eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 86/3

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2017
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Rezension: Fleck, Robert (2016): Von allen Sinnen. Wahrnehmung in der Kunst: Wien/Hamburg: Edition Konturen. 136 Seiten, € 24,80

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2017
Christian Mürner
Rezension Fleck, Robert (2016): Von allen Sinnen. Wahrnehmung in der Kunst Wien/Hamburg: Edition Konturen. 136 Seiten, € 24,80
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VHN 3 | 2017 274 REZE NSION E N Fleck, Robert (2016): Von allen Sinnen. Wahrnehmung in der Kunst Wien/ Hamburg: Edition Konturen. 136 Seiten, € 24,80 Karl Otto Götz (geb. 1914), Lehrer der weltberühmten deutschen Künstler Gerhard Richter und Sigmar Polke, wurde 2001 87-jährig in einem Interview wegen seiner Altersblindheit bedauert, dann könne er ja nicht mehr malen. „Wieso das? “ antwortete Götz. „Ich mache das seit siebzig Jahren und weiß genau, was ich male, wenn ich meinen Arm spüre.“ (S. 126) Für Robert Fleck, Professor für „Kunst und Öffentlichkeit“ an der Düsseldorfer Kunstakademie, ist das „ein Beispiel von vielen, wie ein Ausfall oder die Abschwächung von bestimmten Formen der Sinneswahrnehmung VHN 3 | 2017 275 REZE NSION E N ein kreatives Potenzial freisetzen kann, das anderwärtig möglicherweise nicht zur Entfaltung gekommen wäre.“ (S. 124) Dazu nennt Fleck als Beispiel auch das Werk der 2014 mit 90 Jahren verstorbenen US-amerikanischen Malerin Elaine Sturtevant, das aus konstruktiven Kopien Wahrhols und Beuys’ besteht. In ihren letzten Lebensjahren machte Sturtevant Videokunst mit lauter Tonspur. Sie wurde berühmt und war blind. Für Ende 2015 und Anfang 2016 plante Robert Fleck mit bekannten zeitgenössischen Künstlern eine Ausstellung im Grand Palais in Paris zum Thema Sehen und Nichtsehen. Er ging von der Blindheit als einem „übersehenen“ Motiv der bildenden Kunst aus. Die Ausstellung kam nicht zustande aufgrund der Kontroverse mit einem Behindertenverein. Leider erfährt man dazu nichts Genaueres, aber da aus dem Ausstellungsprojekt Flecks Vorlesung und Buch entstand, bleibt die inhaltliche Auseinandersetzung zugänglich. Flecks vielfältige, sensible und konkrete Darstellung der Wahrnehmungen aller Art bezieht sich außerdem auf den blinden Fotografen Evgen Bavcˇar (S. 64), auf Auguste Renoir, dessen Bilder den Tastsinn anregen (S. 76f.), auf Eugène Leroy, dessen Bilder mit unzähligen Ölfarbschichten kaum trocknen und den Geruchssinn aktivieren (S. 92), auf Wolfgang Laib und dessen fragile Blütenstaubhaufen (S. 98), auf Rosmarie Trockel, deren schulische Einstufung als „legasthenisch“ (S. 127) die Veranlassung zum beständigen Zeichnen war, gefolgt von einem Kapitel über Einfluss, Sinn und Unsinn von Drogen in der Kunst. Wer eine Ausstellung besucht, betrachtet Bilder. Die Ausstellungsräume sind meistens gut klimatisiert; wenn es dennoch riecht, kann es eben sein, dass die Farbe noch nicht trocken ist. (Rembrandt soll schön doppeldeutig gesagt haben: „Stecke deine Nase nicht zu tief in meine Bilder, sonst vergiftest du dich mit dem Geruch der Farbe.“) In den Räumen ist es meistens still, wenn dennoch Stimmen zu hören sind, stammen sie vielleicht von einer Videoinstallation. Manchmal ist auch ein Schild angebracht: „Bitte nicht berühren“. Wer in eine Ausstellung geht, sieht also nicht nur Bilder, sondern es ist mehr und mehr damit zu rechnen, dass die Kunst mit allen Sinnen experimentiert. Picasso soll gesagt haben, die Malerei sei ein „Beruf für Blinde“, denn er male nicht, was er sehe, sondern was er empfinde. Für die Ausstellung von Max Liebermanns Werk in Bonn wurde sein Garten am Berliner Wannsee auf dem Flachdach der damals von Fleck geleiteten Bundeskunsthalle teilweise rekonstruiert. Bei Führungen für Blinde konnten diese die Blumen zuerst betasten, und durch die Beschreibungen bildeten sie sich dann eine Vorstellung von den Bildern Liebermanns. Fleck fragt: „In welcher Hinsicht helfen uns die künstlerischen Beispiele, den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung im eigenen Alltag zu erfassen? “ (S. 128) Die Antwort lautet, dass man abnehmende oder geringer funktionierende Sinne nicht gleich als „abnorm“ einordnen, sondern ihrer differenzierten Gewichtung gemäß produktiv nutzen könne. Die Akzeptanz der künstlerischen Möglichkeiten beinhaltet eine Revision des Begriffs des „Handicaps“. Der Umgang mit behinderten Menschen habe sich geändert, nicht zuletzt erkennbar an den öffentlich und ästhetisch markanten Leitsystemen. Sorglos unterstellt Fleck zum Schluss, dass im digitalen Zeitalter durch Wahrnehmungstechnologien Behinderungen „aufgehoben“ würden. Dr. Christian Mürner D-22529 Hamburg DOI 10.2378/ vhn2017.art32d