eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 86/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
5
0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2017.art04d
11
2017
861

Fachbeitrag: Zur Variabilität adaptiver Kompetenzen von Erwachsenen mit geistiger Behinderung

11
2017
Dagmar Orthmann Bless
Carmen Zurbriggen
Adaptive Kompetenzen sind erlernte konzeptuelle, soziale und praktische Fähigkeiten, die viel stärker als die Intelligenz auf die praktische Lebensbewältigung im Alltag fokussiert sind. Sie bestimmen maßgeblich die persönliche Autonomie sowie die Bewältigung alters- und kulturtypischer gesellschaftlicher Anforderungen und sind damit zentral für die individuelle Lebensqualität. Derzeit fehlen im deutschsprachigen Raum insbesondere Kenntnisse über adaptive Kompetenzen von Erwachsenen mit geistiger Behinderung. Vorgestellt werden Erfahrungen und erste Ergebnisse zum Assessment adaptiver Kompetenzen mittels einer deutschen (Erst-)Version des international anerkannten Verfahrens ABAS II bei 300 Erwachsenen mit geistiger Behinderung. Die Ergebnisse werden hinsichtlich ihres pädagogischen Nutzens, auch im Vergleich zur Diagnostik kognitiver Kompetenzen (Intelligenz), diskutiert.
5_086_2017_1_0005
41 VHN, 86. Jg., S. 41 -55 (2017) DOI 10.2378/ vhn2017.art04d © Ernst Reinhardt Verlag Zur Variabilität adaptiver Kompetenzen von Erwachsenen mit geistiger Behinderung Dagmar Orthmann Bless, Carmen Zurbriggen Universität Freiburg/ Schweiz Zusammenfassung: Adaptive Kompetenzen sind erlernte konzeptuelle, soziale und praktische Fähigkeiten, die viel stärker als die Intelligenz auf die praktische Lebensbewältigung im Alltag fokussiert sind. Sie bestimmen maßgeblich die persönliche Autonomie sowie die Bewältigung alters- und kulturtypischer gesellschaftlicher Anforderungen und sind damit zentral für die individuelle Lebensqualität. Derzeit fehlen im deutschsprachigen Raum insbesondere Kenntnisse über adaptive Kompetenzen von Erwachsenen mit geistiger Behinderung. Vorgestellt werden Erfahrungen und erste Ergebnisse zum Assessment adaptiver Kompetenzen mittels einer deutschen (Erst-)Version des international anerkannten Verfahrens ABAS II bei 300 Erwachsenen mit geistiger Behinderung. Die Ergebnisse werden hinsichtlich ihres pädagogischen Nutzens, auch im Vergleich zur Diagnostik kognitiver Kompetenzen (Intelligenz), diskutiert. Schlüsselbegriffe: Adaptive Kompetenzen, geistige Behinderung, Intelligenz, Assessment, Erwachsene On the Variability of Adaptive Behavior Among Adults With Intellectual Disabilities Summary: Adaptive behavior consists of learned conceptual, social, and practical skills that are much stronger focused on functioning in everyday life than intelligence. They substantially determine personal autonomy as well as the accomplishment of typical age-related and culture-specific social requirements and thus are crucial for the individual quality of life. At present, especially research on the adaptive behavior of adults with intellectual disabilities is lacking in German speaking countries. First results on the assessment of adaptive behavior are presented. Data was collected from a sample of 300 adults with intellectual disabilities using a German (preliminary) version of the internationally recognized instrument ABAS II. Results are discussed in terms of educational benefit and in comparison to the diagnostic of cognitive abilities (intelligence). Keywords: Adaptive behavior, intellectual disability, intelligence, assessment, adults FACH B E ITR AG 1 Konzept der adaptiven Kompetenzen Adaptive Kompetenzen (im englischen Sprachraum: adaptive behavior) sind erworbene konzeptuelle, soziale und praktische Fähigkeiten, die Menschen in die Lage versetzen, Anforderungen des täglichen Lebens möglichst autonom zu bewältigen (Tassé 2013). Sie umfassen z. B. Fähigkeiten der Kommunikation, der Orientierung in der Gemeinschaft, im häuslichen Leben, in Bezug auf Gesundheit und Sicherheit. Adaptive Kompetenzen werden international übereinstimmend als zentrales Definitionskriterium - neben der Intelligenz - für geistige Behinderung (intellectual disability) aufgeführt (z. B. AAIDD 2010; APA 2013 a). VHN 1 | 2017 42 DAGMAR ORTHMANN BLESS, CARMEN ZURBRIGGEN Variabilität adaptiver Kompetenzen FACH B E ITR AG 1.1 Entstehungsgeschichte Das Konzept der adaptiven Kompetenzen wurde in den 1930er Jahren unter der Bezeichnung social competence eingeführt und als die funktionale Fähigkeit des Menschen charakterisiert, persönliche Autonomie und soziale Verantwortung wahrnehmen zu können (Doll 1953, zit. nach Tassé 2013). In den späten 1950er Jahren wurde es von der American Association on Intellectual and Developmental Disabilities (AAIDD, damals AAMR) als Bestandteil des Konzeptes von intellectual disability aufgenommen, nun unter der Bezeichnung adaptive behavior. Die zugrunde liegende Definition von Heber (1959) bezeichnet adaptive Kompetenzen als „the effectiveness with which the individual copes with the natural and social demands of his environment. It has two major facets: (1) the degree to which the individual is able to function and maintain himself independently, and (2) the degree to which he meets satisfactorily the culturally-imposed demand of personal and social responsibility.“ (ebd., 61) Die Referenzpunkte des Ausmaßes an persönlicher Autonomie sowie der Bewältigung alters- und kulturtypischer gesellschaftlicher Anforderungen im Hinblick auf die alltägliche Lebensgestaltung bilden seither und bis heute den konzeptionellen Kern des Konstruktes. Auch die Mehrdimensionalität der adaptiven Kompetenzen sowie ihre heute übliche Unterteilung in die drei Bereiche praktische, konzeptuelle und soziale Kompetenzen geht auf Heber (1959) zurück. 1.2 Verhältnis von Intelligenz und adaptiven Kompetenzen Intelligenz und adaptive Kompetenzen sind Konstrukte, die seit ihrer Entstehung miteinander verwoben sind. Einer der Väter der Intelligenzdiagnostik, Alfred Binet, benutzte beispielsweise das Adaptations-Konzept in seiner Definition von Intelligenz (Binet/ Simon 1905). Auch die triarchische Intelligenztheorie von Sternberg (1985) fasst analytische und praktische Kompetenzen in einem Intelligenzkonzept, bestehend aus drei Subtheorien, zusammen, wobei die Fähigkeit, sich in seine Umwelt einzugliedern, soziale Kontakte angemessen zu gestalten und kulturelle Normen zu befolgen als Teilaspekt intelligenten Verhaltens aufgefasst wird. Während ursprünglich teilweise davon ausgegangen wurde, dass intellektuelle Beeinträchtigung sich in Defiziten des adaptiven Verhaltens manifestiert, betrachtet man Intelligenz und adaptive Kompetenzen heute als zwei eigenständige, zwar miteinander verbundene, aber deutlich unterscheidbare Konstrukte. Aktuell werden unter dem Konzept der Intelligenz eher die generelle (latente) geistige Kapazität bzw. die „klassisch-analytische“ Fähigkeit (Nußbeck 2008, 10) im Sinne grundlegender Fähigkeiten, abstrakt-logisch zu denken, zu planen, Probleme zu lösen usw. verstanden (vgl. z. B. Gottfredson 1997, 13). Das Konzept der adaptiven Kompetenzen fokussiert hingegen stärker auf die tatsächliche Alltagsbewältigung im Sinne der aktuellen Performanz in konkreten Situationen. Adaptive Kompetenzen und Intelligenz unterscheiden sich nach gegenwärtigem Erkenntnisstand auch im Hinblick auf die Beeinflussbarkeit. Praktische Erfahrungen zeigten schon früh, dass es besser möglich war, durch pädagogische Interventionen einen Zuwachs an adaptiven Kompetenzen zu erzielen als die Intelligenz im Sinne einer latenten mentalen Fähigkeit zu beeinflussen. Empirische Studien bestätigten, dass durch individuell angepasste Interventionen eine Verbesserung von Alltagskompetenzen mit positiven Auswirkungen auf die Lebensbewältigung möglich ist (z. B. Bouck 2010). Positive Effekte auf alltagsrelevante Kompetenzen gingen z.B. auch mit Deinstitutionalisierungsprozessen einher (z. B. Lakin u. a. 2011). VHN 1 | 2017 43 DAGMAR ORTHMANN BLESS, CARMEN ZURBRIGGEN Variabilität adaptiver Kompetenzen FACH B E ITR AG 1.3 Assessment adaptiver Kompetenzen Seit der Veröffentlichung des ersten Messinstruments - der Vineland Social Maturity Scale (Doll 1936) - haben sich die Instrumentarien zur Beurteilung adaptiver Kompetenzen in Qualität und Quantität weiterentwickelt. Geblieben ist die bereits mit dem ersten Instrument verknüpfte Absicht, die für eine Person typische Performanz in alltagsrelevanten Situationen zu messen, nicht die maximale Fähigkeit. Es können grundsätzlich zwei Anwendungsbereiche für die Beurteilung adaptiver Kompetenzen voneinander unterschieden werden: (a) die Diagnosestellung einer geistigen Behinderung (etwa im Zusammenhang mit der Klärung von Anspruchsberechtigungen für Hilfesysteme) und (b) das individuelle Assessment im Rahmen von Hilfeplanung und Unterstützung. Die derzeit verfügbaren Messinstrumente unterscheiden sich z. B. in Bezug auf ihre Standardisierung und ihre Normierung; einige sind an der Gesamtpopulation normiert, andere an Subpopulationen von Personen mit intellektuellen Beeinträchtigungen und Entwicklungsbesonderheiten. Auch die Altersbereiche, für welche die Instrumente anwendbar sind, variieren. Aufgrund ihrer jeweiligen Merkmale sind einige Verfahren für die beiden oben genannten Anwendungsbereiche gleichermaßen oder eher für einen der beiden Bereiche besser geeignet (für eine Übersicht vgl. Tassé 2013). Ein besonders interessantes, variabel einsetzbares Instrument ist das Adaptive Behavior Assessment System II (ABAS II; Harrison/ Oakland 2008) (vgl. Kap. 5.2). 2 Bedeutung der adaptiven Kompetenzen und ihres Assessments für Erwachsene mit geistiger Behinderung Die zentrale Bedeutung der adaptiven Kompetenzen für Erwachsene mit geistiger Behinderung ergibt sich aus den beiden Facetten des Konzeptes, nämlich ihrem Beitrag zur persönlichen Autonomie sowie zur Bewältigung gesellschaftlicher Anforderungen im Hinblick auf die alltägliche Lebensgestaltung - und damit zur Verbesserung der individuellen Lebensqualität. Diese Referenzpunkte finden sich auch in den aktuellen Leitbildern der Sonderpädagogik. Aktuell prägende Leitbilder der Sonderpädagogik sind v. a. Normalisierung, Selbstbestimmung, Empowerment, Integration, Inklusion, Partizipation und Lebensqualität (vgl. Hedderich u. a. 2016). In ihrer Konsequenz geht es letztlich um die Qualität der Unterstützung und die Ausgestaltung entsprechender Hilfestrukturen für Menschen mit Behinderung. Auf Ebene der Individuen steht - und das ist den genannten Leitbildern gemeinsam - die Berücksichtigung persönlicher Bedürfnisse im Kontext der jeweiligen Lebenssituation im Fokus (vgl. auch Beck/ Greving 2012). Es geht darum, Handlungsspielräume zu erweitern und Lebensqualität zu verbessern. Das Assessment individueller Kompetenzen, insbesondere jener, die in konkreten alltäglichen Situationen relevant sind, bildet eine zentrale Grundlage für eine adäquate Unterstützung. Aus pädagogischer Sicht ergibt sich der Unterstützungsbedarf des Einzelnen vor allem aus seinen individuellen Entwicklungszielen sowie dem aktuellen diesbezüglichen Kompetenzprofil. Besonders im Erwachsenenbereich fehlen bisher Instrumente, die letztgenanntes differenziert und in geprüfter Qualität messen können. 3 Zielsetzung Standardisierte Verfahren zum Assessment adaptiver Kompetenzen im Allgemeinen und das Adaptive Behavior Assessment System II (ABAS II, Harrison/ Oakland 2008) im Speziellen sind im deutschsprachigen Raum noch weitgehend unbekannt. Nach unseren Recherchen arbeitet zurzeit eine Forschergruppe des Zentrums für Diagnostik und Förderung (Ze- VHN 1 | 2017 44 DAGMAR ORTHMANN BLESS, CARMEN ZURBRIGGEN Variabilität adaptiver Kompetenzen FACH B E ITR AG DIF) der Universität zu Köln an einer deutschen Normierung des ABAS II für Kinder und Jugendliche. Bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung wird dieses Verfahren offenbar bisher weder im Rahmen von Diagnosestellungen noch für die Bestimmung des individuellen Unterstützungsbedarfs systematisch eingesetzt. Somit besteht unser übergreifendes Ziel zunächst darin, die Anwendungsmöglichkeiten dieses Instrumentariums für Erwachsene mit geistiger Behinderung im deutschsprachigen Raum auszuloten. Es sollen erste Ergebnisse zum Assessment adaptiver Kompetenzen von geistig behinderten Erwachsenen dargestellt und hinsichtlich ihres pädagogischen Nutzens, auch im Vergleich zur Diagnostik kognitiver Kompetenzen (Intelligenz), diskutiert werden. 4 Fragestellungen Im Rahmen eines explorativen Vorgehens werden folgende Fragestellungen untersucht: (1) Wie sind die kognitiven Kompetenzen von Erwachsenen mit geistiger Behinderung ausgeprägt, und wie sind diese Kompetenzen verteilt? (2) Wie sind die adaptiven Kompetenzen von Erwachsenen mit geistiger Behinderung ausgeprägt, und wie sind diese Kompetenzen verteilt? 5 Forschungsmethodisches Vorgehen 5.1 Stichprobengewinnung Zur Gewinnung einer Stichprobe wurden verschiedene Institutionen aus der Deutschschweiz, welche Erwachsenen mit einer geistigen Behinderung Wohn- und Fördermöglichkeiten anbieten, angefragt. Bei der Auswahl der Teilnehmenden wurde innerhalb der Institutionen auf Repräsentativität bezüglich Alter, Geschlecht und der Ausprägung an Hilfebedarf geachtet. Die ausgewählten Personen wurden mündlich, mit Unterstützung von Piktogrammen oder schriftlich in vereinfachter Sprache über die Untersuchung informiert und um Teilnahme gebeten. Sowohl die Teilnehmenden als auch deren gesetzliche Vertretungen erhielten angemessene Informationen zum Datenschutz und gaben das Einverständnis zur Teilnahme schriftlich. 5.2 Messinstrumente Für die Diagnostik der kognitiven Kompetenzen wurden die Standard Progressive Matrices (SPM) von Raven in der für den deutschen Sprachraum aktuell normierten Form (Horn 2009) ausgewählt. Die SPM sind ein traditionsreiches, weltweit anerkanntes, sprachfreies Verfahren zur Messung der allgemeinen intellektuellen Leistungsfähigkeit. Die Aufgabenstruktur und Ökonomie des Verfahrens lassen eine hohe Akzeptanz durch die Teilnehmenden erwarten. Als Maß für die intellektuelle Leistungsfähigkeit können Standardwerte in Form von T-Werten, IQ-Werten sowie Prozenträngen bestimmt werden. Für die Diagnostik der adaptiven Kompetenzen wird das Adaptive Behavior Assessment System II (ABAS II; Harrison/ Oakland 2008) ausgewählt. Der ABAS II misst Alltagskompetenzen in zehn verschiedenen Dimensionen. Diese Dimensionen können zu den drei Bereichen: konzeptuelle (KON), soziale (SOZ) und praktische (PR) Kompetenzen zusammengefasst werden. Die konzeptuellen Kompetenzen umfassen die Dimensionen Kommunikation, funktionale akademische Fähigkeiten und Selbststeuerung. Die sozialen Kompetenzen bestehen aus den Dimensionen soziale Anpassung und Freizeitverhalten. Die praktischen Kompetenzen umfassen die Dimensionen Orientierung in der Gemeinschaft, Wohnen, Gesundheit und VHN 1 | 2017 45 DAGMAR ORTHMANN BLESS, CARMEN ZURBRIGGEN Variabilität adaptiver Kompetenzen FACH B E ITR AG Sicherheit, Selbstfürsorge sowie Arbeit. Alle Items sind auf einer konkreten Verhaltensebene operationalisiert. Es wird jeweils in standardisierter Weise beurteilt, wie oft die Person eine Verhaltensweise korrekt und ohne Hilfe ausführt, und zwar dann, wenn diese Verhaltensweise angepasst und erforderlich ist. Neben Standardwerten für die einzelnen zehn Dimensionen (auf einer Normskala mit M = 10 und SD = 3) können sog. Mischwerte für die drei Bereiche sowie ein Gesamtwert (general adaptive level = GAL-Wert) bestimmt werden. Die Mischwerte für die drei Bereiche sowie der GAL- Wert als Gesamtmaß für die adaptiven Kompetenzen werden jeweils auf einer Normskala entsprechend üblicher IQ-Skalen (M = 100, SD = 15, Normbereich 85 - 115) gemessen. Der ABAS II besticht (gegenüber Alternativen) u. a. durch folgende Vorteile: Die Unterteilung der Kompetenzen in zehn Dimensionen und deren Gruppierung zu drei Bereichen entspricht der Terminologie und dem Konzept von AAIDD und dem DSM-System der American Psychiatric Association (APA). Der ABAS II ist für Personen von der Geburt bis zum Alter von 89 Jahren anwendbar und an der Gesamtpopulation normiert. Innerhalb der fünf Formen, welche das gesamte Altersspektrum abbilden, sind jeweils Normen für verschiedene Beurteilende vorhanden - z. B. für Eltern, für Fachpersonen oder für die Selbstbeurteilung. Der ABAS II weist gute psychometrische Eigenschaften auf (vgl. Burns 2005). Das Instrument ist sowohl für die Diagnosestellung einer geistigen Behinderung (intellectual disability) als auch für die Feststellung individueller Kompetenzen und Bedarfe geeignet (vgl. z. B. Tassé 2013). Es gibt bisher keine offiziellen deutschsprachigen Formen des ABAS II. Für die vorliegende Untersuchung wurde der ABAS II für Erwachsene im Alter zwischen 16 und 89 Jahren in einer eigenen, bisher unveröffentlichten deutschsprachigen Übersetzung verwendet (Orthmann Bless 2013). Bei deren Erarbeitung konnte auf deutschsprachigen Übersetzungen anderer Formen des ABAS II (Elternversion und Lehrerversion für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene), die bereits in Forschungsprojekten eingesetzt wurden (Sermier Dessemontet u. a. 2012), aufgebaut werden. 5.3 Erhebung, Aufbereitung und Auswertung der Daten Die Erhebung der Daten erfolgte in der Zeit von Mai 2014 bis Dezember 2015. Alle Probanden wurden in der Einzelsituation an ihrem jeweiligen Lebensort untersucht. Die SPM wurden unter Leitung der Autorinnen von wissenschaftlichen Hilfskräften durchgeführt. Die ABAS-Bögen wurden von Fachpersonen aus den Einrichtungen bearbeitet. Die Aufbereitung der Daten sowie deren deskriptivstatistische Auswertung erfolgten mit SPSS. Für die Auswertung der SPM wurden die aktuellen deutschen Normen (Horn 2009) verwendet. Für die Auswertung des ABAS II (eigene deutsche Übersetzung) wurde in Ermangelung deutschsprachiger Normen auf die US-amerikanischen Normen der Originalversion (Harrison/ Oakland 2008) zurückgegriffen. Bei der Interpretation der Ergebnisse muss berücksichtigt werden, dass die Gültigkeit dieser Normen für den deutschsprachigen Raum bisher nicht überprüft wurde. 6 Ergebnisse 6.1 Merkmale der Stichprobe Ausgewählte Merkmale der Stichprobe sind in Tabelle 1 dargestellt. Die Ausgangsstichprobe von 300 Personen umfasst 154 Frauen (51.1 %) und 145 Männer (48.5 %). Das Durchschnittsalter betrug zum Zeitpunkt der Erhebung 40.95 Jahre (SD = 14.90). Die jüngste Person war 18 Jahre alt, die älteste 83. Über ein Drittel VHN 1 | 2017 46 DAGMAR ORTHMANN BLESS, CARMEN ZURBRIGGEN Variabilität adaptiver Kompetenzen FACH B E ITR AG (n = 101) der Teilnehmenden befand sich im jungen Erwachsenenalter (18 - 31 Jahre). Je 23 % (n = 66) waren zwischen 32 und 44 Jahre bzw. zwischen 45 und 57 Jahre alt. Knapp 20 % (n = 54) der Teilnehmenden waren älter als 58. Der überwiegende Teil (n = 272; 92.8 %) der Teilnehmenden besitzt die Schweizer Staatsangehörigkeit (Tab. 1). Die Mehrheit der Teilnehmenden (n = 188; 62.7 %) lebte zum Untersuchungszeitpunkt in stationären Wohnformen. 60 Personen (20 %) besuchten eine Wohnschule, und 10 Personen (3.3 %) wurden ambulant betreut. Von 42 Personen (14.0 %) ist lediglich bekannt, dass sie in einer Institution lebten, aber die Betreuungsform wurde nicht erfasst (Tab. 1). Die beiden größten Gruppen bezüglich der Wohnform, nämlich die stationär betreuten Personen und die Wohnschülerinnen und Wohnschüler, unterscheiden sich im Hinblick auf das Alter. Die Wohnschülerinnen und Wohnschüler sind signifikant jünger (M = 37.25, SD = 12.53) als die stationär betreuten Personen (M = 45.74, SD = 15.26) (t(223) = 10.867, p < .001). 6.2 Ausprägung und Verteilung der kognitiven Kompetenzen Von den 300 Personen der Ausgangsstichprobe wurden bei 267 Personen die kognitiven Kompetenzen mittels der Standard Progressive Matrices (SPM) erfasst. Lediglich bei 34 dieser Personen konnte anhand der entsprechenden Normwerte ein SPM-Standardwert (IQ-Wert) bestimmt werden. Bei den anderen 233 Personen war eine Transformation der Testwerte (Rohwerte) in Standardwerte nicht möglich. Die Testwerte lagen in den unteren 0.13 Prozent der Normalverteilung. Abbildung 1 zeigt die Verteilung der SPM-Standardwerte (IQ-Werte) der 34 Personen. Der tiefste (bestimmbare) IQ-Wert betrug 55, der höchste 100. Bei 2 Personen liegt der IQ-Wert im (statistischen) Normbereich der Intelligenzverteilung (85 - 115), bei 11 Personen im Bereich von ein bis zwei Standardabweichungen unter dem Mittelwert (70 - 84). Diese 13 Teilnehmenden bleiben für die weiteren Auswertungen unberücksichtigt, da ihre intellek- Merkmale n % Alter zum Zeitpunkt der Erhebung 18 -31 Jahre 32 -44 Jahre 45 -57 Jahre 58 -70 Jahre 71 -83 Jahre 101 66 66 49 5 35.2 23.0 23.0 17.1 1.7 Geschlecht weiblich männlich 154 145 51.5 48.5 Nationalität Schweiz Deutschland andere Nationalität 272 9 12 92.8 3.0 4.3 Wohnform stationär betreutes Wohnen Wohnschule ambulant betreutes Wohnen andere 188 60 10 42 62.7 20.0 3.3 14.0 Tab. 1 Ausgewählte Merkmale der Ausgangsstichprobe VHN 1 | 2017 47 DAGMAR ORTHMANN BLESS, CARMEN ZURBRIGGEN Variabilität adaptiver Kompetenzen FACH B E ITR AG tuelle Leistungsfähigkeit nicht dem diesbezüglichen Kriterium einer geistigen Behinderung (IQ < 70) entspricht. 6.3 Ausprägung und Verteilung der adaptiven Kompetenzen Nach Ausschluss von Personen mit IQ-Werten > 69 sowie Personen, deren adaptive Kompetenzen nicht vollständig oder nicht durch eine Fachperson eingeschätzt wurden, verbleibt eine Stichprobe von 268 Probanden. Ausprägung und Verteilung der adaptiven Kompetenzen für diese Stichprobe sind in Tabelle 2 und Abbildung 2 dargestellt. Der mittlere Gesamtwert der adaptiven Kompetenzen (GAL-Wert) beträgt 68.04. Bezugnehmend auf die US-amerikanischen Normen liegt das etwas mehr als zwei Standardabweichungen unter dem Mittelwert. Die mittleren Werte für die Bereiche der konzeptuellen und der praktischen Kompetenzen liegen ebenfalls etwas mehr als zwei Standardabweichungen unter dem Mittelwert. Der Mittelwert für die 10 8 6 4 2 0 55 57 59 61 63 65 67 69 71 73 75 77 79 81 83 85 87 89 91 93 95 97 99 Häufigkeit SPM Standardwerte Abb. 1 Ausprägung und Verteilung der SPM-Standardwerte (IQ-Werte) (n = 34) Merkmal M SD Min Max Gesamtwert Adaptive Kompetenzen (GAL) Konzeptuelle adaptive Kompetenzen (KON) Soziale adaptive Kompetenzen (SOZ) Praktische adaptive Kompetenzen (PR) 68.04 68.89 77.28 67.42 13.59 13.42 11.98 14.24 40 49 54 51 101 102 112 103 Tab. 2 Adaptive Kompetenzen: Mittelwerte und Standardabweichungen für Gesamtwert und drei Bereiche Anmerkung: N = 268 VHN 1 | 2017 48 DAGMAR ORTHMANN BLESS, CARMEN ZURBRIGGEN Variabilität adaptiver Kompetenzen FACH B E ITR AG sozialen Kompetenzen (M = 77.28, SD = 11.98) liegt im Bereich zwischen ein und zwei Standardabweichungen unter dem Mittelwert. Er ist damit signifikant höher als der mittlere GAL-Wert (t(267) = -20.927, p < .001), die Effektstärke fällt allerdings gering aus (η 2 = 0.07). Die untersuchten Personen sind demnach in ihren sozialen Kompetenzen etwas leistungsstärker als in den anderen beiden Domänen. Sowohl die visuelle Inspektion (Abb. 2) als auch die inferenzstatistische Prüfung lassen auf eine Normverteilung der GAL-Werte schließen (D(268) = 0.032, p = .200). Eine ähnliche Verteilung zeigt sich auch in den drei Bereichen adaptiver Kompetenzen. Die Standardabweichungen sind sowohl beim GAL-Wert als auch bei den Werten für die drei Bereiche recht hoch, der Abstand zwischen Minimum und Maximum ist weit; d. h. zwischen den Kompetenzen der einzelnen Personen bestehen große Unterschiede (Tab. 2). Es gibt jeweils sowohl Personen mit Leistungen im Normbereich als auch Personen, deren Leistungen mehr als drei Standardabweichungen unter dem Mittelwert liegen. 6.4 Variabilität der adaptiven Kompetenzen Die differenzialdiagnostischen Möglichkeiten bei Anwendung des ABAS II sind von besonderem Interesse. Deshalb wird nun weiter untersucht, inwiefern sich die adaptiven Kompetenzen innerhalb der Stichprobe unterscheiden. In einem ersten Schritt bilden wir anhand des GAL-Wertes drei Niveaugruppen und vergleichen diese hinsichtlich der Ausprägungen in den drei Bereichen adaptiver Kompetenzen. In einem zweiten Schritt werden aus jeder Niveaugruppe je zwei Fallbeispiele mit demselben Gesamtwert ausgewählt und hinsichtlich der Ausprägungen in den zehn Einzeldimensionen adaptiver Kompetenzen kontrastiert. 6.4.1 Niveaugruppen Anhand der Stichprobenkennwerte des Gesamtwertes der adaptiven Kompetenzen werden drei Niveaugruppen gebildet: Zur ersten Gruppe zählen alle Teilnehmenden mit einem GAL-Wert, welcher unterhalb von (M - 1SD) 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 Häufigkeit <45 45 -49 50 -54 55 -59 60 -64 65 -69 70 -74 75 -79 80 -84 85 -89 90 -94 95 -99 >100 Gesamtwert Adaptive Kompetenzen (GAL) Abb. 2 Verteilung des Gesamtwertes adaptiver Kompetenzen (GAL-Wert) bei Personen mit einer geistigen Behinderung (n = 268) VHN 1 | 2017 49 DAGMAR ORTHMANN BLESS, CARMEN ZURBRIGGEN Variabilität adaptiver Kompetenzen FACH B E ITR AG und damit im Bereich von 40 bis 54 liegt (n = 45; 16.8 %). In die zweite Gruppe zugeteilt werden alle, deren GAL-Werte im Bereich (-1SD < M < +1SD), also zwischen 55 und 82, liegen (n = 183; 68.3 %). Die dritte Gruppe bilden die Teilnehmenden mit einem GAL-Wert oberhalb (M + 1SD), d. h. zwischen 83 und 101 (n = 40; 14.9 %). In Abb. 3 sind die Ausprägungen in den drei Kompetenzbereichen für die drei Niveaugruppen dargestellt. Erwartungsgemäß widerspiegeln sich die drei (generellen) Kompetenzniveaus ebenfalls in den drei Bereichen adaptiver Kompetenzen. So hat etwa die erste Gruppe im konzeptuellen, sozialen und praktischen Bereich jeweils den tiefsten Mittelwert. Über alle Gruppen hinweg ist zu erkennen, dass jeweils die sozialen Kompetenzen am stärksten ausgeprägt sind. Allerdings zeigen sich auch Unterschiede in den Ausprägungen der Kompetenzbereiche innerhalb der Gruppen. So unterschieden sich die mittleren Ausprägungen in den drei Kompetenzbereichen für die erste Niveaugruppe (GAL 40 - 54) jeweils signifikant. Dasselbe gilt für die zweite Niveaugruppe (GAL 55 - 82). Selbst der Mittelwertunterschied zwischen den konzeptuellen und praktischen Kompetenzen ist statistisch signifikant (t(182); 2.682; p < .05), wenn auch hinsichtlich der Effektstärke nicht bedeutsam (η 2 = 0.02). In der dritten Niveaugruppe (GAL 83 - 101) sind die drei Kompetenzbereiche relativ ausgeglichen. So unterscheiden sich die konzeptuellen und die praktischen Kompetenzen nicht signifikant (t(39); -.976; p = .335). Die beiden weiteren 110 100 90 80 70 60 50 40 30 Standardwerte (Mischwerte) GAL 40 -50 GAL 55 -82 GAL 83 -101 Konzeptionell Sozial Praktisch Abb. 3 Ausprägungen der konzeptuellen, sozialen und praktischen Kompetenzen in drei Niveaugruppen, gebildet anhand des GAL-Wertes: Mittelwerte und Standardabweichungen (n = 268) VHN 1 | 2017 50 DAGMAR ORTHMANN BLESS, CARMEN ZURBRIGGEN Variabilität adaptiver Kompetenzen FACH B E ITR AG Vergleiche zwischen den Kompetenzbereichen fallen zwar statistisch signifikant aus, wobei die Effektstärken wiederum nicht bedeutsam sind. 6.4.2 Individuelle Kompetenzprofile Die in Abbildung 3 aufgeführten Standardabweichungen markieren die mehrheitlich recht großen Streuungen der Werte. Dies lässt darauf schließen, dass bei den drei Kompetenzbereichen auch innerhalb jeder Niveaugruppe eine gewisse Variabilität herrscht. Deshalb werden nun aus jeder Niveaugruppe zwei Fälle mit demselben GAL-Wert ausgewählt und bei diesen die individuellen Ausprägungen der Kompetenzen auf Ebene der zehn Einzeldimensionen betrachtet. Zur Auswahl der Fallbeispiele wird jeweils der Mittelwert der jeweiligen Niveaugruppe herangezogen. Der 25-jährige Herr A. und die 48-jährige Frau B. haben einen identischen GAL-Wert von 48, welcher dem Mittelwert der untersten Niveaugruppe entspricht. Herr A. lebt in einer Institution stationär und verfügt dort über einen geschützten Arbeitsplatz. Frau B. wird ebenfalls stationär betreut und geht in der Tagesstätte einer Beschäftigung nach. Betrachtet man nun die adaptiven Kompetenzen beider Probanden auf Ebene der zehn einzelnen Dimensionen, so sind einerseits bei beiden Personen deutliche intraindividuelle Kompetenzunterschiede in Bezug auf die einzelnen Dimensionen erkennbar (Abb. 4). Herr A. verfügt z. B. im Bereich Kommunikation über wesentlich höhere Kompetenzen als im Bereich Wohnen. Frau B. fällt offenbar die Freizeitgestaltung deutlich leichter als die Selbstfürsorge. Andererseits ist auch ein interindividueller Vergleich möglich. In Bezug auf das Profil der adaptiven Kompetenzen weisen Herr A. und Frau B. sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede auf. Beiden Personen fällt es z. B. gleichermaßen sehr schwer, sich in der Gemeinschaft zu orientieskalierte Werte 6 5 4 3 2 1 KO OG AF WO GS FZ SF SS SA AR Herr A. Frau B. Abb. 4 Individuelle Kompetenzprofile von zwei Personen aus der ersten Niveaugruppe (GAL 40 -54) Anmerkung: KO: Kommunikation, OG: Orientierung in der Gemeinschaft, AF: Funktionelle akademische Fähigkeiten, WO: Wohnen, GS: Gesundheit und Sicherheit, FZ: Freizeit, SF: Selbstfürsorge, SS: Selbststeuerung, SA: Soziale Anpassung, AR: Arbeit VHN 1 | 2017 51 DAGMAR ORTHMANN BLESS, CARMEN ZURBRIGGEN Variabilität adaptiver Kompetenzen FACH B E ITR AG ren und für die eigene Gesundheit und Sicherheit zu sorgen (Abb. 4). Im Vergleich zu Frau B. hat Herr A. jedoch z. B. etwas höhere Kompetenzen in Bezug auf Kommunikation und im Bereich Arbeit. Frau B. wird hingegen im Vergleich zu Herrn A. als sozial deutlich besser angepasst beschrieben. Die beiden aus der zweiten Niveaugruppe gewählten Personen (Abb. 5) weisen in Bezug auf den GAL-Wert den Gruppen- und gleichzeitig Stichprobenmittelwert 68 auf. Der 21-jährige Herr L. wohnt stationär betreut und arbeitet an einem geschützten Arbeitsplatz. Herr M. ist bereits 68 Jahre alt und wird ebenfalls stationär betreut. Die intraindividuellen Unterschiede in Bezug auf die Kompetenzen in den einzelnen Dimensionen sind hier noch wesentlich deutlicher ausgeprägt als bei den Fallbeispielen aus Niveaugruppe 1. Bei Herrn L. z. B. schwanken die Leistungen zwischen den skalierten Werten von 1 (in der Dimension AF) und 9 (in der Dimension SA). Auf der für die skalierten Werte auf Ebene der Einzeldimensionen verwendeten Normskala (M = 10, SD = 3) handelt es sich damit um intraindividuelle Kompetenzunterschiede von mehr als zwei Standardabweichungen. Herr L. verfügt demnach z. B. über funktionelle akademische Fähigkeiten (AF), die drei Standardabweichungen unter dem Mittelwert liegen, und gleichzeitig über Fähigkeiten der sozialen Anpassung, welche im Normbereich liegen (jeweils gemessen an den US-amerikanischen Normen). Im interindividuellen Profilvergleich sind wiederum sowohl Gemeinsamkeiten (oder Ähnlichkeiten) als auch deutliche Unterschiede zwischen beiden Personen erkennbar. Ähnlichkeiten zeigen sich bei Herrn L. und Herrn M. unter anderem bei den Kompetenzen bezüglich Wohnen, Selbstfürsorge und Selbststeuerung. Als Stärken von Herrn L. erweisen sich - im Vergleich zu Herrn M. - z. B. seine kommunikativen Fähigkeiten und insbesondere seine soziale Anpassungsfähigkeit. Herr M. wiederum kann seine Freizeit - im Vergleich zu Herrn L. - sehr gut gestalten und weist bessere funktionelle akademische Fähigkeiten auf. skalierte Werte 13 12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 KO OG AF WO GS FZ SF SS SA AR Herr L. Herr M. Abb. 5 Individuelle Kompetenzprofile von zwei Personen aus der zweiten Niveaugruppe (GAL 55 -82) VHN 1 | 2017 52 DAGMAR ORTHMANN BLESS, CARMEN ZURBRIGGEN Variabilität adaptiver Kompetenzen FACH B E ITR AG Sowohl die 23-jährige Frau Y. als auch der 29-jährige Herr Z. leben in einer Wohnschule. Bei beiden wurde ein GAL-Wert von 91 gemessen. Als relativ junge Teilnehmende aus einer Wohnschule repräsentieren sie gut die dritte Niveaugruppe. Beide gehen zudem einer Teilzeitarbeit an einem geschützten Arbeitsplatz nach: Frau Y. ist Hauswirtschafterin, Herr Z. ist als Büroassistent tätig. Frau Y. verfügt über ausgeprägte Kompetenzen im Bereich Wohnen und Selbststeuerung (Abb. 6). Des Weiteren ist sie sozial gut angepasst sowie kommunikativ und kann sich gut in der Gemeinschaft orientieren. Verhältnismäßig tief liegen hingegen ihre Werte bezüglich Freizeit und Selbstfürsorge. Bei Herrn Z. zeigt sich ein etwas homogeneres Kompetenzprofil als bei Frau Y. Zu seinen Stärken zählen die Orientierung in der Gemeinschaft, ein umsichtiger Umgang mit seiner Freizeit und seine gute Selbststeuerung. Im Vergleich zu den anderen Dimensionen ist seine soziale Anpassungsfähigkeit etwas weniger ausgeprägt. 7 Diskussion In Bezug auf die erste Frage - Ausprägung und Verteilung der kognitiven Kompetenzen - zeigte sich in aller Deutlichkeit ein bereits bekanntes Problem. Nur bei 34 von 267 Erwachsenen (12.7 %), welche in Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung leben, konnte mit einem standardisierten, aktuell normierten Testverfahren ein Standardwert für die kognitive Leistungsfähigkeit (IQ) bestimmt werden. Schließt man Personen aus, deren Intelligenz nicht im Bereich einer geistigen Behinderung (IQ < 70), sondern darüber liegt, konnte gar nur für 21 von 254 Personen (8.3 %) ein IQ bestimmt werden. Alle anderen Personen erreichten in den SPM so geringe Rohwerte, dass keine Umwandlung in Standardwerte möglich war. Es ist für über 90 % der geistig behinderten Erwachsenen, welche in ambulanten oder stationären Formen unterstützt werden, somit lediglich feststellbar, dass ihre kognitive Leistungsfähigkeit mehr als drei Standardabweichungen unter dem Mittelwert liegt. Differenziertere interindividuelle und intraindividuelle skalierte Werte 13 12 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 KO OG AF WO GS FZ SF SS SA AR Frau Y. Herr Z. Abb. 6 Individuelle Kompetenzprofile von zwei Personen aus der dritten Niveaugruppe (GAL 83 -101) VHN 1 | 2017 53 DAGMAR ORTHMANN BLESS, CARMEN ZURBRIGGEN Variabilität adaptiver Kompetenzen FACH B E ITR AG Befunde sind kaum möglich. Hinweise für die Gestaltung von Unterstützungskonzepten ergeben sich aus den Befunden zur kognitiven Leistungsfähigkeit nicht. In Bezug auf die zweite Frage - Ausprägung und Verteilung der adaptiven Kompetenzen - zeigte sich eine ganz andere Situation. Für alle untersuchten geistig behinderten Erwachsenen konnten mit dem ABAS II (deutsche Übersetzung) Standardwerte für die adaptiven Kompetenzen bestimmt werden. In Ermangelung von deutschen Normen wurde auf die US-amerikanischen Normen der Originalversion zurückgegriffen, deren Gültigkeit im deutschen Sprachraum bisher nicht geprüft ist. Deshalb wird an dieser Stelle auch nicht weiter diskutiert, bei wie vielen der hier untersuchten Erwachsenen die Alltagskompetenzen gemäß der aktuell gültigen Definitionskriterien (AAIDD 2010; APA 2013 a) im Bereich einer geistigen Behinderung liegen oder vergleichsweise besser ausgeprägt sind. Unabhängig von der ausstehenden deutschen Normierung des Verfahrens kann aber die Variabilität der adaptiven Kompetenzen betrachtet werden. Innerhalb der hier untersuchten Stichprobe zeigte sich sowohl auf Ebene des Gesamtwertes (GAL-Wert) als auch auf Ebene der drei Bereiche adaptiver Kompetenzen (konzeptuelle, soziale und praktische Kompetenzen) jeweils eine große Variation der Werte. Es sind auf diese Weise also erhebliche Kompetenzunterschiede zwischen Individuen feststellbar. Gültige (deutsche) Normen vorausgesetzt, wäre eine Einteilung in Schweregrade der Beeinträchtigung problemlos möglich. Neben interindividuellen Differenzierungen ermöglicht der ABAS II aber auch die Bestimmung von individuellen Leistungsprofilen. Es ist messbar, inwiefern sich Personen mit gleichem Gesamtniveau an adaptiven Kompetenzen bezüglich einzelner Dimensionen derselben voneinander unterscheiden. Individuelle Stärken und Schwächen sind eindeutig identifizierbar. Das ist für die individuelle Hilfeplanung von Bedeutung. Insgesamt weisen die Ergebnisse auf das erhebliche Potenzial eines standardisierten Assessments adaptiver Kompetenzen sowohl hinsichtlich von Diagnosestellungen als auch im Zusammenhang mit Hilfeplanung und pädagogischer Unterstützung hin. Die hier gezeigten Befunde sind ein wiederholter Beleg für die paradoxe Situation, dass gemäß internationaler Klassifikationssysteme die Schwere einer geistigen Behinderung nach dem IQ zu bestimmen ist (war), es aber keine Instrumente gibt, die zwischen mittlerer, schwerer und schwerster Beeinträchtigung entsprechend der zugehörigen Intelligenzangaben valide unterscheiden können. Die APA hat in der aktuellen Version ihres diagnostischen Manuals nun auf dieses Problem reagiert und den Stellenwert der adaptiven Kompetenzen hinsichtlich der Diagnostik von geistiger Behinderung aufgewertet. Die kognitive Kapazität (IQ) und die adaptiven Fähigkeiten bleiben wie bisher die zentralen Definitions- und Diagnosekriterien einer geistigen Behinderung. Im Unterschied zur bisherigen Vorgehensweise werden aber neu die Schweregrade der Beeinträchtigung anhand der Ausprägung adaptiver Fähigkeiten und nicht mehr anhand von IQ- Werten bestimmt (APA 2013 a; 2013 b). Das Assessment von adaptiven Kompetenzen gewinnt somit an Bedeutung. Einen mindestens ebenso hohen Wert wie für die Bestimmung einer Diagnose hat das Assessment adaptiver Kompetenzen als inter- und intraindividuell hoch differenzierungsfähige outcome measure. Gemessen wird die typische aktuelle individuelle Performanz in alltagsrelevanten Situationen und im Zusammenhang mit den entsprechenden gesellschaftlichen Erwartungen an alters- und situationstypisches Verhalten. Durch die Operationalisierung der zu bestimmenden Kompetenzen auf konkreter Verhaltensebene kann hier leichter ein Bezug zu Unterstützungsmöglichkeiten und Trainingsgelegenheiten im Alltag hergestellt werden. Sowohl bei der „Übersetzung“ dia- VHN 1 | 2017 54 DAGMAR ORTHMANN BLESS, CARMEN ZURBRIGGEN Variabilität adaptiver Kompetenzen FACH B E ITR AG gnostischer Befunde in alltagstaugliche Hilfeplanungen als auch bei der Übertragung von erworbenen Kompetenzen in alltagsrelevante Situationen sind weniger Transferleistungen notwendig. Zu beachten ist, dass die diagnostizierbaren Kompetenzprofile zwar eine wichtige, aber keine hinreichende Basis für die Hilfeplanung darstellen. Weder Ziele noch Maßnahmen der Unterstützung ergeben sich unmittelbar und direkt aus dem Assessment der individuellen Kompetenzen. Gerade im Erwachsenenbereich sind individuelle Entwicklungsziele ein wichtiges Kriterium für Art und Umfang von Unterstützungsmaßnahmen. Auch wenn z. B. die Kompetenzen von Herrn A. und Frau B. in Bezug auf Gesundheit und Sicherheit ähnlich gering ausgeprägt sind, Herr L. und Herr M. ähnliche Probleme mit der Orientierung in der Gemeinschaft haben, ergibt sich vielleicht nicht für jeweils beide Personen dasselbe Entwicklungsziel. Persönliche Entwicklungsziele von Erwachsenen sind in gesellschaftlichen Bereichen, die wenig Akkommodationsanforderungen stellen, wie z. B. im Bereich Freizeit, in hohem Maße selbstbestimmbar. Die Entwicklung eines persönlichen Lebensstils, das Setzen von eigenen Lebenszielen und die Selbstbestimmung über die Art der dafür benötigten Hilfen sind dann handlungsleitend (vgl. dazu z. B. spezielle Ausformungen des Empowerments, Kulig/ Theunissen 2016). In Bereichen mit höheren Akkommodationsanforderungen, wie z. B. im Beruf oder auch bei Elternschaft, sind gesellschaftlich determinierte Anforderungen an bestimmte Erwachsenenrollen von größerer Bedeutung. Der Erwerb bestimmter Kompetenzen ist dann kaum verhandelbar (wie z. B. gewisse elterliche Kompetenzen im Zusammenhang mit der notwendigen Sicherung des Kindeswohls, vgl. Orthmann Bless 2016). 8 Ausblick Adaptive Kompetenzen sind für die Lebensbewältigung von großer Bedeutung. Sie bestimmen in wesentlichem Maße über die persönliche Autonomie und über die gesellschaftliche Teilhabe. Sowohl für die Diagnose einer geistigen Behinderung (häufig verknüpft mit der Zugangsberechtigung zu bestimmten Unterstützungssystemen) als auch für die individuelle Hilfeplanung ist ein qualitativ hochwertiges Assessment dieser Kompetenzen notwendig. Um den Anschluss an internationale Entwicklungen nicht zu verlieren, sollte auch im deutschsprachigen Raum in die (Weiter-)Entwicklung von standardisierten Instrumenten zum Assessment adaptiver Kompetenzen investiert werden. Auch konzeptionelle Entwicklungen in der Leistungslandschaft, etwa der Wandel von einer fallpauschalisierten hin zu einer individuellen Bemessung von Leistungen, führt zu einem Bedarf an standardisierten, reliablen und validen Verfahren zur Bestimmung individueller Kompetenzen. Aus wissenschaftlicher Perspektive sind im Bereich der Grundlagenforschung zu adaptiven Kompetenzen bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung noch viele Fragen offen. Beispielsweise sind Zusammenhänge zwischen Intelligenz und adaptiven Kompetenzen noch wenig differenziert aufgeklärt. Gleiches gilt für geschlechtsspezifische Besonderheiten sowie Vergleiche verschiedener Alterskohorten. Auch die Wirkung bestimmter Förderkonzepte auf die Entwicklung adaptiver Kompetenzen im Erwachsenenalter ist noch weitgehend unerforscht. Literatur AAIDD/ American Association on Intellectual and Developmental Disabilities (2010): Intellectual Disability. Definition, Classification, and Systems of Supports. 11 th ed. Washington, D.C.: AAIDD APA/ American Psychiatric Association (2013 a): Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. 5 th ed. Washington, D.C.: APA APA/ American Psychiatric Association (2013 b): Intellectual Disability Fact Sheet. Washington, D.C.: APA. Online: http: / / www.dsm5.org/ Documents/ Forms/ AllItems.aspx, 15. 9. 2016 VHN 1 | 2017 55 DAGMAR ORTHMANN BLESS, CARMEN ZURBRIGGEN Variabilität adaptiver Kompetenzen FACH B E ITR AG Beck, I.; Greving, H. (2012): Normalisierung, Integration, Lebensqualität. In: Beck, I.; Greving, H. (Hrsg.): Lebenslage und Lebensbewältigung. Stuttgart: Kohlhammer, 179 -197 Binet, A.; Simon, T. (1905): Méthodes nouvelles pour le diagnostic du niveau intellectuel des anormaux. In: L’Année Psychologique 11, 191 - 244. http: / / dx.doi.org/ 10.3406/ psy.1904.3675 Bouck, E. C. (2010): Reports of life skills training for students with intellectual disabilities in and out of school. In: Journal of Intellectual Disability Research 54, 1093 -1103. http: / / dx. doi.org/ 10.1111/ j.1365-2788.2010.01339.x Burns, M. K. (2005): Test review of the Adaptive Behavior Assessment System, Second Edition. In: Spies, R. A.; Plake, B. S. (Eds.): The Sixteenth Mental Measurements Yearbook. Lincoln, NE: Buros Center of Mental Measurement. Online: http: / / buros.org/ mental-measurements-year book, 15. 9. 2016 Doll, E. A. (1936): Preliminary standardization of the Vineland Social Maturity Scale. In: American Journal of Orthopsychiatry 6, 283 -293. http: / / dx.doi.org/ 10.1111/ j.1939-0025.1936.tb05235.x Doll, E. A. (1953): Measurement of Social Competence: A Manual for the Vineland Social Maturity Scale. Circle Pines, MN: American Guidance Service. http: / / dx.doi.org/ 10.1037/ 11349-000 Gottfredson, L. (1997): Mainstream science on intelligence: An editorial with 52 signatories, history, and bibliography. In: Intelligence 24, 13 -23. http: / / dx.doi.org/ 10.1016/ s0160-2896 (97)90011-8 Harrison, P. L.; Oakland, T. (2008): Adaptive Behavior Assessment System -Second Edition (ABAS II). Los Angeles: Western Psychological Services Heber, R. (1959): A manual on terminology and classification in mental retardation. Monograph supplement. In: American Journal of Mental Deficiency 64, 1 -111 Hedderich, I.; Biewer, G.; Hollenweger, J.; Markowetz, R. (Hrsg.) (2016): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt Horn, R. (2009): Standard Progressive Matrices (SMP-C/ SPM-P/ SPM Plus). Frankfurt a. M.: Pearson Assessment Kulig, W.; Theunissen, G. (2016): Empowerment. In: Hedderich, I.; Biewer, G.; Hollenweger, J.; Markowetz, R. (Hrsg.): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 113 -118 Lakin, C.; Larson, S.; Kim, S. (2011): The effects of community vs. institutional living on the daily living skills of persons with developmental disabilities: Third decennial review of studies, 1977 -2010. In: Policy Research Brief 22, 1 -11 Nußbeck, S. (2008): Der Personenkreis der Menschen mit geistiger Behinderung. In: Nußbeck, S.; Biermann, A.; Adam, H. (Hrsg.): Sonderpädagogik der geistigen Entwicklung. Göttingen: Hogrefe, 5 -17 Orthmann Bless, D. (2013): Evaluationssystem für das Adaptive Verhalten, Fragebogen für Erwachsene 16 -89 Jahre (unveröffentlichte deutsche Übersetzung des Adaptive Behavior Assessment System - Second Edition, von Harrison, P. L.; Oakland, T. 2008). Freiburg: Heilpädagogisches Institut der Universität Freiburg/ Schweiz Orthmann Bless, D. (2016): Erwachsenenalter und Elternschaft. In: Hedderich, I.; Biewer, G.; Hollenweger, J.; Markowetz, R. (Hrsg.): Handbuch Inklusion und Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 496 -500 Sermier Dessemontet, R.; Bless, G.; Morin, D. (2012): Effects of inclusion on the academic achievement and adaptive behavior of children with intellectual disabilities. In: Journal of Intellectual Disability Research 56, 579 -587. http: / / dx. doi.org/ 10.1111/ j.1365-2788.2011.01497.x Sternberg, R. (1985): Beyond IQ: A Triarchic Theory of Human Intelligence. New York: Cambridge University Press Tassé, M. J. (2013): Adaptive behavior. In: Wehmeyer, M. L. (ed.): The Oxford Handbook of Positive Psychology and Disability. Oxford: Oxford University Press, 105 -115. http: / / dx. doi.org/ 10.1093/ oxfordhb/ 9780195398786.0 13.013.0009 Anschrift der Autorinnen PD Dr. Dagmar Orthmann Bless Dr. Carmen Zurbriggen Universität Freiburg/ Schweiz Departement für Sonderpädagogik Petrus-Kanisius-Gasse 21 CH-1700 Freiburg dagmar.orthmann@unifr.ch carmen.zurbriggen@unifr.ch