Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2017
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Das provokative Essay: Das Lebensgefühl in der Sprachheilpädagogik in unterschiedlichen Epochen
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Manfred Grohnfeldt
In den letzten Jahrzehnten haben sich die Umweltbedingungen und Erfahrungen der Menschen fundamental gewandelt, sodass man geradezu von bestimmten Bevölkerungskohorten mit einem ähnlichen Lebensgefühl sprechen kann: die 68er-Generation, Baby-Boomer, Generation x und jetzt Generation y. Gleichzeitig hat auch die Sprachheilpädagogik voneinander abgrenzbare Entwicklungsphasen in den letzten 60 Jahren durchlaufen. Dabei lassen sich Verflechtungen mit dem Lebensgefühl der genannten Generationen aufzeigen, die die heutige Situation besser verstehbar machen. Des Weiteren bestehen klare Verbindungen in der Entwicklung der Sprachheilpädagogik und der dgs. Es wird deutlich, wie eng der Verband indirekt mit epochalen Veränderungen in der Generationenabfolge verwoben ist. Dabei werden Hintergründe heutiger Probleme und Aufgabenstellungen in ihrer strukturellen Bedingtheit erkennbar, die aus einer jahrelangen Umbruchsituation resultieren. Die Analyse wird zum Anlass genommen, offene Fragen zur Weiterentwicklung zu stellen und Ansätze zur Veränderung aufzuzeigen.
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1 VHN, 86. Jg., S. 1 -12 (2017) DOI 10.2378/ vhn2017.art01d © Ernst Reinhardt Verlag Das Lebensgefühl in der Sprachheilpädagogik in unterschiedlichen Epochen Manfred Grohnfeldt München Zusammenfassung: In den letzten Jahrzehnten haben sich die Umweltbedingungen und Erfahrungen der Menschen fundamental gewandelt, sodass man geradezu von bestimmten Bevölkerungskohorten mit einem ähnlichen Lebensgefühl sprechen kann: die 68er-Generation, Baby-Boomer, Generation x und jetzt Generation y. Gleichzeitig hat auch die Sprachheilpädagogik voneinander abgrenzbare Entwicklungsphasen in den letzten 60 Jahren durchlaufen. Dabei lassen sich Verflechtungen mit dem Lebensgefühl der genannten Generationen aufzeigen, die die heutige Situation besser verstehbar machen. Des Weiteren bestehen klare Verbindungen in der Entwicklung der Sprachheilpädagogik und der dgs. Es wird deutlich, wie eng der Verband indirekt mit epochalen Veränderungen in der Generationenabfolge verwoben ist. Dabei werden Hintergründe heutiger Probleme und Aufgabenstellungen in ihrer strukturellen Bedingtheit erkennbar, die aus einer jahrelangen Umbruchsituation resultieren. Die Analyse wird zum Anlass genommen, offene Fragen zur Weiterentwicklung zu stellen und Ansätze zur Veränderung aufzuzeigen. Schlüsselbegriffe: Sprachheilpädagogik, Lebensgefühl, Mitgliederentwicklung der dgs The Attitude to Life in the Speech and Language Therapy in Different Eras Summary: Environmental conditions and experiences of people have fundamentally changed in the last decades. Therefore, we could speak of population groups with similar attitudes to life: the 68-generation, the baby-boomer, generation x and generation y. At the same time, the speech and language therapy has undergone a development in the last 60 years. Interrelations with the attitude to life of the generations mentioned can be shown, which make understandable the today’s situation. Furthermore, there are clear links between the development of speech and language therapy and the “Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik” (dgs). Indirectly, the dgs is closely bond up with some epochal changes in the succession of generations. Different backgrounds of current problems and tasks become identifiable in their structural conditionality, resulting from a long-standing upheaval. The analysis asks some questions about the further development and presents approaches for a change. Keywords: Speech and language therapy, attitude to life, development of the members of dgs DAS PROVOK ATIVE ESSAY 1 Einleitung Wenn man alte Filme aus den 1960er Jahren sieht (z. B. von Edgar Wallace 1964 „Der Hexer“), dann denkt man sich: „Was war das für eine Zeit! “ Sie ist mit der heutigen absolut nicht vergleichbar. Es war die Zeit des Aufbruchs nach der Latenz der Nachkriegszeit in der Gesellschaft des Wirtschaftswunders ebenso wie in der Sprachheilpädagogik - übrigens auch in der damaligen „Arbeitsgemeinschaft für Sprachheilpädagogik“ (AfS), der heutigen „Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e.V.“ (dgs). VHN 1 | 2017 2 MANFRED GROHNFELDT Das Lebensgefühl in der Sprachheilpädagogik DAS PROVOK ATIVE ESSAY Damals stabilisierte sich die schulische Sprachheilpädagogik. Heute ist alles anders - in der Gesellschaft, in der Sprachheilpädagogik, in der dgs. Man fragt sich: „Wie ist das gekommen? Was hat einen prägenden Einfluss gehabt? “ Natürlich hat sich das gesellschaftliche Umfeld gewandelt, wobei solch subjektive Komponenten wie das „Lebensgefühl“ für das, was man für richtig und „normal“ hält, eine entscheidende Rolle spielt. Im Folgenden soll n zunächst ein kurzer Abriss zu unterschiedlichen Generationen der letzten 60 Jahre gegeben werden, die sich durch ein vergleichsweise kohärentes Lebensgefühl auszeichnen, wobei sich n parallele Entwicklungsprozesse in der Sprachheilpädagogik aufzeigen lassen, die unumkehrbar und letztlich Geschichte sind, auf denen aber das heutige Sprachheilwesen basiert und die zum Verständnis aktueller Entscheidungen von Bedeutung sind. Und n schließlich zeigen sich dabei phasenspezifische Verläufe auch in der dgs, sei es in den jeweils behandelten Themen wie auch in der Mitgliederentwicklung. Eine Reise durch die Zeit kann erhellend für heutige Fragen, zuweilen geradezu überraschend sein. Sie hält uns den Spiegel der Veränderung vor Augen. Und sie kann auch Hinweise geben, die Probleme der heutigen Zeit besser verstehen und lösen zu können. 2 Das Lebensgefühl in unterschiedlichen Generationen Die Einteilung in Generationen ist ein Konstrukt, das notwendigerweise verallgemeinert und für den Einzelfall nicht zutreffen muss. Und dennoch hilft es uns für das Verständnis unterschiedlicher Bevölkerungskohorten, die in einer bestimmten Epoche leben und den Einfluss von spezifischen Umweltbedingungen, Einstellungen und Erfahrungen teilen. Sie weisen „kollektive Gemeinsamkeiten“ (Hurrelmann/ Albrecht 2014, 15) auf, wobei neben den Geburtsjahrgängen auch die Zeit der Pubertät und Adoleszenz von Bedeutung ist. „Die Jugend ist ein Seismograph für gesellschaftliche Entwicklungen.“ (ebd., 13) Die in der Literatur genannten Zahlen variieren und sind zudem kulturell unterschiedlich. So wird die Zeit der Baby-Boomer in den USA rund fünf Jahre früher angegeben als in Deutschland, das durch die Entbehrungen der Nachkriegszeit gekennzeichnet war. Im Folgenden werden Mittelwerte genannt, die nicht absolut zu sehen sind, sondern der Orientierung dienen. 1968er-Generation und Baby-Boomer Die Studentenbewegung um 1968, die sich gegen die Nichtaufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, die starre Struktur der Universitäten („Unter den Talaren - Muff von 1000 Jahren“) und u. a. den Vietnamkrieg wendete, hat in der Bundesrepublik Deutschland einer ganzen Generation ihren Namen gegeben. Es handelte sich um die in der Nachkriegszeit Geborenen, die nach frühen Entbehrungen die Zeit des „Wirtschaftswunders“ in ihrer Jugend erlebten und sich dann politisch engagierten. Fließende Übergänge gibt es zur Generation der Baby-Boomer mit den Geburtsjahrgängen von 1955 bis 1970, als in Deutschland die Geburtenzahl mit den deutlich besser werdenden Lebensbedingungen erheblich anstieg und erst mit dem „Pillenknick“ ein jähes Ende fand, wobei wohl weniger die Pille als Verhütungsmittel, sondern vor allem eine veränderte Lebenseinstellung das Ende der geburtenstarken Jahrgänge bewirkte. Es war die Generation des VHN 1 | 2017 3 MANFRED GROHNFELDT Das Lebensgefühl in der Sprachheilpädagogik DAS PROVOK ATIVE ESSAY Aufstiegs, die in ihrer Jugendphase Jahr für Jahr ein deutlich höheres Bruttosozialprodukt erlebte. Der Ölpreisschock mit den autofreien Sonntagen im Jahr 1973 vermittelte eine Ahnung davon, dass es nicht immer so weitergehen konnte. Aber ansonsten ging es bergauf. - Die Nachkriegsgeneration geht jetzt in Rente oder in den Ruhestand. Der Wandel wird offenkundig. Generation x Bekannt geworden ist der Name durch den 1991 erschienenen Roman „Generation x“ von Douglas Coupland: Er empfand die Generation als so rätselhaft, dass er das x als treffendstes Merkmal dafür wählte. Es handelt sich um die geburtenschwachen Jahrgänge von 1970 bis 1985 mit ihren Jugendphasen von 1985 bis 2000. Ihre Mitglieder werden als deutlich weniger aufstiegsorientiert beschrieben, leben aber zumeist in ökonomischer Sicherheit. Gleichzeitig wissen sie als Generation der (zukünftigen) Erben, dass das, was die Eltern geschaffen haben, in den meisten Fällen ohne Erbschaft kaum erreichbar ist. Die soziale Ungleichheit wird vertieft und bietet Sprengstoff für die nachfolgenden Generationen. Es handelt sich um eine Kohorte mit relativ hohem Bildungsniveau und ausgeprägtem Konsumverhalten, das bis zum Leben in der Überflussgesellschaft reicht. Damit einher geht häufig eine zunehmende Interesselosigkeit für politische Fragen und ein „Rückzug ins Private“ (Hurrelmann/ Albrecht 2014, 23). Ihren Höhepunkt findet diese Entwicklung in der Endphase der „alten“ Bundesrepublik und der Deutschen Einheit im Jahr 1990. Kritisch anzumerken ist, dass diese gängigen Beschreibungen sich auf das westliche System beziehen. Mit Sicherheit ist davon auszugehen, dass die Menschen in der BRD bis 1990 ganz andere Erfahrungen gemacht haben als die Menschen in der DDR. Ebenso muss beachtet werden, dass durch zunehmende Migration kulturelle Überlagerungen und Subgruppen entstanden sind. Diese Entwicklung hat sich in den letzten 20 Jahren deutlich verstärkt und gewinnt durch die aktuelle Flüchtlingssituation noch einmal an Bedeutung. Generation y Die Namensgebung dieser Generation begründet sich darin, dass y nach x kommt, aber auch durch den Umstand, dass y im Englischen „Why“ („Warum“) ausgesprochen wird. Es handelt sich um die Gruppe der heutigen Studierenden und Absolvent/ innen zunehmend akademischer Berufe der Geburtsjahrgänge 1985 bis 2000. Ihre Jugenderfahrungen sind durch das Internet, Facebook und Globalisierung geprägt. Sie leben in mehr Wohlstand, Information und Mobilität, aber auch in einer „Generation mit einer goldenen Jugend, deren unmittelbare Zukunftsperspektiven aber alles andere als glänzend sind“ (Haaf 2011, 14). Sie sind gut ausgebildet und arbeiten in Teams statt in Hierarchien, womit ein Wertewandel einhergeht, bei dem Sinnsuche und Freude an der Arbeit höher eingeschätzt werden als Status und Prestige. „Glück schlägt Geld“ (Bund 2014) ist das gängige Schlagwort dieser Generation. Der Umgang mit einer wachsenden Ungleichheit und ein Leben in Unsicherheit führen zu einer „Multioptionsgesellschaft“ (Gross 2005). Die Generationenabfolge scheint sich dabei immer schneller zu drehen. Das Internet verändert unser aller Leben. Was ist aber, wenn eine Generation nur mit dem Internet aufgewachsen ist und nichts anderes kennt? Schon wird von der Generation z der Geburtsjahrgänge ab 2000 gesprochen, die bereits im Kindesalter durch den selbstverständlichen Gebrauch von Smartphones und Tablet-PCs sozialisiert wurde. „Was der Einzelne für die kommunikative Normalität hält, hängt (also) VHN 1 | 2017 4 MANFRED GROHNFELDT Das Lebensgefühl in der Sprachheilpädagogik DAS PROVOK ATIVE ESSAY davon ab, ob er 14 oder 34 war, als das iPhone auf den Markt kam.“ (Haaf 2011, 23) Der Unterschied zwischen „Digital Natives“ und „Digital Immigrants“ wird eher größer. Gleichzeitig steigt die Erkenntnis der „kollektiven Perspektivlosigkeit“ in einem „postoptimistischen Zeitalter“ (ebd., 166): „Die fetten Jahre sind vorbei“ und „die mageren Zeiten haben längst angefangen“ (ebd., 93). Diese Einschätzung einer Angehörigen der Generation y sollte uns zu denken geben. Natürlich ist sie überspitzt formuliert, aber letztlich wohl realistisch und nicht nur auf die wirtschaftliche Situation bezogen. Deutlich wird, wie groß die Unterschiede an Erfahrungen und Einstellungen in den verschiedenen Generationen sind. Die Auswirkungen für unsere Zukunft werden erheblich sein. Zu fragen ist, was dies alles für die Sprachheilpädagogik bedeutet. 3 Zusammenhänge von Lebensgefühl und Selbstverständnis der Sprachheilpädagogik Zweifelsohne lassen sich auch in der Nachkriegszeit für die Sprachheilpädagogik ganz unterschiedliche Entwicklungsphasen aufzeigen (Grohnfeldt 2012). Es ist nun interessant zu sehen, inwieweit Verflechtungen mit dem Lebensgefühl der genannten Generationen bestehen, um die heutige Situation nicht nur besser verstehen zu können, sondern auch Ansätze zur Veränderung abzuleiten. Aufbruch und Blütezeit der Sprachheilschule In der Nachkriegszeit war die Neugründung der „Arbeitsgemeinschaft für Sprachheilpädagogik“ im Jahr 1953 von Hamburger Sprachheillehrern nach ihrer Auflösung zur Zeit des Nationalsozialismus von wesentlicher Bedeutung. Ein entscheidender Initiator war der Rektor der Sprachheilschule an der Karolinenstraße, Johannes Wulff (s. Abb. 1), der bei der Entwicklung von Sprachheilschulen in Deutschland eine erhebliche Rolle spielte (Grohnfeldt 2015). Seine Art des Vorgehens in der damaligen „Sprachkrankenschule“ war geradezu prägend. Damals war die Therapie das „zentrale Anliegen“ (Dohse 1963, 72) dieser Schulform. Die weitere Entwicklung wurde durch zwei Weichenstellungen entscheidend beeinflusst: den Aufruf zur „Eigenständigkeit der Sprachheilpädagogik“ (Orthmann 1969) und die Empfehlungen zur Ordnung des Sonderschulwesens vom 16. März 1972. Durch die Proklamation von Eigenständigkeit und Emanzipation von der Medizin hatte sich die Sprachheilpädagogik als sonderpädagogische Sparte ausgewie- Abb. 1 Johannes Wulff bei der Therapie im weißen Kittel in der Sprachkrankenschule (Grohnfeldt 2002, 27) VHN 1 | 2017 5 MANFRED GROHNFELDT Das Lebensgefühl in der Sprachheilpädagogik DAS PROVOK ATIVE ESSAY sen. Von daher partizipierte sie am Ausbau an Sonderschulen nach 1972. Dieser Ausbau führte dazu, dass innerhalb von ca. 15 Jahren, von 1975 bis 1990, ein System an Sprachheilschulen entstand, deren Anzahl sich in einigen Bundesländern verzehnbis verzwanzigfachte! Kein Zweifel - es war eine Blütezeit der Sprachheilschulen mit einer Aufbruchstimmung, die heute kaum noch vorstellbar ist. Initiiert wurde diese Entwicklung zunächst von der Vorkriegsgeneration, die die ihr bekannten Sprachheilschulen erneut aufbaute und etablierte. Wesentlich für den Ausbau waren jedoch die 1968er-Generation und die frühen Baby-Boomer, die sich mit Akribie und Fleiß der Verbindung von Unterricht und Therapie in der Sprachheilschule als indirekte Legitimation dieser Schulform mit einem hohen Maß an Identifikation widmete. Der Aufstieg wurde in der Gesellschaft und in der Sprachheilpädagogik gleichermaßen als das „Normale“ angesehen. Erste Zweifel kamen erst Ende der 1980er Jahre. Konfusion und Umbruch Eigentlich war die Phase des Aufbruchs für die Sprachheilpädagogik bereits 1990 zu Ende. Sie erhielt durch die Deutsche Einheit (und die neuen Landesgruppen aus den neuen Bundesländern) aber neue Initiativen. Doch die Zeit hatte sich gewandelt. Genauso wenig wie der wirtschaftliche Aufschwung konnte der Ausbau an Sprachheilschulen immer weiter gehen (Grohnfeldt 1987). Von der gesellschaftlichen Einstellung her standen Fragen der Integration und behinderungsübergreifenden Förderschulen im Vordergrund, bei denen Kinder mit den Förderschwerpunkten Lernen, Verhalten und Sprache zusammen beschult wurden. Die KMK- Empfehlungen vom 6. Mai 1994 waren Ausdruck dieser Entwicklung, wobei eigenständige Sonderschulformen (z. B. Sprachheilschulen) erst an dritter Stelle genannt wurden. Während bisher die Umsetzung in den einzelnen Bundesländern weitgehend einheitlich erfolgte, so kam es jetzt zu total unterschiedlichen Entwicklungen. Diese Diversifikation führte dazu, dass z. B. in Bremen die beiden Sprachheilschulen ohne nennenswerten Ersatz geschlossen, in Bayern fast alle Sprachheilschulen in behinderungsübergreifende Förderschulen umgewandelt wurden und in Baden-Württemberg das System der 42 Sprachheilschulen praktisch erhalten blieb. Generell kam es aber zu einem gravierenden Einbruch an Sprachheilschulen, deren Anzahl sich innerhalb von 20 Jahren halbierte (s. Abb. 2). Zu beachten ist dabei, dass sich parallel zu dieser Entwicklung die neue Fachdisziplin der akademischen Sprachtherapeuten entwickelte und die Anzahl der Logopädinnen sich vervielfachte. Politische Grundsatzentscheidungen und die Entwicklung therapeutischer Berufsgruppen im außerschulischen Bereich kumulierten und führten zur derzeitigen Situation des Sprachheilwesens in Deutschland. Getragen wurde diese Entwicklung durch die späten Baby-Boomer und die Angehörigen der Generation x. Die Aufbruchsstimmung war lange vorbei, stattdessen herrschte Umbruch - in 250 200 150 100 50 0 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 2020 Abb. 2 Anzahl der Sprachheilschulen in Deutschland zwischen 1960 und 2010 (Grohnfeldt 2012, 32) VHN 1 | 2017 6 MANFRED GROHNFELDT Das Lebensgefühl in der Sprachheilpädagogik DAS PROVOK ATIVE ESSAY der Gesellschaft wie in der Sprachheilpädagogik. Die Identifikation und das Gemeinschaftsgefühl nahmen ab, wobei z. T. heftige Abwehrkämpfe zum Erhalt der Sprachheilschule geführt wurden. Insgesamt herrschte aber eine Stimmung der Konfusion, deren lange Dauer geradezu als Veränderung „ohne Ende“ im Sinne einer Abwärtsspirale empfunden wurde, wobei man sich mit dieser Situation zunehmend arrangierte und unabhängig von der Schulform in der Praxis gute Arbeit leistete. Letztlich blieb man dabei im Vergleich zur vorhergehenden Generation in der Sprachheilpädagogik eher unpolitisch. Heute weiß man, dass dies die Vorboten noch sehr viel weiter reichender Veränderungen waren. Inklusion als Zerreißprobe? Die genannten Veränderungen im institutionellen Bereich und im Selbstverständnis der Sprachheilpädagogik dürften sich in den nächsten Jahren vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention, der Deutschland am 26. März 2009 beigetreten ist, sowie des KMK-Beschlusses „Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen in Schulen“ vom 20. 10. 2011 noch einmal gravierend verstärken. Praktisch alle Bundesländer haben sich dem Inklusionsgedanken angeschlossen, wobei die Umsetzung total unterschiedlich ist und die aktuelle Diversifikation weiter vertiefen dürfte. Die bestehenden sonderpädagogischen Einrichtungen stehen auf dem Prüfstand. Wie gehen wir damit um? Vielleicht sollte man genauer fragen, wie die Generation x und vor allem die Generation y damit umgehen werden. Die Baby-Boomer sind zwar die heutigen Entscheidungsträger in Schule und Gesellschaft. Ihr allmählicher Rückzug aus dem Beruf ist aber absehbar. Für die nachfolgenden Bevölkerungskohorten wurde konstatiert, dass Fragen der Identität immer weniger Bedeutung haben und sich vor allem die Generation y pragmatisch eine Vielzahl an Optionen offenhält. Die verschiedenartigen Lebenserfahrungen in den Generationen der Baby-Boomer und vor allem der Generation y zeigen sich auch in ganz unterschiedlichen Auffassungen zu Fragen der Gesellschaft, wahrscheinlich auch im Hinblick auf die Sprachheilpädagogik. Dabei ist es eher unwahrscheinlich, dass sich die jüngere Generation in einer alternden Arbeitswelt wie bisher in ihren Werten der alten Generation anpassen wird (Rump/ Eilers 2012). Ihr Veränderungspotenzial als „heimliche Revolutionäre“ (Hurrelmann/ Albrecht 2014) dürfte erheblich sein. Kommt jetzt aus den unterschiedlichsten Gründen die Phase des Zerfalls traditioneller Organisationsformen? Oder wird alles nur „anders“, ohne dass man es wertend als „schlechter“ bezeichnen sollte? Worauf kann man Einfluss nehmen? Für die Einschätzung der zukünftigen Entwicklung zeigen sich damit eher mehr Fragen als Antworten. Es wäre interessant, diese in einer empirischen Erhebung zu untersuchen. Im Hinblick auf die Bedeutung der dgs als Verein für die Entstehung, den Aufbau und Fortgang der Sprachheilpädagogik sind die Zusammenhänge dagegen offensichtlich. 4 Bedingungshintergründe und Auswirkungen auf die dgs Wer sich mit den geschichtlichen Hintergründen der Sprachheilpädagogik beschäftigt, der erkennt sehr schnell, wie eng verbandsmäßige Einflüsse und die Weiterentwicklung des Faches miteinander verwoben sind. Dabei sind die Zusammenhänge zirkulär: eins hängt vom anderen ab, wobei sich Ursache und Wirkung nicht genau trennen lassen. Natürlich waren es zunächst einmal Entscheidungen innerhalb des Verbandes, die geradezu prägend für das Fach wurden. Sie waren aber vom jewei- VHN 1 | 2017 7 MANFRED GROHNFELDT Das Lebensgefühl in der Sprachheilpädagogik DAS PROVOK ATIVE ESSAY ligen bildungspolitischen Umfeld abhängig und ohne dieses nicht denkbar. Und heute erkennt man, wie sich gesellschaftliche Entwicklungen ganz allgemeiner Art auf die dgs auswirken - und sei es in der Mitgliederentwicklung als ein Merkmal einer generellen Veränderung. Der bisherigen Dreiteilung entsprechend soll im Weiteren eine phasenspezifische Entwicklung aufgezeigt werden. Die Zeit bis 1990 Am 7. Juni 1927 wurde die „Arbeitsgemeinschaft für Sprachheilpädagogik“ in Hamburg gegründet. Sie löste sich am 6. Juni 1933 auf Beschluss des Vorstandes auf und trat in den „Nationalsozialistischen Lehrerbund“ (N.S.L.B.), Fachschaft V (Sonderschulen) ein, wurde schließlich am 4. März 1953 erneut in Hamburg gegründet und auf der Tagung „Die Eigenständigkeit der Sprachheilpädagogik“ in München anlässlich der Delegiertenversammlung am 9. Oktober 1968 in „Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e.V.“ (dgs) umbenannt (Bestätigung durch das Amtsgericht Hamburg am 12. Februar 1969). Details dazu finden sich bei Grohnfeldt (2002). In der Zeit von 1953 bis 1965 wurden zunächst Landesgruppen in den einzelnen Bundesländern gegründet, um eine stabile Organisationsstruktur für die weitere Entwicklung zu haben. Die Mitglieder hatten ein erhebliches „Wir- Gefühl“, das sich u. a. in der Teilnahme an Tagungen zeigte. Bei der Tagung des Verbandes 1955 in Hamburg waren von 250 Mitgliedern 200 (entsprechend 80 %) anwesend. Zum Vergleich: bei der dgs-Tagung im Jahr 2000 in Berlin mit der höchsten Zahl an Teilnehmern (knapp 1700) kamen ca. 26 % der Mitglieder. Heute können wir uns über eine Teilnahme von 15 - 18 % an zahlenden Mitgliedern freuen. Damals war der Beitritt in den Verband geradezu eine Ehre und Aufnahme in eine Gemeinschaft, die sich stark untereinander verbunden fühlte. Ebenso waren die politischen Initiativen des Verbandes erheblich und überaus erfolgreich. So hatte der Verbandsvorsitzende Johannes Wiechmann (Vorsitz von 1968 bis 1976) durch seine Tätigkeit als Mitglied der Kultusministerkonferenz entscheidenden Anteil am Ausbau der Sprachheilschulen in Deutschland. Ich selbst trat nach meinem zweijährigen Aufbaustudium in Hamburg als Sonderschullehrer 1974 in die dgs ein, nachdem ich an die Schule zurückgekommen war, der ich vorher als Grund-, Haupt- und Realschullehrer angehört hatte. Die Aufnahme war geradezu eine selbstverständliche Weiterentwicklung meiner Laufbahn. Man gehörte dazu. Damals handelte es sich um einen Aufstiegsberuf, der zu 70 % von Männern ausgeübt wurde. Heute sind deutlich über 90 % der Studierenden der Sprachheilpädagogik Frauen, die später zu fast 60 % in Teilzeit tätig sind und den Beruf auch überwiegend mit dieser Motivation gewählt haben (Grohnfeldt 2014). Es hat sich Entscheidendes geändert, die heutigen Bedingungen und Motivationen sind mit denen der damaligen Zeit absolut nicht mehr vergleichbar. Zählt man die deutsche Einheit und die Zeit bis Mitte der 1990er-Jahre dazu, dann erkennt man, welch grandiosen Aufstieg in den Mitgliederzahlen die dgs in dieser Zeit erlebte (s. Tabelle 1). Es war die Gründerzeit, die durch die neuen Landesgruppen noch einmal verlängert wurde. Quantitäten sind beileibe nicht alles, sie sagen uns aber etwas über die wechselvolle Geschichte der dgs. Zudem ist es interessant, die Entwicklung in den einzelnen Landesgruppen nachzuverfolgen, da sich hier ganz unterschiedliche Auf- und Abstiegsphasen ausmachen lassen, die einer Einzelanalyse bedürfen. VHN 1 | 2017 8 MANFRED GROHNFELDT Das Lebensgefühl in der Sprachheilpädagogik DAS PROVOK ATIVE ESSAY Die Zeit von 1990 bis 2010 Nachdem 1990 eigentlich ein Höhepunkt auch im Verband erreicht war, kam es durch die deutsche Einheit zu einer erheblichen Weiterentwicklung, indem aufgrund wesentlicher Initiativen des damaligen Verbandsvorsitzenden Kurt Bielfeld (Vorsitz 1987 bis 2006) die Landesgruppen der neuen Bundesländer gegründet wurden. Dies bewirkte noch einmal einen deutlichen Aufschwung, der auch fachwissenschaftlich durch die Einsetzung eines Wissenschaftlichen Beirates (Prof. Dr. Manfred Grohnfeldt, Prof. Dr. Gerhard Homburg, Prof. Dr. Jürgen Teumer) begleitet wurde. Diese positive Entwicklung fand ihren Ausdruck in einer steigenden Mitgliederzahl, die ihren Höhepunkt im Jahr 2001 mit 6451 Mitgliedern erreichte. Eine genauere Analyse zeigt jedoch, dass bereits in den letzten Jahren davor quasi unter der Oberfläche eine erhebliche Veränderung stattgefunden hatte, da nämlich 1539 Therapeuten der 1993 gegründeten „Arbeitsgemeinschaft der freiberuflichen und angestellten Sprachheilpädagogen“ (AGFAS) in der genannten Zahl enthalten waren. Erste Anzeichen einer damals noch kaum gesehenen (oder verdrängten? ), später aber ganz eindeutigen Schwerpunktverlagerung in den therapeutischen Bereich waren erkennbar, wobei frühzeitig ein „Sprengstoff für die Zukunft“ (Grohnfeldt 2008, 194) aufgrund der Mitgliederentwicklung von dgs, dbs (akademischen Sprachtherapeuten) und dbl (Logopäden) und der sich verändernden Versorgungsdichte der Berufsgruppen in den einzelnen Bundesländern in Deutschland signalisiert wurde. Heute ist eine seit 15 Jahren kontinuierliche Abnahme der Mitgliederzahlen der dgs auf derzeit ca. 4500 Mitglieder zu konstatieren (s. Tabelle 2), wobei sich die Angaben jeweils auf 1972 1986 1991 1996 % Baden-Württemberg Bayern Berlin Brandenburg Bremen Hamburg Hessen Mecklenburg-Vorpommern Niedersachsen Rheinland Rheinland-Pfalz Saarland Sachsen Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Thüringen Westfalen-Lippe 63 74 73 - 29 101 101 - 165 91 35 51 - - 88 - 49 213 420 176 - 100 250 ca. 250 - 846 330 174 115 - - 192 - 169 277 695 370 148 98 298 341 128 900 635 189 118 220 154 243 161 175 351 710 346 119 ca. 100 294 378 108 924 997 199 124 200 133 233 147 479 +457.1 +859.5 +374.0 -19.6* +244.8 +191.1 +274.3 -15.6* +460.0 +995.6 +468.6 +143.1 -9.1* -13.6* +164.8 -8.7* +877.6 Total 920 3235 5150 5842 +535.0 Tab. 1 Mitgliederzahlen der dgs, 1972 -1996 (entnommen aus Grohnfeldt 2002) * Entwicklung von 1991 bis 1996 VHN 1 | 2017 9 MANFRED GROHNFELDT Das Lebensgefühl in der Sprachheilpädagogik DAS PROVOK ATIVE ESSAY den Januar des Jahres beziehen, um einen objektiven Vergleich zu ermöglichen. Die höchsten Zahlen sind jeweils im September, die niedrigsten Ende des Jahres nach der bei Verbänden normalen Austrittswelle. Dabei bestehen zwischen den einzelnen Landesgruppen erhebliche Unterschiede, die eine individuelle Betrachtung der einzelnen Variablen notwendig machen (z. B. die lange Zeit fehlende Ausbildungsmöglichkeit in Thüringen). Auffällig ist, dass als einzige Landesgruppe Baden-Württemberg leicht steigende Mitgliederzahlen aufweist - das Bundesland mit den verbleibenden Sprachheilschulen. Es muss festgestellt werden, dass sich der Abstieg übergreifend zu beschleunigen scheint. Von 2001 bis 2008 sank die Mitgliederzahl von 6451 auf 5586 (entsprechend 13.4 %), von 2008 bis 2015 von 5586 auf 4534 Mitglieder (entsprechend 18.8 %). Man fragt sich: „Wann ist das Tal erreicht? “ Die Gründe sind vielschichtig. Letztlich handelt es sich um ein Ursachenbündel sich kumulativ überlagernder Faktoren. Zunächst einmal ist es ein gesamtgesellschaftliches Phänomen, dass Mitgliederzahlen in den unterschiedlichsten Institutionen und Verbänden sinken: die Kirchen und Gewerkschaften klagen darüber seit Jahren, was zu umfangreichen öffentlichen Diskussionen geführt hat. Andere alteingesessene Verbände wie z. B. der Verband Sonderpädagogik e.V. (vds) haben ähnliche Rückgänge. Interessant ist, dass auch bei „jungen“, aufstrebenden Verbänden ein gewisser Höhepunkt (mit einer Plateaubildung? ) erreicht zu sein scheint. Dazu gehören der dbs mit aktuell ca. 3200 Mitgliedern (2001: 1539 Mitglieder) und der dbl mit ca. 12’000 Mitgliedern (2001: 7835 Mitglieder) vor der Gründung des neuen Verbandes Logo Deutschland. Die Mitgliederzahlen verändern sich nach einem stürmischen 2001 2008 2015 % Baden-Württemberg Bayern Berlin Brandenburg Bremen Hamburg Hessen Mecklenburg-Vorpommern Niedersachsen Rheinland Rheinland-Pfalz Saarland Sachsen Sachsen-Anhalt Schleswig-Holstein Thüringen Westfalen-Lippe 432 791 327 90 107 314 430 105 901 1338 219 117 184 122 239 74 655 457 748 241 73 82 287 420 134 745 1030 172 80 162 79 199 40 625 471 638 156 33 50 199 393 94 613 825 127 90 167 66 157 15 440 +9.0 -19.3 -52.3 -63.3 -53.3 -36.6 -8.6 -10.5 -32.0 -38.3 -42.0 -23.1 -9.2 -46.0 -34.3 -79.7 -32.8 Total 6451 5586 4534 -29.7 Tab. 2 Mitgliederzahlen der dgs, 2001 -2015 (Die Zahlen für 2001 und 2008 sind aus den Rechenschaftsberichten der einzelnen Landesgruppen sowie den Zahlen zur Delegiertenkonferenz entnommen, die Zahlen für das Jahr 2015 stammen von der Referentin für besondere Aufgaben des Geschäftsführenden Vorstandes der dgs.) VHN 1 | 2017 10 MANFRED GROHNFELDT Das Lebensgefühl in der Sprachheilpädagogik DAS PROVOK ATIVE ESSAY Aufschwung kaum noch, müssten aber aufgrund der Absolventenzahlen der Hochschulen eigentlich stärker steigen. Möglicherweise hat dies etwas mit der nachlassenden Identität zu tun, wobei die zur Generation y genannten Merkmale zusätzlich interessante Hintergründe aufzeigen können. Auch hier ist zu fragen: „Wie gehen wir damit um? “ Die rückläufigen Mitgliederzahlen sind ein Symptom einer vielschichtigen Entwicklung und nicht ihre Ursache. Damit ist offensichtlich, dass eine Intensivierung der Werbung zwar nicht falsch ist, aber als alleinige Maßnahme aufgrund der strukturellen Hintergründe im Sinne eines „mehr desselben“ zu kurz greift. Zudem zeigt die erhebliche Diversifikation je nach Landesgruppe, dass regionale Faktoren eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Für die dgs stellt sich die anspruchsvolle Aufgabe, vor dem Hintergrund sinkender Mitgliederzahlen ihre Positionierung zu überdenken und verantwortungsbewusste Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Die Zeit ab 2010 Die heutigen Aufgaben und Probleme sind das Resultat von grundlegenden Entscheidungen im gesellschaftlichen Kontext der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Hält man sich die Mitgliederentwicklung von 1960 bis 2015 vor Augen (s. Abb. 3), so ergibt sich eine frappierende Ähnlichkeit, geradezu eine Übereinstimmung mit dem Entwicklungsverlauf zur Anzahl der Sprachheilschulen in Deutschland (s. Abb. 1). Das kann kein Zufall sein. Und trotzdem sollte man mit Interpretationen vorsichtig sein und schon gar nicht von Kausalitäten sprechen. Während die Gründe für den parallelen Aufschwung noch offensichtlich sind - praktisch alle Professuren der Sprachheilpädagogik entstanden vor den Empfehlungen zur Ordnung des Sonderschulwesens vom 16. März 1972 zwischen 1970 und 1980 (Grohnfeldt 2002, 35) und führten zu einem Boom an Studierenden, die nach Abschluss des Studiums in die Sprachheilschule und auch in die dgs eintraten (s. Identität) -, sind die Gründe für den Abschwung vielfältig, regional unterschiedlich und durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst. Hier ist eine differenzierte empirische Analyse notwendig. Zumindest wird zunächst einmal die enge Verbindung der Mitglieder mit sonderpädagogischen Institutionen erkennbar. Wie sieht dies in Zeiten der Inklusion aus? Welchen Stellenwert hat der zunehmende Anteil an Therapeut/ innen (akademische Sprachtherapie, Logopädie) innerhalb des Sprachheilwesens in Deutschland? Auf Verbandsebene wird es notwendig sein, sich über einige Hintergründe und Fragestellungen Informationen zu beschaffen, um gezielt auf die fachlichen und verbandspolitischen Anforderungen der Zukunft eingehen zu können. Letztlich ist im Sinne einer aktuellen Situationsanalyse eine Erhebung zur Mitgliederstruktur der dgs angezeigt, die auf folgende Fragen eingeht: „Wer sind wir? Was wollen wir? Was können wir? “ 6000 5000 4000 3000 2000 1000 1960 1970 1980 1990 2000 2010 Abb. 3 Mitgliederentwicklung der dgs zwischen 1960 und 2015 VHN 1 | 2017 11 MANFRED GROHNFELDT Das Lebensgefühl in der Sprachheilpädagogik DAS PROVOK ATIVE ESSAY Die Fragen zur Mitgliederzusammensetzung („Wer sind wir? “) beziehen sich vordergründig zunächst einmal auf die Häufigkeit bestimmter Altersgruppen. Offensichtlich geht es dabei nicht nur um das Problem der Überalterung als meistgenannter Grund für Mitgliederschwund infolge von Austritten nach Pensionierung. Zu prüfen ist, inwieweit immer weniger Nachwuchs (aus der Generation y) den Weg in die dgs findet. Wenn dies zutrifft, dann sollte man versuchen, einer möglichen Überalterung entgegenzuwirken und vor allem verstärkte Maßnahmen unternehmen, um die „Jugend“ zu gewinnen. Das dürfte keine leichte Aufgabe sein angesichts der nachlassenden Identifikation generell, unklaren Beschäftigungsverhältnissen im Rahmen der Inklusion und speziell im Hinblick auf das nachlassende Identifikationsmerkmal von immer weniger sonderpädagogischen Einrichtungen. Man hätte aber einen genaueren Ansatz für gezielte Werbemaßnahmen. - Unabhängig davon ist es von Bedeutung, wie viele Therapeut/ innen (Doppelmitgliedschaft mit dem dbs oder dbl) in der dgs sind. In einigen Landesgruppen (z. B. Rheinland) könnte dies mehr als die Hälfte der Mitglieder sein. Man wüsste dann mehr über die mögliche Interessenlage der Mitglieder, die zudem je nach Landesgruppe erheblich differieren dürfte. Dies führt zu den Fragen der Zielsetzung („Was wollen wir? “) und Kompetenz („Was können wir? “) innerhalb der dgs. Die dazu erforderlichen Items sind zunächst in qualitativen Studien vorab zu eruieren, wobei sich hier ein breites Spektrum an regionalen Interessensschwerpunkten ergeben dürfte, die eine übergreifende Erhebung erschwert. Es versteht sich, dass die genannten Aufgaben an dieser Stelle nur skizziert werden können. Sie sollen aber verdeutlichen, dass wir in einer bedeutsamen Phase der Sprachheilpädagogik und letztlich auch der Verbandsgeschichte der dgs stehen, wobei die aufgezeigte Generationenabfolge eine wesentliche intervenierende Variable darstellt. Auf die damit verbundenen Fragen müssen wir Antworten finden und vorbereitet sein. Positiv sind die vielfältigen Ansätze und Initiativen in einzelnen Landesgruppen zu sehen. In Auswahl zu nennen sind zunächst die Weiterentwicklung der „Sprachheilarbeit“ zur „Praxis Sprache“ sowie die prosperierende Online- Zeitschrift „Forschung Sprache“, die vor allem dem wissenschaftlichen Nachwuchs ein Forum der Präsentation bietet. Weiter sind die verstärkte Medienpräsenz, der Downloadbereich und Sprachheilwiki Bereiche, die nicht nur für den Praktiker von Interesse sind. Doch das darf uns nicht blind machen für die Situation im Vergleich mit anderen Fachdisziplinen und Berufsgruppen des Sprachheilwesens. Wie bei einem Kippbild gilt es, jeweils beide Seiten einer Perspektive zu erkennen. 5 Epilog Weiterentwicklung ist unser aller Leben - auch in der Sprachheilpädagogik und dgs. Nichts kommt „von selbst“, alles hat Vorläufer, die Wirklichkeit ist zumeist kompliziert. Die Aufgabe besteht darin, das Wesentliche zu erkennen und handlungsfähig zu sein. Dies wird in einem sich wandelnden gesellschaftlichen Umfeld mit dem damit einhergehenden veränderten Lebensgefühl für uns alle offensichtlich. Betroffen sind aber auch das Selbstverständnis der Sprachheilpädagogik und der dgs. Wir alle stehen unser Leben lang vor der Aufgabe, neuanpassend zu wachsen, um nicht zu erstarren und zurückzufallen. Wir sollten uns an dem Erreichten freuen, aber die Aufgaben der Zukunft immer im Auge behalten. Offenheit und Mut sollten uns dabei leiten. Die Nennung eines Problems ist die Voraussetzung für seine Lösung. VHN 1 | 2017 12 MANFRED GROHNFELDT Das Lebensgefühl in der Sprachheilpädagogik DAS PROVOK ATIVE ESSAY Literatur Bund, K. (2014): Glück schlägt Geld. Generation y: Was wir wirklich wollen. Hamburg: Murmann Verlag Coupland, D. (1991): Generation x. Tales for an Accelerated Culture. London: St. Martins Press Dohse, W. (1963): Die allgemeinpädagogischen Belange der Sprachkrankenschule. In: Die Sprachheilarbeit 8, 72 -81 Empfehlungen zur Ordnung des Sonderschulwesens. Beschlossen von der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland am 16. März 1972 Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland. Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 6. 5. 1994. Online unter: http: / / www. kmk.org/ fileadmin/ Dateien/ pdf/ PresseUndAk tuelles/ 2000/ sopae94.pdf, 22. 12. 2015 Grohnfeldt, M. (1987): Sprachbehindertenpädagogik im Wandel. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 38, 477 -487 Grohnfeldt, M. (2002): Weichenstellungen in der Sprachheilpädagogik. 75 Jahre Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e.V. Würzburg: edition von freisleben Grohnfeldt, M. (2008): Divergierende Strukturen des Sprachheilwesens in Deutschland. In: Die Sprachheilarbeit 53, 192 -201 Grohnfeldt, M. (2012): Grundlagen der Sprachheilpädagogik und Logopädie. München: Reinhardt Grohnfeldt, M. (2014): Was ist aus ihnen geworden? Ergebnisse einer Online-Befragung. In: Logos 22, 292 -297 Grohnfeldt, M. (2015): Ungeschehene Geschichte der Sprachheilpädagogik, Logopädie und akademischen Sprachtherapie. In: Praxis Sprache 60, 155 -161 Gross, P. (2005): Die Multioptionsgesellschaft. 10. Aufl. Frankfurt a. M.: Edition Suhrkamp Haaf, M. (2011): Heult doch. Über eine Generation und ihre Luxusprobleme. München: Piper Hurrelmann, K.; Albrecht, E. (2014): Die heimlichen Revolutionäre. Wie die Generation y unsere Welt verändert. Weinheim: Beltz KMK (2011): Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 20.10.2011: Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen in Schulen. Online unter: http: / / www.kmk.org/ fileadmin/ veroeffent lichungen_Beschluesse/ 2011/ 2011_10_20-in klusiveBildung.pdf, 22. 12. 2015 Orthmann, W. (1969): Die Eigenständigkeit der Sprachheilpädagogik. In: Deutsche Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e.V. (Hrsg.): Die Eigenständigkeit der Sprachheilpädagogik. Hamburg: Wartenberg & Söhne, 13 -26 Rump, J.; Eilers, S. (2012): Die jüngere Generation in einer alternden Arbeitswelt. Baby-Boomer versus Generation y. Sternenfels: Verlag Wissenschaft & Praxis Anschrift des Autors Prof. Dr. Manfred Grohnfeldt Emeritierter Lehrstuhlinhaber für Sprachheilpädagogik und Sprachtherapie Ludwig-Maximilians-Universität München Leopoldstraße 13 D-80802 München grohnfeldt@lmu.de
