Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2016.art42d
101
2016
854
Trend: Empirisch forschen! - Aber wertgeleitet!
101
2016
Urs Haeberlin
Die wissenschaftliche Qualität empirischer Forschung wird in der Regel nach Kriterien wie Objektivität, Wertfreiheit, Generalisierbarkeit und transparentes und wiederholbares methodisches Vorgehen beurteilt. Dazu im Widerspruch stehen Erwartungen, welche oft von Sonderpädagogen und -pädagoginnen in der Schulpraxis und von Bildungspolitikern und -politikerinnen an wissenschaftliche Forschung gerichtet sind. Sie erwarten, dass durch Forschung die Unterrichtspraxis verbessert werden kann und dass bildungspolitische Entscheidungen ermöglicht werden. Damit sind wir in der Wissenschafts-Praxis-Zwickmühle.
5_085_2016_4_0007
342 VHN, 85. Jg., S. 342 -345 (2016) DOI 10.2378/ vhn2016.art42d © Ernst Reinhardt Verlag Empirisch forschen! - Aber wertgeleitet! Urs Haeberlin Zürich TRE ND Die wissenschaftliche Qualität empirischer Forschung wird in der Regel nach Kriterien wie Objektivität, Wertfreiheit, Generalisierbarkeit und transparentes und wiederholbares methodisches Vorgehen beurteilt. Dazu im Widerspruch stehen Erwartungen, welche oft von Sonderpädagogen und -pädagoginnen in der Schulpraxis und von Bildungspolitikern und -politikerinnen an wissenschaftliche Forschung gerichtet sind. Sie erwarten, dass durch Forschung die Unterrichtspraxis verbessert werden kann und dass bildungspolitische Entscheidungen ermöglicht werden. Damit sind wir in der Wissenschafts-Praxis-Zwickmühle. Empirisch forschende Wissenschaftler sind verpflichtet, Theorien zu heil-/ sonderpädagogischen Fragestellungen nicht den Status von gefühlsmäßigen Meinungen zu geben, sondern sie der rationalen Argumentation zugänglich zu machen. Ihre Theorien müssen differenziert ausgearbeitete Annahmen über gesetzmäßige Zusammenhänge in Bildungssituationen und -prozessen (Hypothesen) sein. Die als zusammenhängend behaupteten Merkmale müssen mithilfe geeigneter Instrumente beobachtbar gemacht werden (Operationalisierung). Bei der empirischen Prüfung der Hypothesen muss offengelegt sein, welche Methoden in welcher Weise angewendet worden sind. Sie muss von anderen Forschern wiederholt werden können. Mit „Objektivität“ ist nicht gemeint, dass Forschung ein Abbild der letzten Wahrheit sei und dass sie Anleitungen für die „richtige“ Praxis finden könne. Es geht lediglich um die Offenlegung der methodischen Regeln, mit welchen geforscht wird; d. h. es geht um intersubjektive Überprüfbarkeit des forschungsmethodischen Vorgehens. Und das Postulat der „Wertfreiheit“ bezieht sich ausschließlich darauf, dass die Richtigkeit von wertenden Aussagen (Soll-Aussagen, Aussagen über Gut und Böse usw.) nicht empirisch überprüft werden kann. Wissenschaftlich sinnvolle empirische Forschung muss außerdem nach Verallgemeinerungen von Beobachtungen an Einzelfällen streben. Damit besteht ein Widerspruch zu einer humanen heil-/ sonderpädagogischen Praxis, in welcher die Einmaligkeit eines Kindes und eines Jugendlichen berücksichtigt werden muss. Das skizzierte Wissenschaftskonzept entspricht dem von Popper begründeten Kritischen Rationalismus. Forschung im Sinne von Popper läuft in folgenden Schritten ab: 1) Formulieren einer allgemeinen Hypothese (allgemeine Behauptung eines Zusammenhangs); 2) Operationalisierung der Begriffe in der Hypothese (Festlegung von beobachtbaren Indikatoren für die abstrakten Begriffe); 3) Systematischer Versuchsplan zur logisch einwandfreien Widerlegung der Hypothese; 4) Entscheidung über die Beibehaltung der Hypothese (nach wahrscheinlichkeitstheoretischen Kriterien); 5) theoriebezogene Interpretation und eventuell Umformulierung und Differenzierung der allgemeinen Hypothese. Der Kritische Rationalismus hat überzeugend gezeigt, dass qualitativ gute empirische Forschung der rationalen Kritik durch die Wissenschaftlergemeinschaft zugänglich und intersubjektive Nachvollziehbarkeit des forschungsmethodischen Vorgehens gewährleistet ist. Aus einer Werte einbeziehenden Sicht ist es jedoch nicht befriedigend, dass ethische, VHN 4 | 2016 343 URS HAEBERLIN Empirisch forschen! - Aber wertgeleitet! TRE ND ideologiekritische und gesellschaftskritische Auseinandersetzungen mit Forschungsfragen und Forschungsergebnissen nicht verpflichtend einbezogen sind. Als Zukunftstrend wünsche ich mir eine Ausweitung des Kritischen Rationalismus zur wertgeleiteten Forschung. Wenn meine Suche nach wertgeleiteter Wissenschaft fälschlicherweise auf Gegnerschaft gegen die „empirisch-analytische Tradition“ reduziert wird (Stein/ Müller 2015, 14), ist dies für mich ein Zeichen für oberflächliche Rezeption meiner bisherigen Aussagen hierzu (z. B. Haeberlin 2005, 226 - 234). Es geht um nichts anderes als zum einen um die Klärung des Widerspruchs zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und praktischem Handeln und zum anderen des Widerspruchs zwischen Wertfreiheit von Wissenschaft und Werteverankerung von Praxis und Politik. Aber es geht nicht um eine Ablehnung von empirisch-analytischer Forschung. Das Verhältnis zwischen Erkenntnis und Handeln sehe ich als Kontinuum zwischen zwei idealtypischen Polen (vgl. Haeberlin u. a. 1990, 161 - 165). Wissenschaftsanspruch und Handlungsrelevanz von Forschungsprojekten variieren in Abhängigkeit von ihrer Position auf dem Kontinuum. Je weiter sich ein Forschungsprojekt vom idealtypischen Pol wissenschaftlicher Erkenntnis in Richtung des Pols praktischen Handelns entfernt, umso weiter entfernt sich die Forschung vom kritisch-rationalen Wissenschaftsideal der Generalisierbarkeit von Hypothesen und umso stärker wird der Druck zum unmittelbaren Handeln. Je weiter sich umgekehrt ein Forschungsprojekt vom Pol praktischen Handelns entfernt und dem Pol wissenschaftlicher Erkenntnis nähert, umso eher wird Distanznahme zwecks objektivierender Forschung und Generalisierbarkeit ermöglicht. Das gelegentlich vorfindbare Wissenschaftsverständnis, welches das Postulat der Einmaligkeit jeder pädagogischen Situation verabsolutiert und empirische Forschung mit standardisierten Erhebungsinstrumenten ablehnt, ist vom Abdriften ins Ideologische bedroht. Ebenso verhält es sich mit einem verengten Wissenschaftsverständnis, welches nur Forschung nach dem Muster des kontrollierten Experiments zulässt. Ihm droht die ideologisierte Meinung, Menschen könnten und dürften nur prognostizierbare und manipulierbare Objekte sein. Vor dem Abdriften ins Ideologische schützen breit angelegte Forschungsprogramme, deren Teilprojekte unterschiedliche Positionen auf dem Kontinuum abdecken. Die Spannbreite der Teilprojekte reicht von solchen mit optimalem Generalisierungsanspruch bis zu solchen, die bei Verzicht auf Generalisierungsmöglichkeiten singuläre Situationen dokumentieren und interpretieren. Beispielsweise wird neben einem Projekt zum empirischen Vergleich der Schulleistungen von ähnlich schwachen Kindern in Sonderklassen und in integrativen Regelklassen ein Integrationsprojekt in einem Schulhaus praktisch durchgeführt; die dabei gemachten Erfahrungen werden von den Lehrpersonen in einer Dokumentation festgehalten, die notwendigerweise weit weg von Vorstellungen kritisch-rationaler Objektivität und Generalisierbarkeit bleibt (vgl. Freiburger Projektgruppe 1993). Es bleibt die Frage, wie Wertfreiheit der Wissenschaft und Wertgebundenheit der Praxis in empirischen Forschungen sinnvoll miteinander verbunden werden können und sollen. Dafür ist eine Erweiterung der vom Kritischen Rationalismus vorgegebenen Forschungsschritte notwendig. Forschung hat hierzu die folgenden Schritte zu durchlaufen: 1) Thematik, Problematik; 2) forschungs- und interpretationsleitende Wertentscheidungen, Soll-Vorstellungen, richtungsweisende Visionen; 3) theoretischer Rahmen zur Interpretation von Ist-Zuständen; 4) Entscheid über den Grad der anzustrebenden Verallgemeinerung und Objektivierung; 5) Hypothesen über Zusammenhänge im Ist- Zustand; 6) Operationalisierung der Begriffe; 7) Versuchsplan zur Widerlegung der Hypothese; 8) Entscheidung über deren Beibehaltung; 9) Einordnung der Ergebnisse in die Theorien VHN 4 | 2016 344 URS HAEBERLIN Empirisch forschen! - Aber wertgeleitet! TRE ND zum Ist-Zustand; 10) Beurteilung der Ergebnisse mittels Bezug auf die Soll-Vorstellungen; 11) Ideologiekritik am Forschungsprozess und an den Schlussfolgerungen; 12) Entscheidungen über praktisches und politisches Handeln. Ich konkretisiere einiges anhand des am Heilpädagogischen Institut der Universität Freiburg (Schweiz) während rund 25 Jahren laufenden INTSEP-Forschungsprogramms. Schritt 2 enthält die Aufforderung zur Transparenz der Soll- Vorstellungen, auf welchen Fragestellung und Verwendung der Ergebnisse basieren. Fragestellungen und Hypothesen sind von Werten und Vorlieben der Forschenden mitgeprägt. Oft spielen Modewellen und politische Überzeugungen eine Rolle. Die Soll-Vorstellung einer integrativen Schule hatten wir bei Beginn des INTSEP-Programms so formuliert: „In dieser werden Kinder unterschiedlichster Leistungsfähigkeit als gleichwertige Partner in das Beziehungsnetz der schulischen Bezugsgruppe (Klasse) aufgenommen; es gibt keine Geringschätzung wegen unterdurchschnittlicher Schulleistungsfähigkeit. Diese Schule wäre getragen vom Wunsch nach der Utopie des Dialogischen, welche durch folgende Merkmale charakterisiert ist: Annahme jedes Schülers als Partner, Vertrauen in das Potential des Partners, Echtheit.“ (Haeberlin u. a. 1990, 151f ) Schritt 11 verlangt das Reflektieren darüber, ob und welche Ideologien allenfalls mit unseren Forschungsergebnissen und Schlussfolgerungen unbemerkt gestützt oder gar erzeugt werden könnten. Obschon wir unsere Soll-Vorstellung deutlich auf alle Dimensionen einer integrationsfähigeren Schule bezogen haben wollten - beispielsweise auch auf das emotionale und das soziale Integriertsein -, sind unsere Ergebnisse bei der politischen und schulorganisatorischen Umsetzung fast immer auf die Dimension der Schulleistungen und damit auf die meritokratische Selektion nach Leistungen reduziert worden. Das ist Anzeichen für eine Pervertierung unserer Vision und fördert bei Kindern, Eltern und Lehrpersonen die einseitige Wertschätzung von Noten. Unsere ursprünglich mehrdimensionale Vision wird auf die Dimension der Chancengleichheit und des damit verbundenen meritokratischen Ziels von Schulunterricht reduziert. Dies schließlich erkennend fordern wir eine neue Phase der Integrationsforschung, „die sich von der Verkürzung auf Chancengerechtigkeit löst und sich auf Fragen nach dem sich gegenseitig wertschätzenden Zusammenleben in einer Gemeinschaft von schulisch und beruflich gar nicht bis sehr Erfolgreichen konzentriert. (…) Wir haben damit signalisiert, dass man sich in Zukunft auf neue, möglicherweise dem bildungspolitischen Zeitgeist zuwiderlaufende Forschungsfragen einlassen muss.“ (Eckhart u. a. 2011, 114) Mit der Einnahme einer ideologiekritischen Haltung auch gegenüber uns selbst konnten wir uns bewusst werden, dass die meiste Integrationsforschung - auch unsere eigene - eigentlich Forschung zur Chancenungerechtigkeit ist. Darauf kann keine integrationsfähige Schule wachsen. Solche Forschung vermag wegen Schulschwäche im sozialen Umgang gemiedene und in der Folge schulunglückliche Kinder und Jugendliche nicht zu verhindern. Wir driften mit der Vermischung von Integration mit Chancengleichheit sogar weiter in die Unkultur der Leistungsstarken ab, statt einen Beitrag zum inklusiven Zusammenleben zu leisten. Erst ideologie- und selbstkritische Reflexion ermöglichte uns die Einsicht, dass sich Integrationsforschung in Zukunft nicht auf die „Integrationsfähigkeit“ eines behinderten oder leistungsschwachen Individuums richten soll, sondern darauf, ob und wie die engere und weitere Umwelt Akzeptanz für diese Menschen entwickelt. Literatur Eckhart, M.; Haeberlin, U.; Sahli Lozano, C.; Blanc, P. (2011): Langzeitwirkungen der schulischen Integration. Bern: Haupt Freiburger Projektgruppe (1993): Heilpädagogische Begleitung in Kindergarten und Regelschule. Bern: Haupt VHN 4 | 2016 345 URS HAEBERLIN Empirisch forschen! - Aber wertgeleitet! TRE ND Haeberlin, U. (2005): Grundlagen der Heilpädagogik. Einführung in eine wertgeleitete erziehungswissenschaftliche Disziplin. Bern: Haupt Haeberlin, U.; Bless, G.; Moser, U.; Klaghofer, R. (1990, 4. Aufl. 2003): Die Integration von Lernbehinderten. Bern: Haupt Stein, R.; Müller, T. (2015): Wissenschaftstheorie für Sonderpädagogen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt Anschrift des Autors Prof. em. Dr. Urs Haeberlin Regensbergstr. 162 CH-8050 Zürich urs.haeberlin@unifr.ch
