei Konflikten; nichtmedikamentöse Therapie; Einbezug der Angehörigen; Weiterbildung des Personals). Der dritte Teil beinhaltete Fragen zur Anzahl an Demenz erkrankter Personen (diagnostiziert oder vermutet) sowie zur Organisation der Betreuung von Personen, die an Demenz erkrankt sind. Hier konnten mehrere Antworten ausgewählt werden: Personen mit einer demenziellen Erkrankung werden in ein Pflegeheim verlegt; in der Institution weiterbetreut; oder verschiedene Fachpersonen werden beigezogen. Die Daten wurden mit deskriptiver Statistik (SPSS 21) ausgewertet. Fehlende Daten wurden durch die Mittelwerte ersetzt. 3 Ergebnisse 58 % der Wohnheime (n = 254) haben auf die Befragung reagiert. Zu den Fragen der medizinischen und psychiatrischen Versorgung liegen Antworten von 158 Wohnheimen vor, da in 92 Wohnheimen nur ein Kurzfragebogen und in 4 weiteren Wohnheimen nur die Fragen zu Todesfällen ausgefüllt worden waren. In diesen 158 Wohnheimen werden rund 8350 Personen betreut (von 5 bis 300 Personen). Das Durchschnittsalter der Bewohnerinnen und Bewohner liegt bei 45 Jahren. 3.1 Ärztliche Versorgung und freie Arztwahl Die ärztliche Versorgung ist in den Wohnheimen sehr unterschiedlich organisiert. In mehr als der Hälfte der Wohnheime haben die Bewohnerinnen und Bewohner ihren eigenen Arzt oder ihre eigene Ärztin (57 %). In einem Drittel der Wohnheime wurden einer oder mehrere externe Ärzte oder Ärztinnen bestimmt, die für alle oder für einen Teil der Bewohnerinnen und Bewohner zuständig sind, und in rund 10 % der Wohnheime ist ein durch das Wohnheim angestellter Heimarzt oder eine Heimärztin für alle Bewohnerinnen und Bewohner oder für einen Teil der Bewohnerinnen zuständig (Tab. 1). Die freie Arztwahl ist nur in 57 % der Wohnheime möglich, in allen anderen ist sie zum Teil oder gänzlich eingeschränkt. In 31,7 % der Wohnheime haben die Bewohnerinnen und Bewohner keine freie Arztwahl (n = 50), in 11,4 % der Wohnheime haben sie teilweise eine freie Arztwahl. Das bedeutet, dass für etwa ein Drittel aller Personen mit Beeinträchtigungen, die in den Wohnheimen der Behindertenhilfe leben, keine freie Arztwahl besteht. VHN 3 | 2016 240 MONIKA T. WICKI Medizinische und psychiatrische Versorgung in Wohnheimen FACH B E ITR AG 3.2 Zufriedenheit mit der medizinischen Versorgung Mit der medizinischen Versorgung sind die Wohnheimleitenden im Großen und Ganzen zufrieden. 22,8 % der Wohnheimleitenden (n = 36) antworten, dass sie mit der ärztlichen Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner mit Behinderung sehr zufrieden seien. Zufrieden oder eher zufrieden sind weitere 47,5 % (75 Wohnheime) resp. 22,8 % (36 Wohnheime). Nur 7 % der Leitenden (11 Personen) sagen, dass sie mit der ärztlichen Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner unzufrieden seien. 3.3 Fachpsychiatrische Betreuung Nach Angaben der Wohnheimleitenden benötigen 37,6 % aller Bewohnerinnen und Bewohner eine fachpsychiatrische und 16,4 % eine psychologische Behandlung. Ebenso geben sie an, dass 34,8 % der Bewohnerinnen und Bewohner eine fachpsychiatrische und 11,2 % eine psychologische Behandlung erhalten. Das bedeutet, dass rund 2,6 % der Personen in den Wohnheimen der Behindertenhilfe, die eine fachpsychiatrische Behandlung benötigen, und 4,2 %, die eine psychologische Behandlung benötigen, diese nicht erhalten. Dies betrifftrund zweibis dreihundert Personen. Die fachpsychiatrische Versorgung wird in den Wohnheimen der Behindertenhilfe hauptsächlich extern geleistet. In knapp drei Viertel der Wohnheime (74,1 %, 117 Wohnheime) suchen die Bewohnerinnen und Bewohner eine externe Fachperson auf. In rund der Hälfte dieser Wohnheime (46,8 %, 40 Wohnheime) werden Bewohnerinnen und Bewohner, die eine fachpsychiatrische Behandlung benötigen, auch von externen Fachpersonen im Wohnheim besucht. Der Hausarzt oder die Hausärztin sind in gut 16 % der Wohnheime (26 Wohnhei- Anteil in Prozent Anzahl Wohnheime a) Jeder hat eigenen Arzt/ Ärztin 57 % 90 b) Mehrere Ärzte/ Ärztinnen sind für alle Bewohnerinnen und Bewohner zuständig 8.9 % 14 c) Ein Arzt/ Ärztin ist für alle Bewohnerinnen und Bewohner zuständig, aber nicht durch das Wohnheim angestellt 11.4 % 18 d) Ein Arzt/ Ärztin ist für mehrere Bewohner und Bewohnerinnen zuständig 13.3 % 21 e) Heimarzt/ Heimärztin für alle Bewohnerinnen und Bewohner zuständig 7 % 11 f) Heimarzt/ Heimärztin für einen Teil der Bewohnerinnen und Bewohner zuständig 2.5 % 4 Total 100 % 158 Tab. 1 Organisation der ärztlichen Versorgung in den Wohnheimen (N = 158) Anteil Wohnheime in Prozent Anzahl Wohnheime Sehr unzufrieden Unzufrieden Eher unzufrieden Eher zufrieden Zufrieden Sehr zufrieden 3,8 % 0,0 % 3,2 % 22,8 % 47,5 % 22,8 % 6 0 5 36 75 36 100 % 158 Tab. 2 Zufriedenheit der Leitenden mit der ärztlichen Versorgung (N =158) VHN 3 | 2016 241 MONIKA T. WICKI Medizinische und psychiatrische Versorgung in Wohnheimen FACH B E ITR AG me) für die fachpsychiatrische Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner zuständig. In gut der Hälfte dieser Wohnheime kommen aber auch externe Fachpersonen ins Haus oder die Bewohnerinnen und Bewohner suchen eine externe Fachperson auf. In fünf Wohnheimen (3,2 %) ist die fachpsychiatrische Versorgung nicht organisiert. Auch mit der fachpsychiatrischen Versorgung sind die Wohnheimleitenden im Großen und Ganzen zufrieden. Die größte Zufriedenheit äußern die Leitenden der Wohnheime im Umgang der Fachpersonen mit den Bewohnerinnen und Bewohnern: 126 Personen geben an, sehr zufrieden oder zufrieden damit zu sein. Acht Personen sind sehr oder eher unzufrieden. Am wenigsten zufrieden sind die Leitenden mit der Zusammenarbeit der Fachpersonen mit den Angehörigen sowie der Weiterbildung des Personals. Mit der Zusammenarbeit der Fachpersonen mit den Angehörigen sind 64 Wohnheimleitende sehr zufrieden oder zufrieden, während 24 Wohnheimleitende sehr unzufrieden oder unzufrieden damit sind. Obwohl die Zufriedenheit als nominale Variable abgefragt worden war (5-stufige Likert-Skala), kann ein Vergleich der Mittelwerte Orientierung geben. Die Mittelwerte sind in Tabelle 3 dargestellt. 3.4 Demenzielle Erkrankungen Die Befragten geben an, dass bei rund 2,5 % der Bewohnerinnen und Bewohner eine demenzielle Erkrankung diagnostiziert und bei weiteren rund 4 % eine demenzielle Erkrankung vermutet wurde. In einem Fünftel der Wohnheime werden alle Personen, die an Demenz erkranken, in ein Pflegeheim verlegt (21,6 %). Wenn die Personen aber weiter in der Institution bleiben, werden in den meisten Fällen der Hausarzt oder die Hausärztin (71,6 %), eine Fachperson aus der Psychiatrie (59,5 %), Neurologen (30,2 %) oder spezialisierte Pflegefachpersonen (17,2 %) und Geriater (7,8 %) beigezogen. 4 Diskussion: Lücken in der Gesundheitsversorgung Die Antworten der Leitungspersonen aus den Wohnheimen der Behindertenhilfe zeigen, dass die Leitungspersonen im Großen und Ganzen zufrieden mit der medizinischen und psychiatrischen Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner sind. Die Befragung zeigt aber auch Lücken in der Gesundheitsversorgung, die diskutiert werden müssen. Ein Aspekt ist, dass die Bewohnerinnen und Bewohner in 31,7 % der Wohnheime keine freie Arztwahl haben. Dies betrifft hochgerechnet wohl gut 10.000 Personen in der Schweiz. Die freie Arztwahl ist jedoch ein wichtiger Aspekt einer selbstbestimmten und gleichberechtigten Lebensführung und wird sowohl im Rahmen des Gesetzes über die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (BehiG) als auch in der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Be- Mittelwert SD Umgang mit Bewohner/ Bewohnerinnen 3,96 0,92 Medikamentöse Therapie 3,70 0,90 Einbezug des Personals 3,59 1,19 Diagnostische Klärung 3,56 1,00 Verfügbarkeit 3,48 1,15 Hilfe bei Konflikten 3,47 1,07 Nichtmedikamentöse Therapie 3,45 0,91 Einbezug der Angehörigen 3,33 1,00 Weiterbildung des Personals 3,30 1,00 Tab. 3 Mittelwerte der Zufriedenheit der Leitenden mit den Personen, welche die fachpsychiatrische Versorgung für die Bewohnerinnen und Bewohner erbringen (n =158) VHN 3 | 2016 242 MONIKA T. WICKI Medizinische und psychiatrische Versorgung in Wohnheimen FACH B E ITR AG hinderungen (UN-BRK) als Grundrecht anerkannt. Ein weiterer Aspekt ist die leichte Unterversorgung im Bereich der psychologischen und fachpsychiatrischen Betreuung sowie die tiefe Prävalenz an Personen mit einer diagnostizierten Demenzerkrankung. Beide Resultate weisen auf einen Bedarf nach verbesserter fachpsychiatrischer Diagnostik und Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner der Wohnheime der Behindertenhilfe hin und bestätigen damit die Resultate von Studien aus anderen Ländern (Strydom u. a. 2013; Hassiotis/ Turk 2012). Zu diskutieren gibt auch der Befund bei der Organisation der Betreuung von Personen mit einer Demenzerkrankung. In den meisten Wohnheimen werden sie durch das bestehende Personal im Wohnheim selber betreut. Da eine Demenzerkrankung jedoch spezifische Herausforderungen für das Personal mit sich bringen kann und auch eine spezifische Umgebungsgestaltung hilfreich und therapeutisch wirksam sein kann (Ness u. a. 2012), wäre eine diesbezügliche Weiterbildung des Personals wünschenswert. Von 16 % der Wohnheime müssen die an einer Demenz erkrankten Bewohnerinnen und Bewohner in eine andere, spezialisierte Einrichtung umziehen. Hier stellt sich die Frage, wohin diese Personen gebracht werden und ob die sie aufnehmende Einrichtung auch auf die spezifischen Bedürfnisse dieser Menschen mit Beeinträchtigung ausgerichtet sind. Auch das Fehlen von Instrumenten zur Diagnose einer Demenzerkrankung bei Personen mit einer intellektuellen Behinderung muss diskutiert werden. Die Schwierigkeiten der Erfassung einer demenziellen Erkrankung bei Personen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung sind belegt (Courtenay u. a. 2010; Zeilinger u. a. 2013). Es wurden aber bereits zahlreiche Instrumente getestet und ihre Validität und Reliabilität bestätigt (De Vreese u. a. 2011; Deb u. a. 2007). Seit kurzem steht auch ein evaluiertes Instrument in deutscher Sprache zur Verfügung: Der „NTG-Early Detection Screen for Dementia - Deutsch“ dient dazu, frühe Anzeichen einer möglichen Abnahme kognitiver Fähigkeiten oder einer möglichen Demenz bei Personen mit intellektueller Behinderung zu erkennen. Dieses Instrument ist jedoch in den Wohnheimen noch nicht etabliert. Diskutiert werden müssen auch einige Limitationen dieser Studie. Bei der Befragung im Rahmen des Projektes PALCAP wurden die Wohnheimleitenden angeschrieben. Viele beantworteten den Fragebogen selber, andere gaben den ganzen Fragebogen oder einen Teil davon den Pflegeleitungen oder den Wohngruppenleitungen weiter. Heimleitende sind häufig sozialpädagogisch, betriebswirtschaftlich oder auch juristisch ausgebildete Personen und sind in größeren Wohnheimen weniger stark am Alltagsgeschehen der Bewohnerinnen und Bewohner beteiligt als die Wohngruppenleitungen, Pflegeleitungen oder die Betreuenden selber. Möglicherweise wären die Ergebnisse anders ausgefallen, wenn andere Personenkreise befragt oder Erhebungen vor Ort durchgeführt worden wären. Die Zufriedenheit der Leitenden mit der medizinischen und psychiatrischen Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner ist nur eine Perspektive in einem Feld von vielen unterschiedlich beteiligten Personen. So stellt sich selbstverständlich die Frage, wie die Bewohnerinnen und Bewohner selber, die Angehörigen, die Betreuenden, aber auch die Ärztinnen und Ärzte die Versorgungsqualität beurteilen. Die Befragung der Wohnheime der Behindertenhilfe im Rahmen des Forschungsprojektes PALCAP bezüglich der medizinischen und psychiatrischen Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner ist daher nur ein erster kleiner Schritt hin zu mehr Wissen über die Gesundheitsversorgung von Menschen mit einer lebenslangen oder längeren Beeinträchtigung in VHN 3 | 2016 243 MONIKA T. WICKI Medizinische und psychiatrische Versorgung in Wohnheimen FACH B E ITR AG der Schweiz. Da die Studie PALCAP den Fokus stärker auf die Selbstbestimmung am Lebensende legte, wurde die Gesundheitsversorgung mit nur wenigen Fragen angesprochen mit dem Ziel, einen ersten Einblick zu bekommen. Die systematische Erfassung des medizinischen Bedarfes von Personen mit Beeinträchtigungen, der Versorgungsstrukturen, der Nutzung von Leistungen sowie der Wirksamkeit dieser Leistungen steht noch aus. Es ist notwendig, bei weiteren Forschungen Interviews mit den Betroffenen selber zu führen und diese, wenn notwendig, durch Gespräche mit Bezugspersonen und Angehörigen zu ergänzen. Dabei ist es wichtig, dass Daten erhoben werden, die vergleichbar mit Erhebungen in der allgemeinen Bevölkerung sind. Von Bedeutung ist es auch zu vergleichen, ob die unterschiedlich organisierte medizinische Versorgung Auswirkungen auf die Zufriedenheit und Gesundheit sowie auf die Kosten der medizinischen und psychiatrischen Versorgung der Bewohnerinnen und Bewohner hat. Ebenso wichtig wird es sein, die tatsächliche Prävalenz demenzieller Erkrankungen in den Wohnheimen zu erfassen und für die Wohnheime in der Schweiz „good practice“ im Umgang mit demenziellen Erkrankungen zu beschreiben. Literatur Armour, B. S.; Thierry, J. M.; Wolf, L. A. (2009): Statelevel differences in breast and cervical cancer screening by disability status. United States 2008. In: Womens Health Issues 19, 406 -414. http: / / dx.doi.org/ 10.1016/ j.whi.2009.08.006 Bundesamt für Statistik (2009): Behinderung hat viele Gesichter: Definitionen und Statistiken zum Thema Menschen mit Behinderungen. Neuenburg Bundesamt für Statistik (2014): Bevölkerungsbewegung - Analysen. Zweijährliche abgekürzte Sterbetafeln. Online unter http: / / www.bfs.ad min.ch/ bfs/ portal/ de/ index/ themen/ 01/ 06/ blank/ dos/ la_mortalite_en_suisse/ tabl03.html, 2. 3. 2016 Bundesamt für Statistik (2016): Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen - Individuelles Wohlbefinden. Gesundheit. Online unter http: / / www.bfs.admin.ch/ bfs/ portal/ de/ index/ the men/ 20/ 06/ blank/ key/ 05/ 02.html, 25. 2. 2016 Courtenay, K.; Jokinen, N. S.; Strydom, A. (2010): Caregiving and adults with intellectual disabilities affected by dementia. In: Journal of Policy and Practice in Intellectual Disabilities 7, 26-33. http: / / dx.doi.org/ 10.1111/ j.1741-1130.2010.00 244.x De Vreese, L. P.; Mantesso, U.; Bastiani, E. de; Maranconi, A.; Gomiero, T. (2011): Psychometric evaluation of the Italian version of the AADS questionnaire: a caregiver-rated tool for the assessment of behavioral deficits and excesses in persons with intellectual disabilities and dementia. In: International Psychogeriatrics 23, 1124 -1132. http: / / dx.doi.org/ 10.1017/ S10416 10211000342 De Winter, C. F.; Bastiaanse, L. P.; Hilgenkamp, T. I. M.; Evenhuis, H. M.; Echteld, M. A. (2012): Overweight and obesity in older people with intellectual disability. 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Online unter http: / / www.snf.ch/ SiteCollectionDocuments/ nfp/ nfp45/ NFP45_Widmer_ SB.pdf, 18. 2. 2016 Zeilinger, E. L.; Stiehl, K. A. M.; Weber, G. (2013): A systematic review on assessment instruments for dementia in persons with intellectual disabilities. In: Research in Developmental Disabilities 34, 3962 -3977. http: / / dx.doi.org/ 10.10 16/ j.ridd.2013.08.013 Anschrift der Autorin Dr. Monika T. Wicki Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich (HfH) Schaffhauserstrasse 239 Postfach 5850 CH-8050 Zürich T +41 (0) 44 3 17 12 34 monika.wicki@hfh.ch