Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Trend: Resilienz: Fakt oder Artefakt?
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Günther Opp
Resilienz. Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft (Berndt 2015), Resilienz: Die unentdeckte Fähigkeit der wirklich Erfolgreichen (Mourlane 2012) oder auch Stark wie ein Phönix. Wie wir unsere Resilienzkräfte entwickeln und über uns hinauswachsen (Haas 2015) – so lauten die vielversprechenden Titel von Büchern, die häufig von Journalisten geschrieben und in jeder Bahnhofsbuchhandlung zu finden sind. Man darf wohl sagen, dass diese Titel den Marketingstrategien der Verlage mehr entsprechen als den Befunden der Resilienzforschung. Die Dinge sind kompliziert und sicherlich komplizierter, als solche Buchtitel versprechen.
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84 VHN, 86. Jg., S. 84 -87 (2017) DOI 10.2378/ vhn2017.art07d © Ernst Reinhardt Verlag Die Welt zerbricht jeden, und nachher sind viele an den gebrochenen Stellen stark. (Ernest Hemingway) Resilienz: Fakt oder Artefakt? Günther Opp Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg TRE ND Resilienz. Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft (Berndt 2015), Resilienz: Die unentdeckte Fähigkeit der wirklich Erfolgreichen (Mourlane 2012) oder auch Stark wie ein Phönix. Wie wir unsere Resilienzkräfte entwickeln und über uns hinauswachsen (Haas 2015) - so lauten die vielversprechenden Titel von Büchern, die häufig von Journalisten geschrieben und in jeder Bahnhofsbuchhandlung zu finden sind. Man darf wohl sagen, dass diese Titel den Marketingstrategien der Verlage mehr entsprechen als den Befunden der Resilienzforschung. Die Dinge sind kompliziert und sicherlich komplizierter, als solche Buchtitel versprechen. Dabei scheint sich der Resilienzbegriff für missbräuchliche Verwendungen geradezu anzubieten. Dies zeigte sich schon im Titel der ersten bahnbrechenden Resilienzstudie: „Vulnerable But Invincible“ (Werner/ Smith 1982). Das frühe Missverständnis einer „Unschlagbarkeit“ resilienter Kinder setzte sich in der öffentlichen Rezeption der Resilienzforschung bis heute fort. Die begriffliche Unschärfe zwischen Resilienz als einem Entwicklungsprozess und Resilienz als einem Ergebnis von Entwicklungen wurde schon immer moniert. Hiller (2008) macht darüber hinaus darauf aufmerksam, dass die Vorstellung personaler Ressourcen, die durch pädagogische Aktivitäten im Sinne von Resilienz gestärkt werden können, mit der Gefahr Hand in Hand geht, alle die noch stärker auszugrenzen, die von solchen Angeboten der Resilienzförderung nicht profitieren: „Solchen Individuen ist dann ganz einfach nicht mehr zu helfen - und sie sind selbst schuld daran, dass dies so ist.“ (Hiller 2008, 267) Von Freyberg (2009) kritisiert am Konzept der Ressourcenorientierung und dem Resilienzansatz im Besonderen, dass das wirkliche Ausmaß der Defizite und Probleme bei „unbeschulbaren Schülern“ durch „goldene Phantasien“ (36) kaschiert wird: „… Kinder und Jugendliche werden zu Klienten sonderpädagogischer Hilfe und Förderung nicht, weil sie über Ressourcen und ein gewisses Maß an Resilienz verfügen, sondern weil sie in relevanten Dimensionen ihrer Entwicklung mehr oder weniger schwere Defizite aufweisen.“ (19) Tendenziell könnten Resilienzvorstellungen die Zuschreibung individueller Verantwortung für die Folgen gesellschaftlich verursachter sozialer Probleme legitimieren. Die aktuelle Kritik am „Modebegriff “ Resilienz (Stamm/ Halberkann 2015) beanstandet zu Recht, dass eine konsensfähige Definition des Begriffs vermisst wird. Dem Resilienzkonzept wird vorgeworfen, dass „…nach den Maßstäben der Resilienz bewertet, Kinder als hoffnungslose Fälle etikettiert“ werden, „wenn sie trotz der Bereitstellung von sozialen Ressourcen nur spärliche Zuwächse an persönlicher Widerstandsfähigkeit zeigen. […] Das Scheitern solcher Kinder und Jugendlicher gilt dann als Folge mangelnder personaler, d. h. biogenetischer Dispositionen […]“ (ebd., 73) und lenkt VHN 1 | 2017 85 GÜNTHER OPP Resilienz: Fakt oder Artefakt? TRE ND von der Selektivität des Bildungssystems ab. Alternativ zum Resilienzbegriff wird vorgeschlagen, die Risikoseiten kindlicher Entwicklung über den Begriff der Vulnerabilität und der sozialen Ungleichheit zu fassen (Andresen u. a. 2015). Es ist angesichts der Kritik am Resilienzkonzept angeraten, noch einmal einen kursorischen Blick auf die Entwicklung der Resilienzforschung zu werfen. Das Verständnis und die Beschreibung von Resilienzphänomenen haben sich im Laufe der Jahre gewandelt (Luthar 2006). Man könnte von einer ersten Phase der Resilienzforschung sprechen, in der das Phänomen des ‚bouncing back‘ beschrieben und mit schützenden Faktoren unterlegt wurde (Werner/ Smith 1982). In einer zweiten Phase der Resilienzforschung wurde die Komplexität des Zusammenspiels von Vulnerabilität und protektiven Einflussfaktoren und Prozessen auf kindliche Entwicklung deutlich. Dabei zeigte sich, dass sich unter bestimmten Bedingungen z. B. schützende Faktoren in Risikofaktoren wandeln können. Die Kumulation, die Chronizität und der Schweregrad von Risiken beeinflussen die Entwicklungsergebnisse massiv, und die Bewältigung massierter Risiken erfordert umfangreichere schützende Einflüsse, die es Kindern ermöglichen, die notwendigen Anpassungsleistungen in ihren riskanten Lebenswelten zu entwickeln (Lösel/ Bender 2008; Rutter 2000). In einer dritten Phase der Resilienzforschung, die auch die Fortschritte der Bindungsforschung (Stamm/ Edelmann 2013) und der Mentalisierungstheorie (Fonagy u. a. 2011) spiegelt, wird die Bedeutung sozialer Beziehungen für resiliente Beziehungsprozesse betont. „Resilience rests fundamentally on relationships. The desire to belong is a basic human need, and positive connections with others lie at the very core of psychological development.“ (Luthar 2006, 780) Zuletzt forderte Rutter (2013, 483) eine verstärkte Fokussierung auf den Einfluss sozialer Kontexte, sozialer Erfahrungen und sozialer Unterstützung bei der reflexiven Auswertung dieser Erfahrungen. „The message is that interventions need to serve the provision of good social relationships and not just the focused learning of specific coping skills or particular cognitive strategies. It is probably not most useful to consider social relationships as a taught skill; rather they are best acquired through relevant experiences that are guided but not instructed.“ Die Arbeiten von Hauser u. a. (2006) mit jungen Erwachsenen, die wegen schwerer psychischer Störungen institutionalisiert waren, zeigten schon früher, dass resiliente Entwicklung vor allem mit der Ausbildung eines selbstreflexiven Stils der Erlebnisverarbeitung verbunden war, der den Betroffenen half, sich in ihren sozialen Beziehungen im Sinne sozialer Zugehörigkeit und einer Ausweitung ihrer Handlungsfähigkeit (self-agency) zu engagieren. Es ist naheliegend, im Zusammenhang reziproker Austauschverhältnisse zwischen dem Individuum und seinen alltäglichen Lebenswelten auf den Kulturbegriff zu verweisen: „[…] resilience is both the capacity of individuals to navigate their way to the psychological, social, cultural, and physical resources that sustain their well-being, and their capacity individually and collectively to negotiate for these resources to be provided and experienced in culturally meaningful ways.“ (Ungar 2008, 225) Fingerle (2011) verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff des Bewältigungskapitals. Mit diesem Begriff werden die Verbindung mit Bourdieuschen Kapitalsorten und der Anschluss an aktuelle pädagogische Fachdiskurse hergestellt. Im Sinne der Prävention ist in diesem Zusammenhang darauf zu achten, (1) dass Kinder dabei unterstützt werden, Kompetenzen zu erwerben, die sie für eine erfolgreiche Alltagspraxis in ihren Lebenswelten benötigen (Resilienzpraxis). Das erfordert (2) sichere Erfahrungsräume und Nischen, in denen sie Erfahrungen auswerten, aus Erfahrungen lernen und neue Kompetenzen aufbauen und damit experimentieren können (Resilienzökologie). Und VHN 1 | 2017 86 GÜNTHER OPP Resilienz: Fakt oder Artefakt? TRE ND schließlich (3) basiert positive Entwicklung immer auf fürsorglichen Erfahrungen in den unterschiedlichen Beziehungsverhältnissen mit verlässlichen erwachsenen Bezugspersonen, in unterschiedlichen Mentorenverhältnissen, in gelingenden Peereinbindungen, Freundschaften, Partnerschaften (Resilienzkultur) (Opp/ Brosch 2012). Zusammenfassend könnte man sagen, dass der Resilienzbegriff einen dynamischen Entwicklungsprozess erfasst, in dem es Individuen trotz unterschiedlicher Stressbelastungen gelingt, sich die Fähigkeit zu erhalten, bedeutungsvolle Lebensziele zu verfolgen (vgl. Zautra u. a. 2010, 6). Bei allen konzeptionellen Unbestimmtheiten besteht der Reiz des Resilienzbegriffs schon immer darin, dass er eine offene Vorstellung von Vulnerabilität mit Präventionsvorstellungen verbinden kann und damit auch wissenschaftlich und praxisbezogen interdisziplinäre Perspektiven eröffnet. Darüber hinausgehend ist Resilienz ein moderner Begriff, der die grundlegende Modernitätsantinomie von Risiko und Chance konzeptionell verknüpft. Genau darin dürfte der Grund für die Erfolgsgeschichte dieses Begriffs liegen, die sich auch darin zeigt, dass er zur Beschreibung und Bearbeitung unterschiedlichster disziplinärer Fragestellungen adoptiert wurde. In ökologischen Zusammenhängen wird der Resilienzbegriff verwendet, um die Widerstandskraft von Ökosystemen gegenüber ökologischen Störungen zu beschreiben, in den Ingenieurswissenschaften kennzeichnet er die Fähigkeit von Systemen, nach technischen Teilausfällen Funktionen aufrechtzuerhalten, in den Wirtschaftswissenschaften spricht man von Resilienz-Management, und im Kontext von Naturkatastrophen beschreibt Resilienz unter anderem die Fähigkeit, kommunale Strukturen und Systeme des Zusammenlebens, der Versorgung und Unterstützung wieder aufzubauen, zu entwickeln oder aufrechtzuerhalten. Resilienz ist ein reales Phänomen menschlicher Entwicklung und basiert auf einem komplexen Zusammenspiel psychosozialer Unterstützung, Ressourcen und internalen Stärken. Trotz aller begrifflicher Bestimmungsprobleme und auch angesichts der sich ausbreitenden Verwendung des Resilienzbegriffs in anderen Wissenschaftsbereichen ist eher nicht damit zu rechnen, dass er in pädagogischen Zusammenhängen an Einfluss verliert. Literatur Andresen, S.; Koch, C.; König, J. (Hrsg.) (2015): Vulnerable Kinder. Interdisziplinäre Annäherungen. Wiesbaden: Springer. http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-07057-1 Berndt, C. (2015): Resilienz. Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft. München: dtv Fingerle, M. (2011): Die Verwundbarkeit des Resilienzkonzeptes und sein Nutzen. In: Sonderpädagogische Förderung heute 56, 122 - 135 Fonagy, P.; Gergely, G.; Jurist, E.; Target, M. (2011): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta Freyberg, T. v. (2009): Tantalos und Sisyphos in der Schule. Frankfurt/ M.: Brandes & Apel Haas, M. (2015): Stark wie ein Phönix. Wie wir unsere Resilienzkräfte entwickeln und über uns hinauswachsen. München: Barth Hauser, S.; Allen, J.; Golden, E. (2006): Out of the Woods. Tales of Resilient Teens. Cambridge: Harvard University Press Hiller, G. G. (2008): „Resilienz“ - für die pädagogische Arbeit mit Risikojugendlichen und mit jungen Erwachsenen in brisanten Lebenslagen ein fragwürdiges, ja gefährliches Konzept? In: Opp, G.; Fingerle, M. (Hrsg.): Was Kinder stärkt. München: Reinhardt, 266 -278 Lösel, F.; Bender, D. (2008): Von generellen Schutzfaktoren zu spezifischen protektiven Prozessen: Konzeptuelle Grundlagen und Ergebnisse der Resilienzforschung. In: Opp, G.; Fingerle, M. (Hrsg.): Was Kinder stärkt. München: Reinhardt, 57 -78 Luthar, S. S. (2006): Resilience in development: A synthesis of research across five decades. In: VHN 1 | 2017 87 GÜNTHER OPP Resilienz: Fakt oder Artefakt? TRE ND Cichetti D.; Cohen D. J. (eds.): Developmental Psychopathology. Volume 3: Risk, Order and Adaptation. 2nd ed. N.Y.: John Wiley & Sons, 739 -795 Mourlane, D. (2012): Die unentdeckte Fähigkeit der wirklich Erfolgreichen. Göttingen: Business Opp, G.; Brosch, A. (2012): Resilienz in der Jugendhilfe. In: Jugendhilfe 50, 313 -316 Rutter, M. (2000): Resilience reconsidered: Conceptual considerations, empirical findings, and policy implications. In: Shonkoff, J. P.; Meisels, S. J. (eds.): Handbook of Early Childhood Intervention. Cambridge: Cambridge University Press, 651 -682. http: / / dx.doi.org/ 10.1017/ cbo 9780511529320.030 Rutter, M. (2013): Annual research review: Resilience - clinical implications. In: Journal of Child Psychology and Psychiatry 54, 474 -487. http: / / dx.doi.org/ 10.1111/ j.1469-7610.2012.02615.x Stamm, M.; Halberkann, I. (2015): Resilienz - Kritik eines populären Konzepts. In: Andresen, S.; Koch, C.; König, J. (Hrsg.): Vulnerable Kinder. Interdisziplinäre Annäherungen. Wiesbaden: Springer, 61 -76. http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-0 7057-1_4 Stamm, M.; Edelmann, D. (Hrsg.) (2013): Handbuch frühkindliche Bildungsforschung. Wiesbaden: Springer. http: / / dx.doi.org/ 10.1007/ 978-3-531- 19066-2 Werner, E. E.; Smith, R. S. (1982): Vulnerable But Invincible. New York: McGraw Ungar, M. (2008): Resilience across cultures. In: British Journal of Social Work 38, 218 -235. http: / / dx.doi.org/ 10.1093/ bjsw/ bcl343 Zautra, A. J.; Hall, J. S.; Murray, K. E. (2010): Resilience. A new definition of health for people and communities. In: Reich, J. W.; Zautra, A. J.; Hall, J. S. (eds.): Handbook of Adult Resilience. New York: Guilford, 3 -34 Anschrift des Autors Prof. Dr. Günther Opp Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg AB Verhaltensgestörtenpädagogik Franckeplatz 1, Haus 31 D-06110 Halle Tel.: +49 (0) 3 45 5 52 70 49 E-Mail: opp@paedagogik.uni-halle.de
