eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 86/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2017
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Aktuelle Forschungsprojekte

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2017
Helga Fasching
Katharina Felbermayr
Hendrik Trescher
Teresa Hauck
Christoph Till
Cooperation for Inclusion in Educational Transition Kooperation für Inklusion in Bildungsübergängen Helga Fasching, Katharina Felbermayr, Astrid Hubmayer Universität Wien -Auf dem Weg zu Inklusion? – „Busfahren“ als Praxis ethnografischer Inklusionsforschung Hendrik Trescher, Teresa Hauck, Michael Börner Goethe-Universität Frankfurt -Video-Self-Modeling als Methode in der Behandlung grammatischer Entwicklungsstörungen Christoph Till Universität Freiburg / Schweiz
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248 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Cooperation for Inclusion in Educational Transition Kooperation für Inklusion in Bildungsübergängen Helga Fasching, Katharina Felbermayr, Astrid Hubmayer Universität Wien Am 1. Oktober 2016 startete unter der Leitung von Helga Fasching das vom österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) geförderte Forschungsprojekt „Cooperation for Inclusion in Educational Transition“ („Kooperation für Inklusion in Bildungsübergängen“) am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien (Projektnummer: P-29291-G29). Im Mittelpunkt des Forschungsprojekts steht die partizipative Kooperation und deren nähere Bestimmung im Übergangsplanungsprozess von der Sekundarstufe (SEK) I in die SEK II oder Beschäftigung. Problemaufriss Der Übergang von der SEK I (Pflichtschule) in die SEK II (allgemein bildende mittlere und höhere Schulen sowie berufsbildende mittlere und höhere Schulen) oder in die Beschäftigung stellt für Jugendliche mit Behinderung eine große Herausforderung dar. Insbesondere fürjene aus sozio-kulturell benachteiligten Familien gestalten sich inklusive Bildungs- und Beschäftigungsprozesse nach der Pflichtschule oft als besonders schwierig (Kraemer/ Blacher 2001; Crozier/ Davies 2007; Bacon/ Causton- Theoharis 2013). Ein häufiger Grund für diesen Umstand ist die fehlende oder geringe Kooperation zwischen den jungen Menschen mit Behinderung, deren Eltern/ Familie sowie den schulischen und außerschulischen Unterstützer/ innen (Hetherington u. a. 2010; Turnbell u. a. 2011; Murray u. a. 2013). Innerhalb des pädagogischen Fachdiskurses wird die partizipative Kooperation jedoch als Schlüssel der inklusiven Bildung betrachtet. Denn eine enge Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteur/ innen (Lehrpersonen, Bildungs- und Berufsberater/ innen, Unterstützer/ innen), die den individuellen Bedürfnissen und Situationen der Jugendlichen mit Behinderung und deren Eltern/ Familien angepasst wird, ist eine zentrale Voraussetzung für das bestmögliche Gelingen des Übergangsprozesses (European Commission 2008; European Agency 2011). Bislang hat sich die österreichische Forschungslandschaft dem Thema der partizipativen Kooperation noch nicht zugewandt, insbesondere nicht unter dem Diversitätsaspekt. Ausgehend von dieser Forschungslücke zielt das Forschungsprojekt zum einen auf die Gewinnung von tiefergehenden Erkenntnissen zur Rolle von partizipativer Kooperation beim Übergang von SEK I in SEK II oder Beschäftigung ab und zum anderen auf die Ermittlung der subjektiven Erfahrungen und Deutungen der jungen Menschen mit Behinderung und deren Eltern/ Familie. Forschungsfragen Geleitet wird das Forschungsprojekt von folgender zentralen Fragestellung: n Welche Kooperationserfahrungen machen Schüler/ innen mit Behinderung und deren Eltern/ Familie mit Professionellen im Übergang von SEK I in SEK II oder Beschäftigung? Diese Fragestellung beinhaltet folgende Unterfragen: n Wie ist die Art der Kooperation (Ziele und Mittel der Akteur/ innen, wer kooperiert mit wem)? n Wird die Kooperation als bereichernd wahrgenommen? n Beeinflusst die partizipative Kooperation die Bildungs- und Berufswahlentscheidung der jungen Menschen mit Behinderung nach der Pflichtschule? n Welche Konsequenzen ergeben sich für einen methodischen Ansatz hinsichtlich der partizipativen Kooperation? Forschungsdesign Das Forschungsprojekt ist der explorativen Grundlagenforschung zuzuordnen und auf eine längsschnittliche Betrachtung der partizipativen Kooperation ausgerichtet. Im Sinne der Triangulation werden dabei qualitative und quantitative Methoden miteinander verschränkt (Mixed- Methods Längsschnittstudie). VHN, 86. Jg., S. 248 -254 (2017) DOI 10.2378/ vhn2017.art25d © Ernst Reinhardt Verlag VHN 3 | 2017 249 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Der quantitative Teil besteht zu Beginn des Projekts aus der Sammlung statistischer Daten zur Bildungssituation von Jugendlichen mit Behinderung in den verschiedenen Schulformen nach der SEK I. Eine zweite Fragebogenerhebung findet am Ende des Projekts statt. Mit dem Ziel der Theorieüberprüfung richtet sich der Fragebogen an Eltern (N = 400), deren Kinder im letzten Jahr der Pflichtschule (SEK I) sind. Die qualitativen Daten werden in Form eines sog. Forschungszirkels erhoben, der drei Mal wiederholt wird. In jeder dieser Phasen folgen Datenerhebung, Datenauswertung und Theoriebildung der (konstruktivistischen) Grounded Theory-Methodologie nach Kathy Charmaz (2012). Die Zielsetzung des Forschungsprojekts ist, sowohl die Erfahrungen der Schüler/ innen mit Behinderung als auch jene der Eltern unter Diversitätsgesichtspunkten in der Kooperation mit Professionellen (Lehrpersonen, Bildungs- und Berufsberater/ innen, Unterstützer/ innen) im Übergangsplanungsprozess zu erforschen und zu rekonstruieren. Anhand von Fallanalysen (20 Jugendliche mit Behinderung, 20 Eltern) soll untersucht werden, wie die einzelnen Akteur/ innen miteinander kooperieren. Dazu werden narrative Interviews mit den Beteiligten durchgeführt und Beratungssituationen teilnehmend beobachtet. Im Sinne der Diversität werden bei der Auswahl der Forschungsteilnehmer/ innen folgende Aspekte besonders berücksichtigt: Behinderung, Geschlecht, sozio-ökonomischer Hintergrund und Schultyp (inklusiv und segregativ). Es geht hier einerseits darum, den Übergangsplanungsprozess in seinen Kooperationshandlungen und -beziehungen zu explorieren und zu typisieren sowie andererseits die im Übergangsplanungsprozess dokumentierten Ausgangsgutachten und -empfehlungen in je konkreten Einzelfällen zu analysieren und die Bildungsentscheidungen zu typisieren und zu rekonstruieren. Damit sollen Mechanismen sozialer Ungleichheit im Übergangsplanungsprozess identifiziert werden, die über gegebene bzw. fehlende Kooperationshandlungen und -beziehungen zu bestimmten Bildungs- und Berufsempfehlungen führen. Das Forschungsprojekt zeichnet sich durch seinen partizipativen Forschungszugang aus, der durch den Einsatz von sog. „reflecting teams“ (RT) und die Mitarbeit von u. a. Jugendlichen mit Behinderung erfolgt. In Summe werden drei RTs gebildet, die sich wie folgt zusammensetzen: n RT 1: 6 Jugendliche/ Personen mit Behinderung n RT 2: 6 Eltern n RT 3: 3 Professionelle Die Hauptaufgabe des RT ist die gemeinsame Reflektion über die partizipative Kooperation, die partizipative Theoriegenerierung sowie die Planung des weiteren Vorgehens mit dem Forscherinnenteam. Darüber hinaus wird durch die RTs am Ende jeder Forschungsphase eine kommunikative Validierung der Forschungsergebnisse gewährleistet. Die Teilnehmer/ innen der RTs sind somit sowohl Teil der Stichprobe als auch Forscher/ innen. Erwartungen Das Projekt leistet nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Theoriebildung rund um das Thema partizipative Kooperation, sondern kann zudem evidenzbasierte Impulse zur Verbesserung des Übergangssystems (insbesondere der Übergangsplanung) und der bildungspolitischen Rahmenbildung im Zusammenhang mit der Inklusion von Menschen mit Behinderung geben. Zum Zeitpunkt der Manuskripteinreichung wurde mit den ersten Schritten des Projekts begonnen. (Teil-)Ergebnisse des Projekts werden in wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht. Projektteam Projektleitung: Assoz. Prof. in Mag. Dr. Helga Fasching Doktorandinnen: Katharina Felbermayr, MA MA Mag. Astrid Hubmayer Weitere Informationen und Literaturangaben können eingeholt werden bei: katharina.felbermayr@univie.ac.at Projekthomepage: http: / / kooperation-fuer-inklusion.univie.ac.at/ VHN 3 | 2017 250 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Auf dem Weg zu Inklusion? - ‚Busfahren‘ als Praxis ethnografischer Inklusionsforschung Hendrik Trescher, Teresa Hauck, Michael Börner Goethe-Universität Frankfurt Zum Projekt Die wissenschaftliche Begleitung des Projekts ‚Kommune Inklusiv‘ 1 erfolgt auf drei Ebenen 2 . Ziel ist es zu untersuchen, wie sich fünf Modellregionen über den Zeitraum von sechs Jahren hinweg mit und durch die Bereitstellung begleitender ‚Mittel und Angebote zur Inklusion‘ verändern. Im Fokus des hiesigen Beitrags stehen die Ergebnisse ethnografischer Sozialraumbegehungen. Ethnografische Sozialraumbegehungen als Forschungsmethode Die ethnografischen Sozialraumbegehungen in den Modellregionen wurden in Anlehnung an Seifert (2010, 301f.) vorgenommen mit dem Ziel, über „den ‚fremden Blick‘ auf das je interessierende Phänomen“ (Honer 2012, 197) ein Verständnis des Sozialraums aus Perspektive der dort lebenden Personen, die auf unterschiedliche Dimensionen von Barrierefreiheit angewiesen sind (Mobilität, Sehen, Hören, Lesen/ Verstehen), zu erschließen. Dabei wurden Wohnquartiere, Innenstadtbereiche, öffentliche Verkehrsmittel, kulturelle Einrichtungen, Behörden/ städtische Verwaltungen in den Blick genommen und Gespräche mit Einwohner/ innen und Beschäftigten geführt. Als ein Ergebnis kann ganz grundsätzlich festgehalten werden, dass in allen Sozialräumen ein gewisses Bewusstsein für Barrierefreiheit besteht und gerade in den größeren Städten schon einiges in dieser Hinsicht unternommen wurde. Dennoch gibt es nach wie vor (z. T. erhebliche) Problematiken, an denen deutlich wird, dass Barrierefreiheit, die auf dem Reißbrett geplant wird, in der Praxis ihrem Zweck häufig nur bedingt nachkommt. Die problemzentrierten Ausschnitte aus den ethnografischen Protokollen, die hier auf den Bereich des ÖPNV beschränkt bleiben, da sich gezeigt hat, dass zentrale Problematiken daran eindrücklich dargestellt werden können, geben einen entsprechenden Einblick. Ausgewählte erste Ergebnisse Mobilität Eine Problematik war das handlungspraktische Scheitern von technisch ermöglichter Barrierefreiheit. Diese wurde etwa im Zuge der folgenden Beobachtung deutlich: An einer innerstädtischen Bushaltestelle, an der der Bordstein erhöht ist, hält ein Niederflurbus. Dieser fährt nicht nahe genug an den Bordstein heran, sodass eine Frau mit Kinderwagen Schwierigkeiten hat einzusteigen. Einen kurzen Augenblick später hält der nächste Bus; auch dieser fährt nicht nahe genug heran, sodass ein Mann mit zwei Gehstöcken es kaum schafft, die Distanz zwischen Bordstein und Bus zu überwinden. In einem anderen Sozialraum, dessen Verkehrsbetriebe ihre Straßenbahnen als ‚barrierefrei‘ bezeichnen, wurde Nutzer/ innen von elektrischen Rollstühlen die Straßenbahnnutzung aus ‚versicherungstechnischen Gründen‘ untersagt. Ein Betroffener sagt: „Ich finde es diskriminierend, dass ich jetzt nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren kann.“ Problematisch ist außerdem, dass der barrierefreie Ausbau von Haltestellen des Regionalverkehrs nach ungleichen Maßstäben erfolgt, sodass es vorkam, dass der barrierefreie Einstieg in die Regionalbahn im Sozialraum noch problemlos möglich war, am Zielort jedoch eine sehr hohe Stufe den Ausstieg erschwerte bzw. verunmöglichte. Sehen In Hinblick auf Sehbeeinträchtigungen entstehen bei der Nutzung des ÖPNV immer dann Barrieren, wenn die Haltestellen nicht angesagt werden. Ein diesbezüglich befragter Fahrdienstleiter sieht das aber nicht als Problem. Er sagt: „Es gab mal einen Blinden, der ist immer mit dem Bus zur Arbeit gefahren, aber da wussten ja eh alle, wo der aussteigen muss. Und jetzt ist der in Rente, also fährt eh keiner mehr mit.“ ‚Blindenleitsysteme‘ an Haltestellen sind nach Rücksprache mit Nutzer/ innen mitunter nur bedingt nützlich, da sie zumeist nur an der Haltestelle selbst Orientierung bieten. VHN 3 | 2017 251 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Hören Für gehörlose und hörbeeinträchtigte Menschen treten Barrieren bei der Nutzung des ÖPNVs auf, sobald die optische Haltestellenanzeige in Fahrzeugen außer Betrieb ist und die Haltestellen lediglich durchgesagt werden - was bei den punktuellen Erhebungen im Zuge der Sozialraumbegehungen des Öfteren der Fall war. Dies kann vor allem für Ortsfremde zum Problem werden - auch unabhängig von einer Hörbeeinträchtigung. Lesen/ Verstehen Die meisten ÖPNV-Fahrpläne sind sehr komplex und können u. U. nicht auf Anhieb verstanden werden. Ein Busfahrer in einem der Sozialräume sagte jedoch diesbezüglich in einem Interview: „Den Aushangfahrplan müsste der Dümmste kapieren, da hatten wir noch nie Probleme mit. Leute, die total neben der Spur sind, haben ja eh nen Betreuer dabei, die kann man ja auch nicht alleine rumlaufen lassen.“ Jedoch hatten die nicht ortskundigen Forscher/ innen in den Sozialräumen mitunter selbst Schwierigkeiten, die Fahrpläne nachzuvollziehen. Informationen in Leichter Sprache oder unterstützende Piktogramme standen nie zur Verfügung. Ausblick Die ethnografischen Sozialraumbegehungen haben sich als geeignete Methode erwiesen, Barrierefreiheit und damit verbundene Herausforderungen in den Modellregionen zu erfahren und bewusst zu machen. Obwohl sich in den Sozialräumen diesbezüglich bereits viel getan hat und Fragen von Barrierefreiheit in Planung und Handlungspraxis miteinbezogen werden, wurden über den Bereich des ÖPNV hinaus zahlreiche weitere Herausforderungen aufgeworfen, z. B.: n Barrierefreie Eingänge sind oft ausschließlich über die Nutzung eines ‚Sonderweges‘ zu erreichen; n Unterstützungsmaßnahmen wie Rampen, ‚barrierefreie‘ Toiletten, Ampelanlagen usw. sind oft nur bedingt zweckmäßig; n bei einem Kino, das als barrierefrei für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen bezeichnet wird, stellte sich heraus, dass sich dies lediglich auf den Aufzug (mit Sprachausgabe) bezieht und nicht auf das Programm; n es wurde mit gehörlosen Selbstvertreter/ innen gesprochen, die von der Problematik des Angewiesenseins auf das Telefon berichten. Eine der Personen sagt: „Eigentlich will ich das ja nicht, dass ich immer auf das Fax schreiben muss ‚bitte beachten Sie: ich bin gehörlos‘, damit die Angefragten reagieren“; n Barrierefreiheit wird häufig nur dann berücksichtigt, wenn Personen sich als unterstützungsbedürftig in diesem Sinne melden. Barrierefreiheit wird so an Bedingungen geknüpft, was theoretisch wie lebenspraktisch eine Behinderungspraxis bedeutet (s. Trescher 2017). Mit Blick auf die Ergebnisse wird deutlich, dass verstärkt Selbstvertreter/ innen in die Planung miteinbezogen werden müssen, damit Barrierefreiheit nicht zum inhaltsleeren Label verkommt. Dies betrifft Menschen mit Lernschwierigkeiten in besonderer Weise, denn in Bezug auf diese spielt Barrierefreiheit (beispielsweise durch die Verwendung von Leichter Sprache oder Piktogrammen) nur selten eine Rolle. Menschen mit Lernschwierigkeiten drohen so zu ‚Inklusionsverlierern‘ zu werden, die von der Teilhabe am Diskurs ausgeschlossen werden, was in anderen Zusammenhängen bereits problematisiert wurde (Trescher 2015, 330ff.). Inklusion ist ein Dekonstruktionsprozess, der ein umfassendes Bewusstsein für Barrierefreiheit erfordert, das immer weiter vorangetrieben werden muss, auch wenn die Sozialräume in den Ausbau von barrierefreien Zugangsmöglichkeiten investieren. In den sich nun anschließenden Analysen und weitergehenden theoretischen Verortungen stehen ebendiese Problematiken (zusätzlich zu weiteren Erhebungs- und Auswertungsprozessen) im Vordergrund, um gegenwärtige Praxen der Teilhabe von Menschen, die von Ausgrenzung bedroht oder betroffen sind, sowie Möglichkeiten einer zukünftigen Teilhabe vielseitig zu untersuchen. VHN 3 | 2017 252 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Anmerkungen 1 Das Projekt der Aktion Mensch e.V. fördert fünf strukturell kontrastive Sozialräume in Deutschland (Erlangen, Rostock, Schneverdingen, Schwäbisch Gmünd, Verbandsgemeinde Nieder-Olm), in denen über die Bereitstellung unterschiedlicher Maßnahmen inklusive Netzwerke etabliert werden sollen. 2 Ebene 1: Evaluation der Maßnahmen und Ebene 2: Evaluation der Sozialräume (Leitung H. Trescher); Ebene 3: Einzelfallanalysen (Leitung D. Katzenbach, N. Schallenkammer). Weitere Informationen und Literaturangaben können eingeholt werden unter trescher@em. uni-frankfurt.de Video-Self-Modeling als Methode in der Behandlung grammatischer Entwicklungsstörungen Christoph Till Universität Freiburg/ Schweiz Problemstellung Störungen der Grammatik gelten als das Kardinalsymptom der Spezifischen Sprachentwicklungsstörung (SSES), dessen Behandlung für Logopäden und Logopädinnen schon immer eine Herausforderung dargestellt hat (Bishop 1997, 116; Dannenbauer 2003). Nicht nur gelten sie als äußerst hartnäckig in der Behandlung (Law u. a. 2004), sondern auch Transfereffekte des Gelernten auf die Spontansprache des Kindes bleiben häufig aus. Erst wenn diese in eigens zu diesem Zweck geplanten Therapien gezielt angeleitet werden, sind Transferleistungen auf die Alltagssprache des Kindes zu beobachten (Ebbels 2014). Von daher besteht ein Bedarf an Therapieansätzen zur Behandlung grammatischer Entwicklungsstörungen, die einerseits den Erwerb, andererseits auch den Transfer grammatischer Strukturen ermöglichen. Unter den bewährten Ansätzen (z. B. Entwicklungsproximale Therapie nach Dannenbauer [1994], PLAN nach Siegmüller und Kauschke [2006]) findet sich nur einer, dessen Effektivität in verschiedenen Interventionsstudien nachgewiesen werden konnte: die Kontextoptimierung nach Motsch (2010). Doch auch hier steht der Nachweis eines erfolgreichen Therapietransfers noch aus. Alternativ kann der Einsatz des Video-Self-Modelings (VSM) in der Grammatiktherapie erwogen werden. Es handelt sich hierbei um eine verhaltenstherapeutische Methode, bei der eine Person beim Ausführen einer bestimmten Handlung gefilmt wird. Die Aufnahmen werden im Nachhinein so bearbeitet, dass das erwünschte Zielverhalten möglichst häufig zu sehen ist oder gar erst durch die Bearbeitung des Videos generiert wird (Dowrick 1999). Das Video-Self-Modeling wird seit den 1970er Jahren bis in die heutige Zeit in verschiedensten Bereichen angewendet und hat sich vor allem beim Erwerb, beim Transfer und bei der Aufrechterhaltung des Zielverhaltens über die Zeit bewährt. Die Effekte bezüglich Erwerb und Transfer zeigen sich in der Regel bereits nach zwei bis drei Wochen Intervention (Buggey/ Ogle 2012). Es existieren verschiedene theoretische Ansätze, die den Wirkmechanismus des VSMs zu erklären versuchen. Keiner dieser Ansätze konnte sich bisher durchsetzen, jedoch sind sich die Vertreter und Vertreterinnen der unterschiedlichen Ansätze darin einig, dass die Anwendung des VSMs zu einer Steigerung der Selbstwirksamkeitserwartungen der Probanden führt (Ayala/ O’Connor 2013; Bandura 2001; Dowrick u. a. 2006). In der entsprechenden Forschungsliteratur finden sich neben Studien zur Behandlung von Stottern, selektivem Mutismus und Sprechangst auch drei Studien zum Einsatz des VSMs in der Behandlung grammatischer Entwicklungsstörungen (Buggey 1995; Hepting/ Goldstein 1996; Whitlow/ Buggey 2003). Die in diesen Studien beobachteten Therapieeffekte sind zwischen schwach und stark einzustufen und deuten darauf hin, dass VSM auch in diesem Anwendungsgebiet wirksam sein kann (vgl. Till 2016). Die drei Studien sind jedoch von eher niedriger Qualität (Einzelfallstudien, im Detail nicht nachvollziehbare Umsetzung, Ergebnisse teilweise nicht überprüfbar). Ein Einfluss des VSMs auf die Selbstwirksamkeitserwartungen der Probanden wurde VHN 3 | 2017 253 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE nicht überprüft. Es besteht somit der Bedarf nach einer hochwertigen Interventionsstudie, die die Wirksamkeit des VSMs in der Grammatiktherapie in Bezug auf den Erwerb und den Transfer der grammatischen Fähigkeiten und außerdem den Einfluss der Methode auf die Selbstwirksamkeitserwartungen überprüft. Fragestellungen und Annahmen Durch die Durchführung einer Interventionsstudie mit einem hochwertigen Design sollen u. a. folgende Fragen beantwortet werden: 1. Führt die Intervention mit VSM (im Vergleich zu einer alternativen Methode) zu einem größeren Anstieg der Selbstwirksamkeitserwartungen? 2. Führt die Intervention mit VSM (im Vergleich zu einer alternativen Methode) zu einem größeren Fortschritt beim Erwerb grammatischer Zielstrukturen? 3. Führt die Intervention mit VSM (im Vergleich zu einer alternativen Methode) zu einem stärkeren Transfer grammatischer Fähigkeiten auf nicht-therapeutische Settings? Zum Vergleich der Wirksamkeit des VSMs soll eine zweite Untersuchungsgruppe mit der Kontextoptimierung therapiert werden. Da sich die Kontextoptimierung in verschiedenen Studien bereits als wirksam erwiesen hat, kann VSM im Vergleich mehr, weniger oder gleich wirksam sein. Die zentralen Annahmen der Studie lauten, dass die Kinder der VSM-Gruppe in der gegebenen Zeit a) einen größeren Anstieg der Selbstwirksamkeitserwartungen, b) die größeren Therapiefortschritte und c) die größeren Transferleistungen als die Kinder der Vergleichsgruppe zeigen. Außerdem kann ein möglicher Einfluss der Selbstwirksamkeitserwartungen auf die beobachteten Fortschritte in den grammatischen Fähigkeiten untersucht werden. Die Annahmen begründen sich dadurch, dass die Therapieeffekte beim VSM nach gängigen Erkenntnissen bereits nach einer Interventionsdauer von zwei bis drei Wochen feststellbar sind, wohingegen sich entsprechende Fortschritte beim Einsatz der Kontextoptimierung erst nach zehn Wochen intensiver Therapie einstellen (Motsch/ Schmidt 2009). In ähnlicher Weise gilt dies auch für die Transfereffekte, die sich bei Einsatz des VSMs in der Regel von alleine einstellen, nach üblichen therapeutischen Vorgehensweisen jedoch eigens initiiert werden müssen, um beobachtbar zu werden (s. o.). Aus theoretischen Annahmen lässt sich des Weiteren begründen, dass VSM zu einer Steigerung der Selbstwirksamkeitserwartungen führt, was in gleicher Weise nicht für die Kontextoptimierung ausgesagt werden kann. Sollten sich die Erwartungen bestätigen, spräche dies für eine Implementation des VSMs in die logopädische Praxis. Methodisches Vorgehen Im Rahmen eines Prä-Interventions-Posttest-Designs mit randomisierter Zuteilung in zwei Untersuchungsgruppen (VSM vs. Kontextoptimierung) wurden im Jahr 2016 insgesamt 21 monolingual (schweizer-)deutschsprechende Kinder im Alter zwischen fünf und neun Jahren mit der Diagnose SSES, deren Sprachverständnis gemäß TROG-D (Fox 2013) als unauffällig bewertet wurde, untersucht. In der ersten Woche wurden mittels der ESGRAF-R (Motsch 2009) für die Therapie geeignete grammatische Zielstrukturen identifiziert (Therapiesetting), die in der zweiten Woche auch noch einmal im freien Sprechen (Transfersetting) erhoben wurden. Daraufhin erfolgte innerhalb von vier Wochen mit je 15 Minuten die Behandlung mittels VSM bzw. Kontextoptimierung, um in den anschließenden zwei Wochen die Tests (Therapie- und Transfersetting) zu wiederholen. Um den Therapieeffekt zu kontrollieren, wurden zusätzlich die unbehandelten Grammatikstrukturen und deren Entwicklung im gleichen Zeitraum beobachtet (Ebbels 2008; Siegmüller o. J.). Die statistische Bedeutsamkeit der Gruppenvergleiche wird mit ANCOVAs überprüft, indem die Prätestergebnisse als Kovariate in die Berechnungen eingehen und sich somit kontrollieren lassen. Dieses Vorgehen wird v. a. für randomisierte Studien mit kleinen Stichproben empfohlen (Vanhove 2015). Gruppenspezifische Therapiefortschritte werden mit T-Tests für abhängige Stichproben ermittelt. Die Analysen werden durch allfällige weitere Befunde ergänzt. VHN 3 | 2017 254 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Ausblick Zum Zeitpunkt der Manuskripterstellung sind die Daten vollständig erhoben und größtenteils für die statistische Analyse aufbereitet. Die Möglichkeit zur Generierung weiterer Variablen, die einen zusätzlichen Erklärungswert haben könnten, wird überprüft. Bis Ende des Jahres sollen die Auswertungen der Daten abgeschlossen und die Ergebnisse diskutiert werden. Eine Publikation der Studie ist im Rahmen einer Dissertationsschrift vorgesehen. Allenfalls folgen ergänzende Artikel in entsprechenden Fachzeitschriften. Das Projekt wird u. a. vom Deutschschweizer Logopädinnen- und Logopädenverband DLV finanziell unterstützt, wofür an dieser Stelle gedankt werden soll. Weitere Informationen sowie Literaturangaben können eingeholt werden unter christoph.till@ unifr.ch.