Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Aktuelle Forschungsprojekte: „I know I can feel safe here“ - Schulen als sichere Orte für Kinder mit traumatischen Erfahrungen
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Marion Baldus
Ausgangslage Schulen als Lernorte zu gestalten, in denen sich traumatisierte Kinder und Jugendliche sicher, aufgehoben und unterstützt fühlen, stellt eine neue Bewegung der inklusiven Schulentwicklung dar. Als richtungsweisend können US-amerikanische und australische Initiativen bezeichnet werden, die ihren Ausgang in einzelnen, regional begrenzten Projekten nahmen, zwischenzeitlich aber stark auf andere Länder ausstrahlen. [...]
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88 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE „I know I can feel safe here“ - Schulen als sichere Orte für Kinder mit traumatischen Erfahrungen Marion Baldus Hochschule Mannheim - Fakultät für Sozialwesen Ausgangslage Schulen als Lernorte zu gestalten, in denen sich traumatisierte Kinder und Jugendliche sicher, aufgehoben und unterstützt fühlen, stellt eine neue Bewegung der inklusiven Schulentwicklung dar. Als richtungsweisend können US-amerikanische und australische Initiativen bezeichnet werden, die ihren Ausgang in einzelnen, regional begrenzten Projekten nahmen, zwischenzeitlich aber stark auf andere Länder ausstrahlen. Im Zentrum der Bewegung stehen die Bostoner „Massachusetts Advocates for Children“ (MAC), die sich für vulnerable Kinder einsetzen und ihre Rechte auf inklusive Bildung und Teilhabe verteidigen. Mit der Reform-Agenda „Helping Traumatized Children Learn“ haben sie erstmals 2005 gezielt auf die Situation traumatisierter Kinder in Schulen aufmerksam gemacht und damit ein zuvor weitgehend unsichtbares Thema öffentlich platziert. Mit der zweiten Publikation, „Creating and Advocating for Trauma-Sensitive Schools“, entstand 2013 ein erster konkreter Handlungsrahmen für Schulentwicklungsprozesse. Der Heilpädagogik („Special Education“) kommt dabei an der Schnittstelle von Psychologie, Medizin und Bildung eine zentrale Rolle zu: Sie unterstützt interdisziplinäre Teams dabei, trauma-bedingte Lern- und Entwicklungsbarrieren individuell und strukturell zu identifizieren und ihnen durch geeignete Maßnahmen zu begegnen. Damit wird dem Phänomen Rechnung getragen, dass traumatisierte Kinder überproportional häufig in sonderpädagogischen Programmen versorgt werden (MAC 2009). Komplexe Traumatisierungen wirken sich nicht nur auf das sozial-emotionale Verhalten von Kindern aus, sondern auch auf ihre kognitive und sprachliche Leistung (van der Kolk 2014). Das pädagogische Umfeld weiß jedoch nicht immer von den Traumata der Kinder, und die Betroffenen selbst können Traumata oft nicht verbalisieren (ebd.). Schwierigkeiten im sozial-emotionalen Verhalten, Lernblockaden und Schulversagen werden in ihrer Hinweisfunktion daher oftmals verkannt und fehlinterpretiert. Tritt zur emotionalen Blockade noch eine Sprachbarriere hinzu, entsteht eine doppelte Sprachlosigkeit (Baldus 2015). Risiken, die daraus erwachsen, sind Rückzug, Schweigen, Isolation und/ oder Aggression. Das Forschungsprojekt Hier setzt das Forschungsprojekt „Schulen als sichere Orte für Kinder mit traumatischen Erfahrungen“ an. Gegenstand und Zielsetzung ist es: 1. Schlüsselfaktoren und Basiskonzepte traumasensitiver Schulen zu identifizieren und 2. hinsichtlich ihrer Relevanz für die aktuellen Herausforderungen an das Bildungssystem durch die Zuwanderung von Kindern aus Kriegsregionen zu befragen. Methodisches Vorgehen In einem ersten Schritt findet - in Anbindung an das Wheelock-College in Boston - eine vertiefende Sichtung der englischsprachigen Fachliteratur statt. In einem zweiten Schritt wird das Design für eine qualitative Studie entwickelt. Diese zielt darauf, Expertenwissen zu generieren, das in einem dritten Schritt mit Ergebnissen der Literaturexpertise kontrastiert wird. Zugang zu relevanten Akteuren und Experten zu finden ist Teilziel des mehrwöchigen Forschungsaufenthalts in Boston. Als Erhebungsinstrument dient das Experteninterview als Spezialform des Leitfadeninterviews. Diese Interviewform zielt auf einen klar definierten Wirklichkeitsausschnitt (Mayer 2008). Als Experte firmiert eine Person, die aufgrund ihres Erfahrungswissens in der Lage ist, das konkrete Handlungsfeld mit ihren Deutungen „sinnhaft und handlungsleitend für Andere zu strukturieren“ (Bogner u. a. 2014, 13). Der Befragte wird dabei als Repräsentant einer Gruppe betrachtet, „der auf einem begrenzten Gebiet über ein klares und abrufbares Wissen verfügt“ (Mayer 2008, 41). Die Interviews werden aufgezeichnet, transkribiert und nach einer kombinierten Auswertungsstrategie (Grounded Theory und Erzählanalyse) analysiert. Der Kodierungsprozess sieht eine Kombination von induktivem und deduktivem Vorgehen vor. VHN, 86. Jg., S. 88 -89 (2017) DOI 10.2378/ vhn2017.art08d © Ernst Reinhardt Verlag VHN 1 | 2017 89 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Aktueller Stand Bis dato wurden fünf Experteninterviews durchgeführt und einer ersten Analyse unterzogen. Die Expert/ innen repräsentieren die Handlungsfelder Sonderpädagogik, Psychologie, Heilpädagogik, Ausdruckstherapien und Forschung. Vier dieser Experten verfügen über Migrationserfahrungen, zwei haben jahrelang in Flüchtlingslagern gelebt und gearbeitet. Alle verfügen über Erfahrungen mit traumatisierten Kindern. Zwei weitere Interviews sind geplant. Erste Ergebnisse Ein erster Einblick in die Forschungsergebnisse erfolgt mit der Auswahl dreier Themencluster. In Form von In-Vivo-Codes, also dem Primärdatenmaterial wortwörtlich entnommenen Codes, werden diese Cluster eingeleitet. Die Codes stehen repräsentativ für den Aussagegehalt des Clusters. „I know, I can feel safe here“ Als Schlüsselfaktor für die Arbeit mit traumatisierten Kindern werden „safe spaces“ benannt. Diese sind in doppelter Hinsicht und in ihrem Wechselwirkungsverhältnis zueinander zu verstehen: als physische Orte und emotionale innere Zustände. Ein Aspekt allein genügt nicht. „Safe spaces“ in Form von Rückzugsräumen innerhalb eines Klassenraumes oder innerhalb des Schulgebäudes sind strukturell sinnvolle Maßnahmen, die inhaltlichqualitativ gefüllt werden müssen. Sie können sowohl als Chance als auch als Bedrohung erlebt werden. Dies hängt davon ab, wie „safe places“ apostrophiert und professionell begleitet werden. Interne Lösungen, etwa die Einrichtung einer „safe zone“ oder „think zone“ im Klassenzimmer, werden vor externen Lösungen bevorzugt. Diese Zonen sind mit sensomotorischen Materialien, Medien und Piktogrammen auszustatten, die Kinder darin unterstützen, sich zu spüren, zu fühlen und zu beruhigen. Kinder werden ermutigt, sich Auszeiten zu nehmen. Dies wird positiv konnotiert und niemals als Sanktion verwendet. „When you said red, the only thing we saw was blood“ Wie komplex und de facto nicht steuerbar es ist, trigger-frei zu arbeiten, bringt dieses Zitat auf den Punkt. In den USA wird momentan sehr kontrovers über sog. Trigger-Warnings debattiert. Trigger-Warnings sind vorherige Ankündigungen, dass ein gewisses Thema oder ein gewisser Unterrichtsstoff Flashbacks auslösen kann. Eine trauma-sensitive Haltung reflektiert daher immer mit, was bei welchem Kind was triggern könnte. Dies setzt eine genaue Kenntnis des Kindes und seiner Verarbeitungsmodi voraus. Nicht eingrenzbar ist zudem, wie sich im individuellen Fall eine Handlung, ein Satz oder gar ein singuläres Wort auswirkt. Eine als Entspannungsübung gedachte Imagination eines Regenbogens kann sich als das Gegenteil entpuppen: Die Farbe Rot erzeugt die Assoziation Blut und löst Erinnerungsbilder an traumatische Erlebnisse aus. „What is wrong with you, we are just drawing? “ Kreative Tätigkeiten wie Zeichnen, Malen und Gestalten sind kindliche Ausdrucksformen, die auch als Medium für tabuisierte und fragmentierte Erinnerungen dienen. Wird Kindern von gewaltausübenden Erwachsenen ein Schweigegebot auferlegt, steigt ihr Druck an, sich nicht anvertrauen und mitteilen zu dürfen. Traumatische Erfahrungen werden bildhaft gespeichert und sind bildhaft abrufbar. In Kinderzeichnungen tauchen daher oft völlig unerwartet Motive des Übergriffs, der Gewalt, Bedrohung und Angst auf. Darüber können Kinder erschrecken, weinen und verstört sein. Wird dies nicht kompetent aufgefangen, kann dies den Rückzug des Kindes und die Vermeidung jeder weiteren Kommunikation zur Folge haben. Ein erstes Fazit Die Institution Schule spielt eine entscheidende Rolle im Leben von Kindern. Sie kann ein Ort von Traumabewältigung sein, aber auch Traumata erzeugen oder bestärken. Schule muss sich selbstkritisch in den Blick nehmen und nach ihrer Traumakompetenz befragen. Die Heilpädagogik kann in diesem Prozess wichtige Impulse setzen - inklusiv und interdisziplinär. Weitere Informationen sowie Literaturangaben können eingeholt werden bei m.baldus@hs-mann heim.de
