eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 86/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
101
2017
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Das Provokative Essay: Wo bleibt die Lehrergesundheit?

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2017
Morena Lauth
Gerhard W. Lauth Lauth
Im vorliegenden Provokativen Essay wird der Frage nachgegangen, was die gegenwärtigen Inklusionsanstrengungen für die psychische Lehrergesundheit bedeuten. Hierfür werden aktuelle Befunde aus der Lehrerbelastungsforschung zusammengetragen und die vielfältigen Entstehungsbedingungen von stressassoziierten Erkrankungen beleuchtet. Von den verschiedenen Risikofaktoren der Lehrerbelastung wird der Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten als einer der führenden ausgewiesen; die psychischen Langzeitfolgen aufseiten der Lehrkräfte sind weithin anerkannt und empirisch gut belegt. Daher wird in der Inklusion von sozial-emotional beeinträchtigten bzw. verhaltensauffälligen Kindern eine gesundheitliche Herausforderung ersten Ranges erkannt. Als ursächlich für diese spezifischen Beanspruchungsmuster wird eine Diskrepanz von Anforderungen und Bewältigungsressourcen angenommen. Neben strukturellen und systemisch angelegten Unterstützungsmaßnahmen fehlt es vielfach an einer angemessenen Vorbereitung auf den Schul- und Unterrichtsalltag mit verhaltensauffälligen und aufmerksamkeitsschwachen Kindern. Daher wird in diesem Beitrag eine aktive und vorausschauende Verhaltenslenkung nahegelegt und deren positive Wirkung auf die Lehrergesundheit dokumentiert.
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277 VHN, 86. Jg., S. 277 -284 (2017) DOI 10.2378/ vhn2017.art33d © Ernst Reinhardt Verlag Wo bleibt die Lehrergesundheit? Psychische Belastungen im Lehrerberuf als Thema für den Inklusionsdiskurs Morena Lauth, Gerhard W. Lauth Universität zu Köln Zusammenfassung: Im vorliegenden Provokativen Essay wird der Frage nachgegangen, was die gegenwärtigen Inklusionsanstrengungen für die psychische Lehrergesundheit bedeuten. Hierfür werden aktuelle Befunde aus der Lehrerbelastungsforschung zusammengetragen und die vielfältigen Entstehungsbedingungen von stressassoziierten Erkrankungen beleuchtet. Von den verschiedenen Risikofaktoren der Lehrerbelastung wird der Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten als einer der führenden ausgewiesen; die psychischen Langzeitfolgen aufseiten der Lehrkräfte sind weithin anerkannt und empirisch gut belegt. Daher wird in der Inklusion von sozial-emotional beeinträchtigten bzw. verhaltensauffälligen Kindern eine gesundheitliche Herausforderung ersten Ranges erkannt. Als ursächlich für diese spezifischen Beanspruchungsmuster wird eine Diskrepanz von Anforderungen und Bewältigungsressourcen angenommen. Neben strukturellen und systemisch angelegten Unterstützungsmaßnahmen fehlt es vielfach an einer angemessenen Vorbereitung auf den Schul- und Unterrichtsalltag mit verhaltensauffälligen und aufmerksamkeitsschwachen Kindern. Daher wird in diesem Beitrag eine aktive und vorausschauende Verhaltenslenkung nahegelegt und deren positive Wirkung auf die Lehrergesundheit dokumentiert. Schlüsselbegriffe: Lehrerbelastung, Verhaltensstörungen, Burnout, Verhaltenslenkung, Inklusion What About Teacher Health? Psychological Stress in Teaching Profession as a Topic for the Discourse on Inclusion Summary: To provoke an empirically informed discussion on current inclusion endeavours in German schools, the present essay seeks to discuss its consequences for teachers’ mental health. For this reason, empirical studies of teachers’ burnout are reviewed together with recent literature on the origins of stress-associated disorders. From the different sources of teacher strain, the experience of students’ misconduct and disruptive behaviour is among the principle ones. Therefore, the inclusion of students with emotional and behavioural special needs has been repeatedly recognized as a major complexity for teacher health. According to the classical transactional model of stress, teacher strain emerges from the discrepancy between inclusion demands and the scarce availability of coping resources. Besides insufficient structural support, the preparation of teachers for behaviour and classroom management under inclusive conditions is yet limited. As a result, the development of self-efficacy, sense of confidence, and proficiency as well as functional stress management might be restricted. Overall, the present essay emphasizes a proactive and anticipatory behaviour management approach and provides corroborating evidence. Keywords: Teacher strain, behavioural disorders, burnout, behaviour modification, inclusion DAS PROVOK ATIVE ESSAY VHN 4 | 2017 278 MORENA LAUTH, GERHARD W. LAUTH Inklusion: Wo bleibt die Lehrergesundheit? DAS PROVOK ATIVE ESSAY Problemstellung Im vorliegenden Beitrag werden die prädisponierenden und protektiven Bedingungen von seelischen Gesundheitsproblemen im inklusiven Schul- und Unterrichtsalltag diskutiert. Sowohl Lehrkräfte als auch Schulkinder stehen strukturellen und teils noch eher experimentellen Veränderungen gegenüber, deren psychische Langzeitfolgen noch nicht absehbar sind. Allerdings lassen kinder- und jugendpsychiatrische Anmerkungen zu den sozial-emotionalen und entwicklungspsychopathologischen Problemdimensionen der Inklusion bereits jetzt aufhorchen und auf weiterführenden psychotherapiewissenschaftlichen und pädagogischen Forschungs- und Handlungsbedarf schließen (Warnke 2015; Fegert/ Schepker 2014). Insofern bedeutet Inklusion für die Schulkinder eine Herausforderung und ist bisweilen sogar klinisch bedenklich, aber vor allem stellt sie die Lehrkräfte vor neue und vielfach belastende berufliche Anforderungen. Daher zielt dieser Beitrag darauf ab, die Lehrergesundheit stärker in das Blickfeld der gegenwärtigen Inklusionsanstrengungen zu rücken. Seit den Inklusionsbeschlüssen sind an Regelschulen zunehmend mehr seelisch belastete und sozial auffällige Kinder mit sozial-emotionalem Förderbedarf anzutreffen. Sie zeigen ausgeprägte und anhaltende psychische Auffälligkeiten, denen nicht selten auch klinisch manifeste Störungen aus dem internalisierenden oder expansiven Formenkreis zugrunde liegen (Opp u. a. 2006). Gerade im sozial-emotionalen Förderschwerpunkt werden erhebliche Herausforderungen berichtet und die schulischen Inklusionsbestrebungen nicht immer von ausreichenden pädagogischen Ressourcen getragen (Ellinger/ Stein 2012). Infolgedessen sehen sich die Lehrkräfte mit grundlegend veränderten und heterogenen Anforderungen konfrontiert, die im diametralen Gegensatz zu den noch geringen Bewältigungsressourcen stehen. Demnach vergrößert sich die Diskrepanz von beruflichen Anforderungen und Ressourcen stetig und geht mit der klassischen Stressdefinition konform (Lazarus/ Folkman 1984). Entstehungsbedingungen und Erscheinungsformen von seelischen Belastungen im Lehrerberuf Psychische Gesundheitsprobleme wie etwa affektive, reaktive oder somatoforme Störungen sind deutschlandweit die zweithäufigste Ursache von krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit und seit 2006 stark angestiegen (Kordt 2015). Sie sind verantwortlich für jeden siebten krankheitsbedingten Fehltag und tragen damit zu einem großen Teil zu beruflichen Erwerbs- und Leistungsminderungen und gesundheitlich begründeten Frühberentungen bei (Bundespsychotherapeutenkammer 2015). Zwar sind psychische Beeinträchtigungen ein weit verbreitetes Gesundheitsproblem, die Gruppe der Lehrkräfte ist davon aber überzufällig häufig betroffen (Scheuch u. a. 2015). Verglichen mit anderen Beamten tragen Lehrkräfte das höchste Risiko für eine psychisch begründete Frühpensionierung, woran die steigenden Anforderungen einen entscheidenden Anteil haben (Weber u. a. 2014). Als die führenden prädisponierenden Entstehungsbedingungen von stressassoziierten Erkrankungen werden anhaltende berufliche Beanspruchungen angenommen, die auf geringe Bewältigungsressourcen treffen (Lazarus/ Folkman 1984). Genau diese Risikokonstellation zeichnet sich im Lehrerberuf ab, wo den hohen Inklusionsanforderungen noch weitgehend unzureichende Ressourcen gegenüberstehen (Hedderich/ Hecker 2009). Neben der erforderlichen strukturellen und personellen Ausstattung mangelt es vielfach auch an vorbereitenden Wissens- und Handlungsressourcen, die auf das veränderte Aufgabenprofil von Lehrkräften zuge- VHN 4 | 2017 279 MORENA LAUTH, GERHARD W. LAUTH Inklusion: Wo bleibt die Lehrergesundheit? DAS PROVOK ATIVE ESSAY schnitten sind. Ohne diese protektiven Ressourcen ist aber ein Anstieg der Lehrerbelastung zu erwarten, der sich im anglo-amerikanischen Raum bereits abgezeichnet und vielfach bestätigt hat (Brunsting u. a. 2014; Brackenreed 2008). In den USA verlassen beispielsweise knapp 50 % der inklusiv tätigen Lehrkräfte bereits nach fünf Jahren den Schuldienst (Klaus 2013). Umgekehrt greifen beruflich kompetente Lehrkräfte eher auf die von ihnen als wirksam erlebten Bewältigungsstrategien zurück und erleben Belastungen daher als weniger bedrohlich (Klusmann u. a. 2012). Sozial-emotionale Inklusionsanforderungen als gesundheitliche Belastungsbedingung Gerade der Umgang mit sozial-emotional auffälligen Kindern stellt Lehrkräfte vor ganz erhebliche Herausforderungen. Pädagogische und didaktische Ressourcen allein sind kaum mehr ausreichend, um dem Förderbedarf dieser Kinder gerecht zu werden und ihr teils auffälliges bzw. abweichendes Verhalten zu regulieren. Nicht selten bringen diese Verhaltensauffälligkeiten erhebliche Disziplinprobleme mit sich, die Lehrkräfte am Unterrichten hindern. Dermaßen auffällige Schüler beteiligen sich kaum am Unterricht, weil dieser für sie oftmals keinen Anreiz mehr besitzt und als aversiv erlebt wird. Meist blicken sie auf eine Lerngeschichte voller Misserfolge und Abwertungen und eine insgesamt negative Verstärker- und Belohnungsbilanz zurück. Infolgedessen ist ihre Erwartung an die Schule und den Unterricht gering; die geforderten Anstrengungen sind in den Augen der betroffenen Kinder nicht lohnenswert. Ihr Handeln ist kaum noch auf positive und sozial akzeptierte Ziele ausgerichtet, sondern hauptsächlich auf das Vermeiden von weiteren Misserfolgen. Dafür werden auch Unterrichtsstörungen, das Umgehen von Anforderungen und das Hineinziehen der Lehrkraft in eine negative Interaktionsspirale angewendet. Zur erfolgreichen Inklusion von Kindern mit sozial-emotionalem Förderbedarf sind daher verhaltensdiagnostische und verhaltensmodifizierende Fertigkeiten gefragt, die aber bislang noch kaum systematisch vermittelt werden. Für viele Lehrkräfte bringt die Inklusion deshalb erhöhte Belastung und mehr Beanspruchung mit sich (Erbring 2012). Anders als die körperlich-motorische ist die sozial-emotionale Barrierefreiheit kaum mittels technischer Lösungen machbar und stellt hohe Anforderungen an eine funktionale unterrichtliche Situations- und Beziehungsgestaltung. Dazu gehört auch der Umgang mit störendem und nicht selten auch aggressivem und oppositionellem Verhalten von sozial-emotional auffälligen Schulkindern. Lehrkräfte berichten von Beleidigungen, Kränkungen oder sogar körperlichen Bedrohungen (Ervasti u. a. 2012; Forsa 2016; Bauer 2009). Insofern wird die sonderpädagogische Entwicklungsförderung dieser Kinder als berufliche Beanspruchung ersten Ranges diskutiert. Viele Lehrkräfte empfinden das Problemverhalten als nahezu unkontrollierbar und willkürlich und leiden darunter, weil es ihren Unterricht unterbricht und ihnen die Handlungssicherheit und oft genug die Selbstwirksamkeitserwartung nimmt. Langfristig verdichten sich solche Einzelerfahrungen zu Hilflosigkeitsüberzeugungen und Selbstwertdefiziten (Skaalvik/ Skaalvik 2010; Klusmann u. a. 2012). Deshalb ist es wichtig, den inklusiven Blick auch auf die Lehrerschaft zu richten, denn in kaum einer anderen Berufsgruppe sind stressassoziierte Erkrankungen wie etwa Burnout so stark verbreitet. Verhaltens- und Unterrichtsstörungen tragen dazu in ganz besonderer Weise bei. Warum kippt der Unterricht, wenn verhaltensauffällige Schüler hinzutreten? VHN 4 | 2017 280 MORENA LAUTH, GERHARD W. LAUTH Inklusion: Wo bleibt die Lehrergesundheit? DAS PROVOK ATIVE ESSAY n Bei unauffälligen Schulkindern kommen die Lehrkräfte mit ihrem vorhandenen Bestand an Lösungsmöglichkeiten aus. n Bei Schülern mit sozial-emotionalen Beeinträchtigungen indes sieht die Situation anders aus: sie teilen den impliziten Konsens nicht und weichen öfter von der Erwartung ab. Reaktive und „bestrafende“ Maßnahmen verfehlen deshalb ihre Wirkung, weil sie keinen Informationswert für sie haben. Vereinfacht gesagt fehlt es diesen Schulkindern nicht an Bestrafung, sondern an Belohnung. Darunter sind positive und verhaltensstrukturierende Anleitung, Zuwendung, Lob und ermutigende Rückmeldungen zu verstehen. Hingegen verfehlen Bestrafungen nicht nur ihre Wirkung, sondern wirken in der Regel problemverschärfend. Denn sie setzen einen Mechanismus in Gang, den der Verhaltensforscher Patterson in den 1980er Jahren als „interaktives Zwangsverhalten“ charakterisiert hat (Patterson 1982). Es ist der Versuch, die Auffälligkeiten mittels Bestrafung zu kontrollieren, also das gewünschte Benehmen durch Zurückweisung von normwidrigem Verhalten zu fördern; Lehrkraft und Schüler konkurrieren dabei um die negative Kontrolle des jeweils anderen. Kontrolle und Gegenkontrolle rechtfertigen sich wechselseitig und enden zumeist in einer Eskalation. Allerdings ist diese negative Kaskade nicht den Lehrkräften anzulasten, da sie kaum auf die Inklusion vorbereitet und nicht ausreichend mit den notwendigen Handlungskompetenzen ausgestattet werden. Besonders gefährdet für Burnout sind Lehrkräfte, die sich bevorzugt an ihrer Gefühlslage orientieren. Sie nehmen eine „emotionale Beweisführung“ (Beck u. a. 1979) vor, indem sie bspw. den Ärger und die Kränkung, die sie empfinden, wenn ein Schüler sich patzig und herabwürdigend benimmt, als Beweis für die Problematik des Schüler bzw. seines Benehmens interpretieren. Besser und gesünder wäre es aber, das schwierige Verhalten aufzuschlüsseln und in seinem Ablauf zu sehen. Im Falle der emotionalen Beweisführung entfällt dies, und das aufkommende Gefühl wird zum Maßstab. Erstmalig und auf breiter Forschungsbasis wurde dieser Zusammenhang von Aloe u. a. (2014) untersucht. Dafür wurden insgesamt 19 aussagekräftige Einzelstudien anhand von strengen forschungsmethodischen Kriterien ausgewählt und ihre Ergebnisse meta-analytisch ausgewertet. Alle Einzelstudien haben eine ähnliche Methodik verwendet und sind daher vergleichbar; die Lehrerbelastung und die Verhaltensauffälligkeiten wurden jeweils mittels einheitlicher und standardisierter Maße erhoben. Die Frage war, wie das auffällige Schülerverhalten mit Burnout zusammenhängt. Burnout wird dabei als emotionale Erschöpfung (Müdigkeit, verringerte Leistungsfähigkeit), Depersonalisation (Reizbarkeit, Misstrauen) und Erleben von Misserfolg (Gefühle beruflicher Ineffizienz, Sinnlosigkeit) definiert. Im Ergebnis hängt das problematische Schülerverhalten signifikant mit allen drei Bereichen des Burnouts zusammen, am meisten aber mit der emotionalen Erschöpfung der Lehrkräfte. Warum wirkt das problematische Verhalten so belastend? Warum wird das Unterrichten in der Klasse manchmal durch einen Schüler so erschwert? Insgesamt legen die aktuellen Forschungsergebnisse eine Schwellentheorie zur Erklärung nahe (vgl. Lauth-Lebens / Lauth 2016). Demnach gehen von den gewohnten Unterrichtsproblemen eher wenig Belastungen aus, welche die Lehrkräfte erfolgreich mithilfe ihrer lerngeschichtlich erworbenen und erfahrungsgebundenen Handlungs- und Bewältigungsressourcen meistern. Von einem gewissen Anforderungsgrad an wird aber die kritische Schwelle dieser verfügbaren Bewältigungsressourcen überschritten und die unterrichtliche Belastung nicht mehr funktional verarbeitet. Für die neuen Inklusionsanforderungen sind noch wenig Bewältigungsressourcen vorhanden und speziell die bisherigen VHN 4 | 2017 281 MORENA LAUTH, GERHARD W. LAUTH Inklusion: Wo bleibt die Lehrergesundheit? DAS PROVOK ATIVE ESSAY und von subjektiven Theorien getragenen Strategien nur eingeschränkt generalisierbar und tendenziell fehlangepasst. Sie stehen nicht mehr mit den veränderten situativen Anforderungen im Einklang und einer funktionalen und adaptiven Problemlösung von schwierigen Unterrichtssituationen entgegen. Stattdessen wird die Erklärung hierfür in Eigenschaften der auffälligen Schulkinder gesucht und personenintern festgeschrieben (z. B. „Michael kann im gegebenen Rahmen nicht unterrichtet werden“). Insofern werden die schwierigen Unterrichtssituationen oftmals mit überdauernden und schwer veränderbaren Personen- oder Umgebungsmerkmalen begründet und selten als interaktionelles Prozessgeschehen abgebildet. Allen Begründungen gemeinsam ist die Überzeugung, dem Problemverhalten hilflos gegenüberzustehen und keine Kontrolle über die Situation mehr zu haben. Insgesamt nehmen die befragten Lehrkräfte personenintern festgeschriebene oder sozial determinierte Bedingungen als ursächlich für die berichteten Probleme an. Sie werden als unveränderbar eingestuft und außerhalb des eigenen Handlungsspielraums verortet. Auf diese Begründungen hin folgen Maßnahmen, deren Erfolgsquote von den Lehrkräften selbst als eher gering eingeschätzt wird (28,6 %; vgl. Lauth u. a. 2015). Wiederholte Misserfolgserlebnisse und ungünstige Kontrollüberzeugungen werden als Hochrisikofaktoren für Burnout diskutiert (Skaalvik/ Skaalvik 2010). Praktische Schlussfolgerungen: Psychische Lehrergesundheit als Vorbedingung und Ergebnis gelingender Inklusionsprozesse Was ist zu tun? Offensichtlich ist zur effektiven und gesundheitsförderlichen Umsetzung der Inklusionsziele ein umfassender Wandel der Unterrichtsorganisation gefragt. Dabei nehmen die folgenden Änderungsprozesse, die v. a. auf der pädagogischen Verhaltensmodifikation beruhen, eine Schlüsselposition ein (Barkley 2016; Lauth-Lebens u. a. 2016). 1. Abwartendes und reagierendes Verhalten führt bei Kindern mit sozial-emotionalem Förderbedarf nicht zum Erfolg. Sie weisen das wünschenswerte Verhalten (sich melden, eine Aufgabe selbstständig lösen, dem Unterricht engagiert folgen usw.) ohne aktive Anleitung zu selten spontan auf. Infolgedessen ist eine vorausschauende und auf positive Ziele hin ausgerichtete Verhaltenslenkung vonnöten. 2. Anwendung von Classroom Management Prinzipien zur Herstellung von geregelten und lernförderlichen Unterrichtsabläufen. Allgemein besteht gelingende Klassenführung in einer vorausschauenden, planvollen und verhaltensorientierten Situationskontrolle. Strukturierte Abläufe, direkte Anleitung und verhaltensnahe Rückmeldungen sind wesentliche Merkmale dafür. 3. Das angesprochene „interaktive Zwangsverhalten“ verschärft Konflikte nachweislich. Lehrkräfte sollen diesen Mechanismus kennen und ihre eigenen Anteile daran aufspüren; die Ursachen für das Problemverhalten werden oft noch zu einseitig beim Schüler gesucht (vgl. Lauth-Lebens u. a. 2016). 4. Es herrscht überwiegend eine „emotionale Beweisführung“ (Beck u. a. 1979) vor, wobei das ausgelöste Gefühl zum Beweis der Verhaltensproblematik angeführt wird („Ich habe mich sehr geärgert, also war das Schülerverhalten auch sehr ungeeignet“). Damit wird eine sachliche Aufschlüsselung des Problemverhaltens erschwert. Was alle hier genannten Änderungen verbindet, ist eine direkte Verhaltens- und Klassenführung im Positiven, die darin besteht, das erwünschte Zielverhalten aktiv anzubahnen und mittels regelhafter Verstärkung zu verste- VHN 4 | 2017 282 MORENA LAUTH, GERHARD W. LAUTH Inklusion: Wo bleibt die Lehrergesundheit? DAS PROVOK ATIVE ESSAY tigen. Für einige mag dieser Begriff eher unpopulär sein, weil er eine direkte Lenkung der schwierigen Schüler zu „Positiv-Zielen“ vorsieht. Pädagogische Bemühungen sind auf Einsicht hin angelegt, wohingegen das Ansetzen am Verhalten als vereinfachend oder abhängigkeitsstiftend gilt. Für verhaltensauffällige Schüler ist das ein fataler Trugschluss, weil ihnen so die notwendige Unterstützung und Hilfe vorenthalten wird. Sie profitieren von verhaltenserleichternden Maßnahmen wie direkter Anleitung und unmittelbarer Rückmeldung. Anstatt auf abweichendes Verhalten zu reagieren, kann positives Verhalten angeleitet und absichtsvoll herbeigeführt werden („catch them at being good“). Im alltäglichen Schul- und Unterrichtsgeschehen sind es die Schulkinder, die über ein weitaus größeres Arsenal an strafenden Verhaltensweisen verfügen und sie auch einsetzen. Mit ihnen um die Bestrafungsmacht zu konkurrieren, ist wenig aussichtsreich. Wer es dennoch versucht, findet sich rasch in einer belastenden Eskalationsspirale aus Kontrolle und Gegenkontrolle wieder. Abschließende Bewertung und Ausblick Zur schulischen Inklusion gibt es gegenwärtig intensive Forschungsbemühungen, die Lehrerbelastung findet dabei aber noch überraschend wenig Beachtung. Bislang wurden die psychischen Beanspruchungen von Lehrkräften kaum als Problemdimension der Inklusionsdebatte erkannt. Umgekehrt beschäftigt sich die Lehrerbelastungsforschung nun vermehrt mit den inklusiven Neuerungsprozessen an und vor allem mit den damit verbundenen psychischen Gesundheitsrisiken. Die hier referierte Forschungsliteratur lässt die mit den Inklusionsanforderungen assoziierten Lehrerbelastungen erahnen und auf die risikoerhöhenden wie förderlichen Bedingungen schließen. Als wesentliche Belastungsbedingungen von Lehrkräften wurden Kränkungserlebnisse und konfliktreiche Interaktionen erkannt (Bauer 2009).Vielfach finden sich diese Bedingungen im sozial-emotionalen Förderbereich und treffen mit weiteren prädisponierenden Risikomerkmalen wie etwa dysfunktionalen Kontroll- und Selbstwirksamkeitserwartungen zusammen. Für die meisten der bisherigen Anforderungssituationen haben Lehrkräfte wirksame Bewältigungsstrategien entwickelt und verfügen über einen ausreichend großen Handlungsspielraum. Sie bewegen sich auf sicherem Terrain und können selbst etwaige Ressourcen- und Fertigkeitsdefizite noch ausgleichen. Unter den Bedingungen der Inklusion werden diese aber freigelegt und die Anforderungsbedingungen mithilfe der kompensatorischen Bewältigungsstrategien kaum mehr erfolgreich bewältigt. Gemäß dem transaktionalen Stressmodell sind die verfügbaren Bewältigungsressourcen wichtiger als das Vorhandensein einzelner Risiken (Beltman u. a. 2011). Ausgehend von solchen ermutigenden Erkenntnissen könnten die protektiven Ressourcen der Lehrkräfte gestärkt und die Inklusionsbedingungen verbessert werden. In der Forschungsliteratur wird die psychische Lehrergesundheit eng mit Unterrichtsklima und Lernerträgen verbunden (McLean/ Connor 2015). Daher ist es nicht illegitim, diese Faktoren als Wirksamkeitsbedingung für die zur Inklusion von sozial-emotional auffälligen Kindern erforderliche Unterrichts- und vor allem Beziehungsgestaltung anzusehen (vgl. Swartz/ McElwain 2012). Gerade Kinder mit Entwicklungsdefiziten sind auf funktionale Verhaltensmodelle und psychisch stabile Lehrkräfte angewiesen. Zusammenfassend gesagt darf Lehrerbelastung nicht zur „Privatsache“ erklärt werden. Vielmehr trägt sie zur schulischen Qualitätssicherung bei und trägt den steigenden beruflichen Beanspruchungen von inklusiv tätigen Lehrkräften entsprechend Rechnung. VHN 4 | 2017 283 MORENA LAUTH, GERHARD W. LAUTH Inklusion: Wo bleibt die Lehrergesundheit? DAS PROVOK ATIVE ESSAY Literatur Aloe, A. M.; Shisler, S. M.; Norris, B. D.; Nickerson, A. B.; Rinker, T. W. (2014): A multivariate metaanalysis of student misbehavior and teacher burnout. In: Educational Research 12, 30 -44. https: / / doi.org/ 10.1016/ j.edurev.2014.05.003 Barkley, R. 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