Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2017
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Rezension: Ellger-Rüttgardt, Sieglind Luise (2016): Inklusion. Vision und Wirklichkeit. Stuttgart: Kohlhammer. 204 S., EUR 29,-
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Ulrike Schildmann
Ellger-Rüttgardt, Sieglind Luise (2016): Inklusion. Vision und Wirklichkeit Stuttgart: Kohlhammer. 204 S., € 29,–
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VHN 2 | 2017 172 REZE NSION E N Ellger-Rüttgardt, Sieglind Luise (2016): Inklusion. Vision und Wirklichkeit Stuttgart: Kohlhammer. 204 S., € 29,- Wer sich für die Frage interessiert, welche wissenschaftlichen und politischen Positionen etablierte Vertreter/ innen der Sonderpädagogik zehn Jahre nach Verabschiedung der UN-Konvention über die Rechte behinderter Menschen (UN-BRK, New York 2006) gegenüber der Forderung nach inklusiver Pädagogik vertreten und wie sie ihre Positionen herleiten und begründen, der sollte das neueste Buch von Sieglind Ellger-Rüttgardt als ein exemplarisches Beispiel lesen. Der Autorin scheint es besonders wichtig zu sein mitzuteilen, dass das „Thema der ‚Inklusion‘ (…) in der Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen“ sei, wie bereits im ersten Satz des einführenden Kapitels (S. 8) zu lesen ist. Ihre Orientierung an der sogenannten gesellschaftlichen Mitte wird auch an vielen anderen Stellen deutlich: So steht das Schlusskapitel unter der Überschrift: „Eine Mitte für alle“ (S. 174ff.), und gelegentlich wird auf die behinderungspolitische Reformstrategie des Normalisierungsprinzips (unter direktem Bezug auf dessen Gründungsväter Bank-Mikkelsen, Nirje und Wolfensberger, S. 136ff.) mit dessen Orientierung am gesellschaftlichen Durchschnitt und damit an der Mitte der Gesellschaft rekurriert. Zu dieser Orientierung passt die diskursive Neu-Positionierung der Sonderpädagogik im deutschen Schulsystem durch die Autorin: weg von der früheren institutionellen Trennung zwischen Regel- und Sonderschulen hin zu einer möglichst gemeinsamen Erziehung und Unterrichtung aller (nicht behinderten und behinderten) Kinder und Jugendlichen, allerdings ohne das Sonderschulwesen gänzlich aufzugeben; dieses müsse vielmehr auf absehbare Zeit erhalten bleiben (vgl. dazu v. a. Kap. 9: „Das Kreuz mit den Lernschwachen“, S. 145ff.). Untermauert wird die bildungspolitische Position der Sonderpädagogin Ellger-Rüttgardt unter Bezugnahme auf die UN-BRK so: „An keiner Stelle der Konvention findet sich die Forderung nach Abschaffung von Sonderschulen - eine Feststellung, die angesichts fachlicher Interpretationen und Behauptungen in der deutschen Debatte um die inklusive Schule zu unterstreichen ist.“ (S. 38) In diesem Sinne favorisiert Ellger- Rüttgardt auch eine Orientierung an statistischen Daten und empirischen Befunden - „Schließlich entscheidet der empirisch nachweisbare Erfolg“ (S. 78) - und warnt vor ideologischer Überschätzung der inklusiven Pädagogik. Nicht der Streit um das Für und Wider der Inklusion solle fortgesetzt werden, vielmehr sei die gegenwärtig einzig entscheidende Frage die der Umsetzung der Inklusionsziele in die gesellschaftliche Praxis, so auch die Ankündigung im Klappentext des Buches. Diese Positionierung fordert zu einer normalismustheoretischen Analyse des Buches geradezu heraus: Orientierung an der gesellschaftlichen Mitte, flexible Handhabung der Sonderpädagogik im Gesamtsystem des schulischen Bildungswesens sowie Konzentration auf Daten und Fakten, die die Sichtweise Ellger-Rüttgardts auf das Thema Inklusion bzw. inklusive Pädagogik bestimmen, sind kennzeichnend für eine durch und durch flexibel normalistische Haltung: Auf der einen Seite grenzt sich die Autorin hier gegenüber historisch dominanten sonderpädagogischen Positionen ab, die - im Sinne protonormalistischer Strategien - die institutionelle Trennung von Regel- und Sonderpädagogik favorisier(t)en. Auf der anderen Seite steht sie transnormalistischen Positionen in der Tradition der Integrationspädagogik (als wissenschaftlicher Vorläuferin der inklusiven Pädagogik) der letzten 40 Jahre kritisch gegenüber, was in ihrer Warnung vor ideologischer Überschätzung der inklusiven Pädagogik (s. o.) zum Ausdruck gebracht wird. Ihre bildungspolitische Verortung untermauert die Autorin selbst zum einen mit den Ergebnissen ihrer langjährigen wissenschaftlichen Arbeit zur Geschichte der Sonderpädagogik seit dem 18. Jahrhundert und zum anderen mit länderspezifischen internationalen Vergleichen (hier: Frankreich, Luxemburg, Schweden), die v. a. in den Kapiteln 2 und 8 zum Tragen kommen, VHN 2 | 2017 173 REZE NSION E N immer unter dem Motto der Auseinandersetzung mit der „Wirklichkeit“ (vgl. den Titel des Buches). Der im Buchtitel genannten „Vision“ der Inklusion (im normalismusanalytischen Sinne als transnormalistische Tendenzen an den Rändern des flexiblen Normalismus gelegen) widmet sie sich dagegen „nicht wirklich“. Das ist aus Sicht der Rezensentin bedauerlich, weist doch der Buchtitel - anders als der Klappentext und die inhaltlichen Ausführungen (s. o.) - gerade auf das (Spannungs-)Verhältnis zwischen Vision und Wirklichkeit hin. Einer (wenn auch kritischen) Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen der inklusiven Pädagogik, wie diese etwa in den Dokumentationen der Integrations-/ Inklusionsforschertagungen der letzten 30 Jahre zum Ausdruck kommen oder sich auch jüngst in einer kritischen Reflexion zur „Pädagogik der Vielfalt“ widerspiegelten (vgl. Zeitschrift „Erwägen Wissen Ethik“ 26, 2015, mit Hauptartikel von Annedore Prengel und 45 dazu verfassten wissenschaftlichen Stellungnahmen), geht Sieglind Ellger-Rüttgardt aus dem Weg. So bleibt das im Titel des Buches angekündigte (Spannungs-)Verhältnis zwischen „Vision und Wirklichkeit“ von Inklusion leider weitestgehend unberücksichtigt. Aus Sicht der Rezensentin wäre es aber gerade dieses, an dem konstruktiv weitergearbeitet werden müsste. Daran führt kein Weg vorbei. Prof. Dr. Ulrike Schildmann D-10707 Berlin DOI 10.2378/ vhn2017.art15d
