eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 85/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2016.art44d
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2016
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Die ausführliche Rezension: Stein, Roland / Müller, Thomas (2015): Wissenschaftstheorie für Sonderpädagogen. Ein Arbeitsbuch zu Theorien und Methoden Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

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2016
Urs Haeberlin
Stein, Roland; Müller, Thomas (2015): Wissenschaftstheorie für Sonderpädagogen. Ein Arbeitsbuch zu Theorien und Methoden Bad Heilbrunn: Klinkhardt. 174 S., € 17,99
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VHN 4 | 2016 360 REZE NSION E N Die ausführliche Rezension Stein, Roland; Müller, Thomas (2015): Wissenschaftstheorie für Sonderpädagogen. Ein Arbeitsbuch zu Theorien und Methoden Bad Heilbrunn: Klinkhardt. 174 S., € 17,99 Wenn man dieses Buch zur Hand nimmt, drängt sich einem die Frage auf, worin das Besondere einer Wissenschaftstheorie speziell für Sonderpädagogen bestehen könnte? Im Vorwort schreiben die Autoren: „Das vorliegende Buch ist aus einer Vorlesungsreihe heraus entstanden, die seit dem Jahr 2011 jährlich am Institut für Sonderpädagogik der Universität Würzburg für alle Studiengänge angeboten wird.“ (9) Dem wird beigefügt, dass es darum gehe, „Wissenschaftstheorie für Sonderpädagogen aufzubereiten, verständlich zu machen und auf ihre Handlungskontexte zu beziehen“ (9). Ich frage mich, ob denn Studierende der Sonderpädagogik eine derart geringere Auffassungsgabe haben als Studierende anderer pädagogischer Studienrichtungen oder verwandter Fächer wie Psychologie oder Soziologie, dass sie auf eine speziell nur für sie aufbereitete Einführung angewiesen sind. Da sie wie alle anderen Studierenden ein Abitur bestanden haben, dürfte eigentlich ihre Auffassungsgabe nicht geringer sein als jene von Studierenden verwandter Studienrichtungen. Und weil alle erziehungswissenschaftlichen und anderen sozialwissenschaftlichen Fachrichtungen die gleichen wissenschaftstheoretischen Grundlagen und Problemstellungen haben, kann eigentlich das Spezielle eines Arbeitsbuches ausschließlich für Sonderpädagogen (gemäß Anmerkung Seite 10 sind auch Sonderpädagoginnen gemeint) nur durch detaillierte und ausführlich konkretisierte Bezüge zu genuin sonderpädagogischen Themen und Fragestellungen legitimiert sein. Bei einer Beurteilung des Buches ist somit die Frage von Bedeutung, wie reichhaltig die Konkretisierungen wissenschaftstheoretischer Grundfragen an genuin sonderpädagogischen Themen und Fragestellungen sind. In je einem Kapitel werden verschiedene wissenschaftstheoretische Positionen dargestellt: Geisteswissenschaftliche Pädagogik, empirische Erziehungswissenschaft, Kritische Theorie und Kritische Erziehungswissenschaft, Systemische Erziehungswissenschaft sowie Konstruktivistische Pädagogik. Ein explizites Kapitel zur sehr wichtigen wissenschaftstheoretischen Position des Kritischen Rationalismus gibt es aus unerfindlichen Gründen nicht. Mein Versuch, im Sachverzeichnis herauszufinden, in welchem Kapitel Karl R. Poppers wichtige Position des Kritischen Rationalismus untergebracht ist, war rasch zum Scheitern verurteilt. Zu vermuten wäre es am ehesten im Kapitel „Empirische Erziehungswissenschaft“ oder im Kapitel „Konstruktivistische Pädagogik“. Es offenbarten sich die ersten großen Mängel dieses Buches mit Lehrbuchanspruch: Es enthält kein Sachverzeichnis, welches üblicherweise die Möglichkeit bietet, sich einfach und rasch über die Einordnung von bestimmten Themen und Begriffen zu orientieren. Ebenso fehlt das Personenverzeichnis, welches es üblicherweise ermöglicht, rasch herauszufinden, an welchen Stellen und in welchen Zusammenhängen für die Thematik wichtige Autoren abgehandelt und eingeordnet sind. Bereits bei der Lektüre des Kapitels zur Wissenschaftsposition „Geisteswissenschaftliche Pädagogik“ fallen mir zwei Kritikpunkte auf: Zum einen werden zwar wichtige Begründer und Vertreter wie Dilthey und Nohl sowie Wolfgang Klafki genannt. Die Literaturangabe ist in der üblichen Weise mit Nachnamen und Jahr gemacht (z. B. Nohl 1933, Dilthey 1961, Klafki 1971). Aber beim Nachschlagen im Literaturverzeichnis irritiert das Fehlen der Angaben zu dieser wichtigen Quellenliteratur. Zwar wird bei der Literaturangabe im Text erwähnt, aus welcher Sekundärliteratur der jeweilige Hinweis oder das Zitat aus der eigentlichen Quelle entnommen ist, beispielsweise „(Dilthey 1961, zit. n. Krüger 2006, 181)“. Wenn ein Nutzer des Lehrbuchs beispielsweise wissen möchte, um welches Buch es sich bei „Dilthey 1961“ handelt, dann müsste er sich zuerst die „Einführung in Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft“ von Heinz- Hermann Krüger besorgen, um sich dort die Literaturangabe heraussuchen zu können. Auf dieses Muster des Umgangs mit der originären Quellenliteratur stößt man beinahe in allen weiteren VHN 4 | 2016 361 REZE NSION E N Kapiteln. Besonders krass ist ein Beispiel im Abschnitt „Ergänzung Phänomenologie“, ebenfalls innerhalb des Kapitels „Geisteswissenschaftliche Pädagogik“. Auf Seite 72 ist ein Zitat von Max Scheler abgedruckt und mit folgendem Literaturverweis versehen: „(Scheler, zit. n. Kunzmann u. a. 1994, 197)“; erstens fehlt die Jahreszahl zur Kennzeichnung des wörtlich wiedergegebenen Textes von Scheler, und zweitens findet man auch die Literaturangabe „Kunzmann u. a. 1994“ nicht im Literaturverzeichnis. Ebenso ergeht es dem Leser, der sich auf Seite 69 über die einschlägige Literatur von Franz Brentano informieren möchte: weder findet sich Brentano im Literaturverzeichnis noch hilft der Verweis auf „Kunzmann u. a. 1994, 193“ weiter, weil auch diese Angabe, wie erwähnt, im Literaturverzeichnis fehlt. Dass sich schon bei kurzer Lektüre solche gravierenden Verstösse gegen Grundregeln des wissenschaftlichen Arbeitens finden lassen, ist kein gutes Zeichen für die Beurteilung eines Lehrbuchs, das Studierende in wissenschaftliches Denken und Arbeiten einführen will! Bei der weiteren Lektüre des Buches ist verständlicherweise mein Misstrauen bezüglich der wissenschaftlichen Genauigkeit angemessen gewachsen. Und tatsächlich bin ich immer wieder auf Ähnliches wie das eben Kritisierte gestoßen. Was hilft es dem Orientierung suchenden Studierenden, wenn er im Kapitel „Kritische Theorie und Kritische Erziehungswissenschaft“ den folgenden Abschnitt liest: „Weiterentwicklungen der Kritischen Theorie im Rahmen der Erziehungswissenschaft waren vor allem die folgenden (Krüger 2006, 72ff.): Kommunikative Pädagogik von Schäfer und Schaller unter engem Bezug auf die Kommunikationstheorie von Watzlawick; Interaktionistische Pädagogik von Mollenhauer, Brumlik, Habermas sowie Krappmann ergänzt durch den ‚labeling approach‘; das Konzept der Entwicklungspädagogik (v. a. Aufenanger), insbesondere unter Bezug auf die Stufenmodelle von Piaget und Kohlberg; die evolutionstheoretisch orientierte Erziehungswissenschaft (v. a. Lenhart) (wobei Evolution hier als gesellschaftliche gedacht wird) - sowie die handlungstheoretisch orientierte Erziehungswissenschaft (Krüger & Lersch; König).“ (110) Alle kursiv gedruckten Namen findet man nicht im Literaturverzeichnis. Es darf doch nicht zu einem Lehrbuch gehören, dass den Studierenden Namen und Begriffe vorgesetzt werden, zu welchen ihnen nicht wenigstens im Literaturverzeichnis ein Zugang zu den Quellen gewiesen wird! Mir scheint, dass die Studierenden mit solchen Texten nicht das Sich-Vertiefen in einen Problembereich lernen, sondern dass sie damit an das heute grassierende Geschwätz über Halb- und Nicht-Verstandenes und an das damit verbundene Imponiergehabe gewöhnt werden. Die Autoren sehen möglicherweise diese Gefahr, wenn sie im Vorwort - allerdings unter Benützung des Konjunktivs - schreiben: „Es sei darauf hingewiesen, dass der Versuch, die Komplexität von Wissenschaftstheorie verständlich zu machen, immer wieder auch zu Vereinfachungen führt, die eine tiefer gehende Auseinandersetzung und Lektüre spannend machen könnten. Hierzu wird häufig zunächst mit weiterführenden Einführungsquellen gearbeitet, die interessierte Leser zur Vertiefung heranziehen könnten; in einem dritten Schritt könnte die Auseinandersetzung mit Originalliteratur stattfinden.“ (9) Angewendet auf das kritisierte Beispiel würde dies bedeuten: Wenn die Studierenden den Absatz mit den vielen Namen aus der Wissenschaftsgeschichte spannend finden sollten, dann wäre es wünschenswert, dass sie sich zunächst Heinz- Hermann Krügers „Einführung in Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft“ besorgen, die genaueren Ausführungen zu dem studieren, was mir als „Geschwätz“ erschienen ist, dann in Krügers Literaturverzeichnis nachschauen und sich die Literatur von Schäfer und Schaller, Brumlik, Aufenanger, Lenhart, Krüger & Lersch sowie König besorgen, womit dann endlich „die Auseinandersetzung mit Originalliteratur“ stattfinden könnte. Die Meinung, dass sich Studierende der Sonderpädagogik dermaßen bemühen wollen könnten, wirkt angesichts der seit einiger Zeit realisierten Bologna-Studienbedingungen ärgerniserregend. Wer allenfalls zur Vereinfachung versuchen sollte, den Schritt über Krügers Einführung zu überspringen, indem er beispielsweise das Stichwort „Lenhart“ in Google eingibt, wird echt staunen, was da alles von „Lenhart Immobilien“ bis „Lenhart Kosmetik“ herauskommt. Wenn im Lehrbuch wenigstens die Vornamen zusätzlich zum Nachnamen stünden, wäre man schon bedeutend näher an einem plausiblen Treffer - möglicherweise beim emeritierten Heidelberger Professor Volker Lenhart. Aber welche Publikationen von Volker Lenhart könnte dann ein so extrem interessierter Studierender als re- VHN 4 | 2016 362 REZE NSION E N levant für die „evolutionstheoretisch orientierte Erziehungswissenschaft“ erkennen? Man muss sich ernsthaft fragen, ob ihm die Autoren des Lehrbuches weiterhelfen könnten, wenn er sie fragen würde. Was ich an einem Beispiel etwas ausführlicher dargestellt habe, ist kein Einzelfall, man findet immer wieder das gleiche Strickmuster: Die Studierenden werden unter Bezugnahme auf ein anderes Lehrbuch mit Namen konfrontiert, über welche sie im Verlaufe ihres bisherigen Sonderpädagogik-Studium wahrscheinlich kaum Genaueres gehört haben. Aber sie lernen, dass man mit unverdautem Geschwätz ohne wirkliche Kenntnis der Hintergründe heute erfolgreich ein akademisches Studium durchlaufen kann, ja vielleicht sogar muss. Einige weitere Beispiele: Die Studierenden lesen die Sätze: „Pädagogische Theorie geht immer neu aus pädagogischer Praxis hervor und wird als reflexive Instanz verstanden, die auf die Praxis aufklärend zurückwirkt. Hier erfolgt ein enger Rückbezug auf Schleiermacher: in der Erziehung sei die Praxis älter als die Theorie, insofern gebe es einen Primat der Praxis.“ (55) Auch in diesem Fall scheint es sich um eine - möglicherweise abgekürzte - Paraphrasierung eines Textes aus der „Einführung in Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft“ von Heinz-Hermann Krüger (2006) zu handeln. Aber welcher Sonderpädagogik-Studierende und Nutzer des Lehrbuches hat eine Ahnung, wer Schleiermacher ist und wann er gelebt hat? Nicht einmal mit den Vornamen Friedrich Daniel Ernst wird ihm der Name zugespielt, um damit Hochstapelei mit Schein-Gebildet-Sein zu spielen. An einer anderen Stelle werden als „prägende Vertreter in der Gründungsphase“ der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik den Studierenden ohne weitere Angaben die Namen „Herman Nohl, Theodor Litt und Eduard Spranger, später Wilhelm Flitner und Erich Weniger“ ins Spielfeld geworfen. Was soll das, wenn die meisten Nutzer des Lehrbuchs wahrscheinlich kaum einen blassen Schimmer von diesen Personen haben und auch keine einzige von ihren einschlägigen Publikationen im Literaturverzeichnis finden? Zudem wissen Kenner der Materie, dass Theodor Litt eine andere Denkweise als die übrigen genannten Geisteswissenschaftler hatte und viel eher als Dialektiker verstanden werden muss. Dasselbe gilt übrigens auch für Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Entsprechendes ist auch in den folgenden Kapiteln zu finden. Im Kapitel „Empirische Erziehungswissenschaft“ liest man beispielsweise: „Aloys Fischer begründete eine Deskriptive Pädagogik des Phänomens Erziehung - ein Ansatz, der von Rudolf Lochner weitergeführt wurde.“ (83) Wieder fehlen im Literaturverzeichnis die einschlägigen Publikationen dieser Autoren. Wahrscheinlich ist die ganze Passage auch diesmal paraphrasierend dem Einführungsbuch von Krüger entnommen. Ich muss es aus Platzgründen bei diesen Beispielen belassen. Die Beispiele können andeuten, wie das Buch großenteils gestrickt zu sein scheint: Viele Abschnitte sind von den Autoren aus wenigen Einführungsbüchern aus dem Bereich der Allgemeinen Erziehungswissenschaft meist abgekürzt paraphrasierend übernommen worden. Neben der bereits genannten Einführung von Krüger sind dies insbesondere die Einführung „Wissenschaftstheorie für Pädagogen“ von Friedrich W. Kron (1999), „Wissenschaftstheorie. Eine Einführung für Pädagogen“ von Herbert Tschamler (1996, 3. Aufl.) sowie das Philosophielexikon von Anton Hügli und Paul Lübcke (1997). Erstaunlich ist, dass die meines Erachtens bisher besten Einführungen in die Wissenschaftstheorie für Pädagogen, nämlich jene von Eckard König und Peter Zedler, nicht benützt worden sind; insbesondere meine ich damit „Theorie der Erziehungswissenschaft. Bd. 1: Wissenschaftstheoretische Richtungen der Pädagogik“ von König (1975), „Einführung in die Wissenschaftstheorie“ von König und Zedler (1983) und „Theorien der Erziehungswissenschaft. Einführung in Grundlagen, Methoden und praktische Konsequenzen“ von König und Zedler (1998, auch als UTB-Band in 3. Auflage 2007). Meines Erachtens müsste zumindest begründet werden, warum gerade diese maßgeblichen Einführungen in wissenschaftstheoretisches Denken in der Pädagogik ausgeklammert worden sind und nicht einmal im Literaturverzeichnis erscheinen. Kennen vielleicht die Autoren des Lehrbuchs für Sonderpädagogen ausgerechnet diese grundlegenden Werke nicht? Schließlich ist natürlich die Frage zu stellen, ob es den Autoren letztlich trotz der angedeuteten Mängel gelungen ist, eine Einführung in die Wissenschaftstheorie zu schreiben, die den Anspruch erfüllt, spezifisch sonderpädagogisch zu VHN 4 | 2016 363 REZE NSION E N sein? Der Anspruch wird im Vorwort in dem Sinne präzisiert, dass es darum gehe, „Wissenschaftstheorie für Sonderpädagogen aufzubereiten, verständlich zu machen und auf ihre Handlungskontexte zu beziehen“ (9). Eigentlich geht es insbesondere um die Frage, ob der Bezug zu „sonderpädagogischen Handlungskontexten“ so überzeugend gelungen ist, dass die Publikation dieser „Wissenschaftstheorie für Sonderpädagogen“ auch mit den unverkennbaren Anleihen bei Einführungsbüchern aus der Allgemeinen Erziehungswissenschaft als sinnvoll erscheinen muss und damit legitimiert ist. Die Textstellen mit diesem Bezug sind drucktechnisch grau eingefärbt gekennzeichnet, was sicher eine grafische Hilfe für den Rezensenten ist. Die eingefärbten Stellen beziehen sich durchgehend auf ein Beispiel, das im ersten Kapitel skizziert wird: „Das Kultusministerium eines Landes beschließt im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der UN- Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung einen Schulversuch zu starten. In einer Regelschule werden mit dem neuen Schuljahr zwei erste Klassen beginnen: Die eine Klasse besteht nur aus Kindern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf und wird von einer Lehrerin unterrichtet. Die andere Klasse besteht aus Kindern ohne sonderpädagogischen Förderbedarf und einer Reihe von Kindern mit ganz unterschiedlichen Förderbedarfen, beispielsweise in den Bereichen der geistigen und körperlichen, der emotionalen und sozialen, aber auch der sprachlichen Entwicklung und im Hinblick auf das Lernen als solches. Diese Klasse wird von einer Regelschullehrerin und einer Sonderpädagogin gemeinsam unterrichtet. Das Kollegium der Schule ist sich nicht sicher, was es von diesem Versuch halten soll. Gemeinsam mit dem Kultusministerium kommt man überein, diesen Schulversuch durch eine Universität begleiten zu lassen.“ (11) Beim Durchgehen des Buches findet man ungefähr 50 graugefärbte Textstellen mit der jeweiligen Länge von zwei bis maximal sechzehn Zeilen. Sie beziehen sich stets auf Fragen der Begleitung dieses Schulversuchs. Nun ist allerdings gerade die wissenschaftliche Begleitung von Schulversuchen ein Forschungsproblem für die gesamte Erziehungswissenschaft bzw. Bildungsforschung und nicht exklusiv für die Sonderpädagogik. Außerdem ist das Beispiel mit der schwierigen Problematik von bildungspolitisch motivierter Auftragsforschung belastet. Bei der Darstellung der Position der „Kritischen Theorie und Kritischen Erziehungswissenschaft“ wird zwar die Gefahr der Einflussnahme von Auftraggebern zwecks Erläuterung der Anliegen von Vertretern der Kritischen Theorie kurz thematisiert. Aber das zwanzigseitige Kapitel „Empirische Forschungsmethoden“ umfasst dann fast drei Viertel aller fünfzig graugefärbten Stellen; in diesen bleiben die Gefahren und Stolpersteine bei der Übernahme von empirischen Forschungsaufträgen unerwähnt. Schulbegleitung erscheint dem unerfahrenen Nutzer als Tummelfeld für alles Mögliche an Forschungen. Und die Herausarbeitung der typisch sonderpädagogischen Perspektive ist für mein Empfinden kaum gelungen. Schließlich mündet das Fazit zum Buch in eine Beschreibung der angeblichen Besonderheit von Sonderpädagogik, die jedoch für die ganze übrige Pädagogik auch gilt. Es wird nämlich als Besonderheit der Sonderpädagogik dargestellt, dass „sie sich als Wissenschaft mit vielen Bezugswissenschaften - wie der Philosophie und der Psychologie, der Medizin und dem Rechtswesen, der Soziologie und der Anthropologie, der Theologie und der Ethik - stets auch mit sehr unterschiedlichen Grundannahmen, Perspektiven und wissenschaftlichen Interessen konfrontiert“ (167) sehe. Das kann man mit genau gleichem Recht auch für die übrigen Teilbereiche der Erziehungswissenschaft sagen. Offen bleibt aber eine Antwort auf die Frage, was denn neben den vielfältigen Bezügen zu anderen Wissenschaftsdisziplinen die Eigenständigkeit der Wissenschaft „Sonderpädagogik“ nach Meinung der Autoren ausmacht, obschon sie durch den gesamten Text hindurch von der Eigenständigkeitsthese auszugehen scheinen. So bleiben die Autoren dem Leser letztlich eine Antwort darauf schuldig, was denn den Anspruch der Sonderpädagogik legitimieren kann, eine eigenständige Wissenschaftsdisziplin zu sein. Somit komme ich zum Schluss, dass der Anspruch, eine „Wissenschaftstheorie für Sonderpädagogen“ als Lehrbuch zu publizieren, nicht erfüllt worden ist. Auch der Ausweg, im Untertitel das Buch nicht „Lehrbuch“ sondern „Arbeitsbuch zu Theorien und Methoden“ zu nennen, ändert an meiner Schlussfolgerung wenig. Allenfalls ist vorstellbar, dass Dozenten oder Dozentinnen das Buch in einem kritischen Seminar zur Wissenschaftstheorie als Ausgangstext benüt- VHN 4 | 2016 364 REZE NSION E N zen möchten. Sie sollten aber selbst einen umfassenden und kritischen Überblick über wissenschaftstheoretische Positionen haben. Allerdings würde sich für ein solches Seminar genauso oder gar besser die kritische Lektüre von Einführungsbüchern aus der Allgemeinen Erziehungswissenschaft anbieten. Für das Selbststudium von wissenschaftstheoretisch Unerfahrenen eignet sich das Buch meines Erachtens nicht. Letztlich stellt sich die Frage, ob und unter welchen Bedingungen es sinnvoll sein könnte, aus einer Vorlesung für die spezifischen Bedürfnisse eines Institutslehrplans ein Buch für eine breite Leserschaft außerhalb des Instituts zu machen. Prof. em. Dr. Urs Haeberlin CH-8050 Zürich DOI 10.2378/ vhn2016.art44d