eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 86/2

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/VHN2016.art36d
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2017
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Inklusion in der Erziehungsberatung?

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2017
Christian Walter-Klose
In der vorliegenden Arbeit werden die Ergebnisse einer explorativen Befragung bayerischer Erziehungsberatungsstellen berichtet und bisherige Erfahrungen mit inklusiver Erziehungsberatung ausgewertet. Bereits heute werden in den meisten Beratungsstellen Familien mit Kindern mit Behinderung beraten, wenn auch oft Kompetenzen und Ressourcen für die Beratung von Kindern mit geistiger, körperlicher und/oder wahrnehmungsbezogener Behinderung fehlen. In der Folge ist das Leistungsspektrum des Beratungsangebots eingeschränkt. Empfehlungen zur Anpassung der Beratungsstellen werden gegeben und Forschungsdesiderate benannt.
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127 FACH B E ITR AG VHN, 86. Jg., S. 127 -144 (2017) DOI 10.2378/ vhn2016.art36d © Ernst Reinhardt Verlag Inklusion in der Erziehungsberatung? Aktuelle Situation und Perspektiven des Beratungsangebotes für Familien mit einem Kind mit Behinderung Christian Walter-Klose Universität Würzburg Zusammenfassung: In der vorliegenden Arbeit werden die Ergebnisse einer explorativen Befragung bayerischer Erziehungsberatungsstellen berichtet und bisherige Erfahrungen mit inklusiver Erziehungsberatung ausgewertet. Bereits heute werden in den meisten Beratungsstellen Familien mit Kindern mit Behinderung beraten, wenn auch oft Kompetenzen und Ressourcen für die Beratung von Kindern mit geistiger, körperlicher und/ oder wahrnehmungsbezogener Behinderung fehlen. In der Folge ist das Leistungsspektrum des Beratungsangebots eingeschränkt. Empfehlungen zur Anpassung der Beratungsstellen werden gegeben und Forschungsdesiderate benannt. Schlüsselbegriffe: Erziehungsberatung, Familienberatung, Behinderung, Unterstützungssysteme, Inklusion Educational Counseling for Families With Children With Disabilities in the Context of Inclusion Summary: The results of an explorative survey of educational counseling for families with children with disabilities in Bavarian counseling centers are reported in the present paper. The majority of educational counseling centers have experiences with these families but the resources, the capacity and the expertise are missing, especially for people with complex disabilities. The possibilities of supporting families with children with intellectual disability, physically and/ or sensory impairments were fragmentary. The article ends with recommendations for structural and organizational adaptation. Keywords: Educational counseling, family counseling, disability, support, inclusion 1 Erziehungsberatung als Angebot für Familien Mit der Geburt eines Kindes wird aus einem Paar eine Familie. Vielfältige Anpassungsleistungen sind für die Eltern notwendig (Gloger-Tippelt 1988). Nach der Feststellung der Schwangerschaft müssen sich beide Elternteile auf die Geburt ihres Kindes einstellen und sich mit einer Erweiterung der Partnerschaft um die Elternschaft auseinandersetzen, wobei ihnen Vorerfahrungen aus der eigenen Familie und Informationen durch Freunde oder Medien helfen (Cierpka u. a. 2012). Sie können darauf vertrauen, dass intuitive Elternkompetenzen in der ersten Zeit helfen, das Kind in seiner Entwicklung optimal zu unterstützen (Papoušek 2001). Treten im Rahmen der Vorbereitung auf die Geburt oder während der frühen Kindheit Fragen und Unsicherheiten z. B. hinsichtlich der VHN 2 | 2017 128 CHRISTIAN WALTER-KLOSE Inklusion in der Erziehungsberatung FACH B E ITR AG Schwangerschaft, der Lebensplanung oder der Erziehung des Kindes auf, steht eine Vielzahl von Beratungsangeboten zur Verfügung (Roesler 2015, 73ff.), in denen finanzielle, gesundheitsbezogene, familien- oder paarbezogene Fragen thematisiert werden können. Auch zu späteren Zeitpunkten stehen diese Hilfen bei wichtigen Entscheidungen, z. B. bei der Schulwahl, zur Verfügung. Ein Angebot zur Stärkung der elterlichen Erziehungskompetenz und bei Fragen im Familienleben ist die Erziehungsberatung. Niederschwellig und multiprofessionell macht sie individuelle, familienbezogene und präventive Angebote zur Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern bzw. Erziehungsberechtigten (bke 1999, 11f.). Sie leistet „frühzeitige und lebensweltorientierte Hilfe“ (ebd., 12), trägt zur „Klärung von als konflikthaft empfundenen individuellen und familialen Situationen“ (ebd., 13) bei, unterstützt bei der „Bewältigung von Problemlagen, Krisen, Störungen“ (ebd.) und vernetzt sich mit anderen Einrichtungen, „um gegebenenfalls die Unterstützungsmöglichkeiten anderer Dienste einzubeziehen“ (ebd., 11). Neben Prävention und Vernetzung sind Diagnostik, Beratung und Therapie die Hauptangebote (vgl. Körner/ Hensen 2008). 2 Familien mit einem Kind mit Behinderung Hat das neugeborene Kind eine körperliche, geistige oder wahrnehmungsbezogene Beeinträchtigung, verändert sich für die Eltern vieles: Sie müssen sich mit der Behinderung ihres Kindes auseinandersetzen, und es kommen neben den normalen Familienthemen (z. B. Feste und Freizeitgestaltung, Pflichten im Haushalt, Konflikte) weitere Themen im Kontext der Behinderung dazu, die, wie Eckert (2014) herausstellt, für die Familie positive wie negative Erlebnisse und Belastungen zur Folge haben können. Sarimski (2010) beschreibt beispielsweise in seiner Studie zum Belastungserleben von Müttern von Kindern mit schweren geistigen Behinderungen, dass zwei Drittel der von ihm befragten Mütter eine außerordentlich hohe Belastung in alltäglichen Eltern-Kind- Interaktionen erleben und sich die Hälfte der Befragten sehr erschöpft und belastet fühlt. Deutliche Unterschiede zwischen Familien mit und ohne Kind mit Behinderung werden auch im Hinblick auf den Zusammenhalt des Paares und die Häufigkeit von Trennung und Scheidung beschrieben. Für Eltern von Kindern, die eine körperliche Beeinträchtigung haben oder andauernde Verhaltensauffälligkeiten zeigen, ist die Wahrscheinlichkeit einer Trennung nach den ersten beiden Lebensjahren 1,5 mal höher als bei Eltern von Kindern ohne Beeinträchtigung (BMAS 2013, 74). Bei der Analyse von Faktoren, die Familien mit einem behinderten Kind belasten, lassen sich überdauernde Belastungsfaktoren, wie ein lebenslanger Unterstützungsbedarf des Kindes z. B. im Bereich der Pflege, finden, aber auch phasenspezifische. Besonders Übergänge und Veränderungen stellen große Herausforderungen dar, beispielsweise beim Übertritt vom Kindergarten zur Grundschule. Eine Auswahl der in der Fachliteratur beschriebenen Belastungsfaktoren ist in Tabelle 1 aufgelistet. Ohne auf alle Belastungsfaktoren dezidiert einzugehen, stellt die „traditionslose Elternschaft“ (Cloerkes 2007, 281) für die Familie eine besondere Herausforderung dar, da im Zusammenhang mit der Erziehung von Kindern mit Behinderung in der Regel keine Vorerfahrungen seitens der eigenen Eltern oder von Freunden und Bekannten bestehen. So ist die Entwicklung von Kindern mit Behinderung für die Eltern häufig nur in geringem Maße antizipierbar. VHN 2 | 2017 129 CHRISTIAN WALTER-KLOSE Inklusion in der Erziehungsberatung FACH B E ITR AG Neben dauerhaften Belastungsfaktoren lassen sich bei Familien mit Kindern mit Behinderung auch phasenspezifische Herausforderungen z. B. im Zusammenhang mit der erstmaligen Feststellung einer Behinderung oder mit der Wahl der richtigen Schule finden: Stehen inklusive Bildungsangebote zur Verfügung oder ist eine Förderschule zu bevorzugen, die dem Kind bestmögliche Förderung und Entwicklung, soziale Teilhabe und berufliche Perspektiven verspricht? Die beschriebenen Belastungssituationen können von den verschiedenen Akteuren im Familienverbund unterschiedlich erlebt werden. Dabei muss der Blick auch auf die Geschwisterkinder gerichtet werden, insbesondere wenn sie in die Pflege und Betreuung des Geschwisters eingebunden sind oder lernen müssen, ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen und mit einer reduzierten elterlichen Verfügbarkeit umzugehen (Wagner Lenzin 2007, 24). Allgemeine Belastungsfaktoren n Entwicklung des Kindes für Eltern nur schwer antizipierbar n „traditionslose Elternschaft“ n Auseinandersetzung mit medizinischen Erfordernissen (z. B. Krankenhausaufenthalt, Therapie) n Besonderer Betreuungs- und Förderbedarf des Kindes n Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten n Balancieren der Bedürfnisse aller Familienangehörigen n Balancieren der Rollen der Familienmitglieder (Familie, Eltern, Partner, Berufstätiger, Freund, …) n Umgang mit Diskriminierungserfahrungen n Umgang der Beteiligten mit traumatischem Erleben (z. B. im Rahmen einer Operation) n Beziehungsaufbau unter erschwerten Bedingungen (z. B. bei fehlender Sprache) n Sorge um die Zukunft des Kindes Phasenspezifische Belastungsfaktoren Geburt n Auseinandersetzung mit der Diagnose n Unterstützungsmöglichkeiten finden und beantragen Kindergarten n Wahl des Kindergartens n Routine im Zusammenleben entwickeln Schule n Wahl der Schule n Belastungen im Zusammenhang mit dem Schulbesuch n Identitätsentwicklung des Kindes n Pubertät als herausfordernde Zeit n Aufbau einer Lebensperspektive n Aufbau sozialer Kontakte, Freunde n Umgang mit Sexualität Arbeit/ Beruf n Berufswahl n Finden passender Arbeit Verlassen der elterlichen Wohnung n Ablösung n Entwicklung und Absicherung einer Lebensperspektive Tab. 1 Allgemeine und phasenspezifische Belastungsfaktoren für Familien mit einem Kind mit Behinderung (vgl. Wagner Lenzin 2007, 12ff.; Porter/ McKenzie 2000, 97ff.; Eckert 2014, 20f.; Cloerkes 2007, 281) VHN 2 | 2017 130 CHRISTIAN WALTER-KLOSE Inklusion in der Erziehungsberatung FACH B E ITR AG 3 Behinderung aus subjektiver und objektiver Sicht Für das Kind, das eine körperliche oder geistige Beeinträchtigung hat, kann sich eine Erschwernis ganz unterschiedlich darstellen. Sie kann mit negativen Gefühlen z. B. bei Schmerzen verbunden sein, es bei seinen Aktivitäten behindern oder aber die Teilhabe in der Gesellschaft beeinflussen. Eine Behinderung ist nicht mehr nur eine körperliche, geistige oder wahrnehmungsbezogene Schädigung des Menschen, wie dies früher verstanden wurde, sondern beinhaltet immer die Dimension der sozialen Teilhabe. Die Aktion Mensch betonte dies beispielsweise durch den Slogan „Behindert ist man nicht, behindert wird man“ (Lelgemann 2010, 42). Um für Klarheit bei der Begriffsverwendung zu sorgen, wurde die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) von der Weltgesundheitsorganisation entwickelt (DIMDI 2005). Eine Behinderung zeigt sich nach der ICF in Form von Schädigungen körperlicher Strukturen oder Funktionen (z. B. muskuläre Funktionen), die wiederum die Aktivitäten eines Menschen oder seine Partizipation an der Gesellschaft beeinträchtigen können. Dabei werden personenbezogene und umweltbezogene Faktoren als Einflussfaktoren in das Verständnis von Behinderung einbezogen: Eine Treppe am Eingang einer Sporthalle stellt für einen Menschen, der gerne Sport macht und einen Rollstuhl zur Fortbewegung nutzt, eine Barriere dar, die zu Aktivitätsbeeinträchtigungen (er möchte gerne Sport machen) und Partizipationsbeeinträchtigungen (er möchte gerne Sport mit seinen Freunden machen) führt. Das Behinderungsmodell der ICF beeinflusste den Behinderungsbegriff, wie er heute im Sozialgesetzbuch SGB IX verankert ist. So werden Menschen im Sozialrecht als behindert bezeichnet, wenn „ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist“ (§ 2 Abs. 1 SGB IX). Vor dem Hintergrund dieser Definition schätzen die Autoren des Bundesteilhabeberichts, dass im Jahr 2010 ca. 1,3 Millionen Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre mit Einschränkungen (aufgrund eines Gesundheitsproblems, einer Krankheit oder einer Verhaltensstörung) zu leben hatten (BMAS 2013, 52). Dies waren 10 % aller Kinder und Jugendlichen. Mit Blick auf die rechtliche Situation von Menschen mit Behinderung bekam in den letzten Jahren die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) eine entscheidende Rolle. Die UN-Konvention, die seit dem 26. 3. 2009 geltendes Recht in Deutschland darstellt, besteht aus 50 Artikeln und betrifft Menschen, „die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“ (Art. 1 Abs. 2 UN-BRK). Neben grundlegenden Artikeln zur Menschenwürde, Selbstbestimmung, Gleichbehandlung, Verbot der Diskriminierung und uneingeschränkten Teilhabe von Menschen mit Behinderung werden in der UN-Konvention in speziellen Artikeln auch die Bereiche Wohnen, Arbeit, Bildung, Gesundheit und Teilhabe an allen Bereichen des öffentlichen Lebens angesprochen. Bezogen auf das Angebot der Erziehungsberatung sind der Artikel 19 zur Teilhabe in der Gemeinschaft und der Artikel 23 zur Achtung der Wohnung und der Familie hervorzuheben. In Art. 19 wird gefordert, dass die Gesellschaft die volle Einbeziehung in Gemeinschaft und Teil- VHN 2 | 2017 131 CHRISTIAN WALTER-KLOSE Inklusion in der Erziehungsberatung FACH B E ITR AG habe erleichtert, indem sie gewährleistet, dass „gemeindenahe Dienstleistungen und Einrichtungen für die Allgemeinheit“ auch Menschen mit Behinderungen zur Verfügung stehen und ihren Bedürfnissen Rechnung tragen. 4 Unterstützungssysteme für Familien mit einem Kind mit Behinderung Neben der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung regelt das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) die Umsetzung des Benachteiligungsverbotes aus Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 des Grundgesetzes, in dem es heißt, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. In diesem Sinne ist es auch das Ziel des Sozialgesetzbuches sicherzustellen, dass soziale Gerechtigkeit und soziale Sicherheit (§ 1 Abs. 1 SGB I) für alle Bürgerinnen und Bürger verwirklicht werden, die Familie geschützt und gefördert wird und Sorge zu tragen ist, dass „besondere Belastungen des Lebens, auch durch Hilfe zur Selbsthilfe“ (ebd.) abgewendet und ausgeglichen werden können. Das Sozialgesetzbuch regelt neben arbeits- und berufsbezogenen Leistungen der Sozialgemeinschaft auch die Krankenversicherung, Maßnahmen der Kinder- und Jugendhilfe sowie die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen, um den besonderen Bedürfnissen der Betroffenen gerecht zu werden. Für Kinder mit Behinderung und ihre Familien werden im Sozialgesetzbuch medizinische Leistungen (z. B. ärztliche und therapeutische Behandlungen), heilpädagogische Leistungen (z. B. die Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder) sowie Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft benannt und geregelt (vgl. Straßburg 2014), sodass inzwischen eine Vielzahl von Unterstützungsangeboten zur Verfügung stehen: Teilbereiche des medizinischen Versorgungssystems wie der öffentliche Gesundheitsdienst, die ambulante und stationäre medizinische Versorgung, Rehabilitationsdienste und Heilmittelerbringer sind hier ebenso zu nennen wie bildungsbezogene, psychosoziale und heilpädagogische Angebote von Kindergärten, Frühfördereinrichtungen, Schulen, Förderzentren, spezialisierten Beratungsstellen (z. B. im Zusammenhang mit Autismus) oder Selbsthilfegruppen (vgl. Bode 2014). Möchte man das Leistungsspektrum der verschiedenen Angebote des Bildungs-, Gesundheits- und Rehabilitationssystems miteinander vergleichen, lassen sich auf rechtlicher Ebene und auf der Ebene der Finanzierung der Angebote zwar klare Zuordnungen finden, hinsichtlich ihrer inhaltlichen Ausgestaltung jedoch nicht. Lelgemann (2010) beispielsweise beschreibt das Angebot der Elternberatung im Hinblick auf Erziehung und Behinderungsverarbeitung durch Lehrkräfte. Weiß (1989) benennt für die Frühförderung ebenso wie Schlack (2009) für sozialpädiatrische Zentren die Bedeutung einer psychosozialen Ausrichtung der Behandlungs- und Fördermaßnahmen, sodass elterliche Ressourcen und Erziehungskompetenzen gestärkt werden, auch wenn - so merkt Bode (2007) an - psychologische, heilpädagogische und psychosoziale Leistungen für die Familien nicht in allen Sozialpädiatrischen Zentren finanziell abgesichert sind. 5 Erziehungsberatung im Kontext von Behinderung Auffallend ist allerdings, dass sich keines dieser genannten Angebote explizit an die Familie richtet und familiäre Probleme oder Fragen zur Geschwistersituation nur im Rahmen der Leistungen für das Kind mit Behinderung erbracht werden können. Das niederschwellige Leistungsspektrum einer Erziehungsberatungsstelle, für dessen Nutzung keine diagnostizierte Behinderung eines Kindes oder ärztliche Verordnung notwendig ist, ist im Rahmen des VHN 2 | 2017 132 CHRISTIAN WALTER-KLOSE Inklusion in der Erziehungsberatung FACH B E ITR AG Versorgungsnetzwerkes der Behindertenhilfe nicht abgesichert. Da aufgrund zunehmender inklusiver Beschulung Beratungsangebote durch Förderzentren und die dort vorhandenen psychosozialen Dienste reduziert oder nicht für Eltern inklusiv beschulter Kinder zur Verfügung stehen, ergibt sich die Forderung des flächendeckenden Aufbaus unterstützender Beratungsstrukturen. Ein weiteres Indiz für das Erfordernis einer inklusiven Erziehungsberatung liefern die Zahlen der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke), die 2015 im Rahmen einer Stellungnahme publiziert wurden: 2,3 % aller Beratungen von Erziehungsberatungsstellen standen im Zusammenhang mit Kindern, die eine körperliche, geistige oder mehrfache Behinderung hatten (bke 2015, 12), wenn auch der Zugang zur Beratung „nicht immer direkt mit der Behinderung eines Familienmitglieds im Zusammenhang“ (bke 2015, 14) stand, sondern beispielsweise Paarprobleme Anlass der Beratung waren. Diese Zahl verweist darauf, dass neben den als explizite Zielgruppe der Erziehungsberatung benannten Kindern und Jugendlichen mit Lernbeeinträchtigungen, Teilleistungsstörungen, Verhaltensstörungen und chronischen Krankheiten (bke 1999, 15) auch Familien mit Kindern mit körperlicher, geistiger bzw. wahrnehmungsbezogener Behinderung bereits heute das niederschwellige Angebot der Erziehungsberatung nutzen. Ähnlich sieht dies Mattern (2008), und auch Kassebrock vertritt die Meinung, dass Erziehungsberatungsstellen „sehr gute fachliche Voraussetzungen für eine qualifizierte Begleitung und Beratung von Familien mit behinderten Kindern“ haben (Kassebrock 2000, 90). Die Erziehungsberatung muss sich, so Kassebrock weiter, in diesem Zusammenhang „verstärkt als ein Baustein ambulanter Hilfen im Rahmen des Gesamtgefüges der Kinder- und Jugendhilfe bzw. der Behindertenhilfe definieren […], der seine volle Wirksamkeit nur im Zusammenwirken mit den verschiedensten Kooperationspartnern aus den Bereichen der medizinischen Versorgung, der Schule, des Ausbildungsbereiches und der Freizeitangebote entfalten kann“ (ebd.). Aus Sicht der bke wäre es vor diesem Hintergrund wichtig, „stärker als bisher inklusive Ansätze“ zu entwickeln (bke 2015, 13) und Fach- und Methodenwissen im Zusammenhang mit Behinderung zu erweitern. Ein letzter Aspekt, der auf die Notwendigkeit inklusiver Erziehungsberatung verweist, ergibt sich aus Befunden zur Kooperation von Schulen mit Erziehungsberatungsstellen. Walter- Klose u. a. (2016) konnten zeigen, dass 73,4 % aller Grund- und Mittelschulen, in denen Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Bayern unterrichtet werden, sowie 83,8 % der Förderschulen mit Erziehungsberatungsstellen kooperieren. Diese Befunde machen deutlich, dass trotz spezialisierter Beratungsangebote durch Psychologen, Sozial-, Heil- und Sonderpädagogen in den Förderschulen und Förderzentren eine Kooperation zwischen Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Jugendhilfe Alltag im Rahmen der Förderung der Kinder ist. Es ist zu erwarten, dass der Bedarf an Erziehungsberatung in den Beratungsstellen vor Ort, aber auch in sozialpädiatrischen Einrichtungen ansteigen wird, wenn die allgemeine Schule in einem inklusiven Schulsystem zunehmend eine Alternative zur Förderschule wird und somit Beratungsangebote an Fördereinrichtungen wegfallen. Auch wenn diese Situation gerade im Zusammenhang mit der Schulentwicklung im Kontext Inklusion von wesentlicher Bedeutung ist, ist das Feld der außerschulischen Unterstützungssysteme und der Erziehungsberatung im Speziellen nicht wissenschaftlich untersucht worden. Vor allem die Frage nach der Bedeutung von Erziehungsberatungsstellen für die Versorgung von Familien mit einem Kind mit Behinderung kann bislang nicht klar beantwortet werden. Auch lassen sich in der Literatur keine Hinweise dazu finden, mit welchen VHN 2 | 2017 133 CHRISTIAN WALTER-KLOSE Inklusion in der Erziehungsberatung FACH B E ITR AG Anliegen die Familien in die Erziehungsberatung kommen und welche Beratungsanfragen abgelehnt werden müssen. Mit diesen Fragen befasst sich die vorliegende Studie. 6 Beratung von Familien mit einem Kind mit Behinderung - Ergebnisse einer explorativen Befragung bayrischer Erziehungsberatungsstellen Als Forschungsansatz zur Beantwortung der gestellten Fragen wurde ein exploratives Design mithilfe einer Fragebogenerhebung gewählt. Mittels offener und geschlossener Fragen sollten Leiterinnen und Leiter von Erziehungsberatungsstellen zu ihren Erfahrungen mit Familien mit einem Kind mit Behinderung befragt werden, um neben individuellen Erfahrungen auch Häufigkeiten beschreiben zu können, sodass weitere Forschungsperspektiven im Hinblick auf das Angebot der Beratungsstellen sowie das Versorgungsnetzwerk insgesamt abgeleitet werden können. In Zusammenarbeit mit zwei Würzburger Erziehungsberatungsstellen wurde ein Fragebogen erstellt, der Fragen zu Behinderungsbildern, Beratungsanlässen sowie Barrieren und Ressourcen im Rahmen der Beratungsarbeit beinhaltete. Er wurde über den Verteiler der Landesarbeitsgemeinschaft und des Fachverbands für Erziehungs-, Jugend- und Familienberatung Bayern e.V. (LAG Bayern) im Sommer 2015 an alle 130 Leitungen der bayrischen Erziehungsberatungsstellen versandt. Die Datenauswertung der geschlossenen Fragen sollte deskriptiv, die der offenen Fragen mithilfe der zusammenfassenden Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) ausgewertet werden. Von den 130 angeschriebenen Leiterinnen und Leitern beteiligten sich 64 an der Erhebung, das waren 49,2 % aller bayerischen Erziehungsberatungsstellen. Während 20 in einer Stadt mit maximal 30’000 Einwohnern lagen, waren 18 in einer Stadt, in der zwischen 30’000 und 100’000 Bürger leben. 26 Beratungsstellen lagen in einer Großstadt mit mehr als 100’000 Einwohnern. Im Folgenden werden die Ergebnisse zu den einzelnen Fragen deskriptiv und - falls mit offenen Fragen im Fragebogen erhoben - inhaltlich zusammengefasst dargestellt. 6.1 Erfahrungen mit unterschiedlichen Formen der Behinderung Die erste Frage befasste sich mit den Erfahrungen mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in der Beratung. Es zeigte sich, dass mit Ausnahme einer Beratungsstelle in allen Beratungsstellen Kinder und Jugendliche mit Behinderung sowie ihre Angehörigen beraten werden, wobei es sich in den meisten Fällen um Kinder und Jugendliche handelt, die von seelischer Behinderung bedroht sind, Verhaltensstörungen oder Lernbeeinträchtigungen haben, psychisch oder chronisch erkrankt sind (vgl. Tabelle 2). Form der Behinderung Prozent Kinder/ Jugendliche, die von seelischer Behinderung bedroht sind 96,9 Verhaltensstörung 93,8 Lernbehinderung 92,2 psychische Störung 85,9 chronische Krankheit 81,3 Sprach- und Sprechstörung 73,4 Körperbehinderung 71,9 geistige Behinderung 54,7 Hörschädigung/ Taubheit 39,1 Sehbehinderung/ Blindheit 36,0 schwere Mehrfachbehinderung 15,6 Tab. 2 Relative Häufigkeit verschiedener Formen der Behinderung, mit denen es die befragten Beratungsstellen in ihrem Alltag zu tun haben VHN 2 | 2017 134 CHRISTIAN WALTER-KLOSE Inklusion in der Erziehungsberatung FACH B E ITR AG Während nur 16 % der Beratungsstellen Erfahrungen mit Kindern und Jugendlichen mit schwerer Mehrfachbehinderung hatten, berichteten knapp 40 % der Befragten von Beratungsgesprächen im Zusammenhang mit Kindern mit Sinnesschädigungen und mehr als 50 % von Beratungen im Zusammenhang mit Kindern mit geistiger oder körperlicher Behinderung. Angemerkt werden kann weiterhin, dass 17,2 % der Leiterinnen und Leiter Erfahrungen mit 10 der aufgeführten 11 Behinderungsformen angaben und 6 Beratungsstellen (9,2 %) Erfahrungen mit allen Behinderungsbildern dokumentierten. Diese Beratungsstellen werden in einigen folgenden Berechnungen als Beratungsstellen mit umfassenden Kontakterfahrungen mit verschiedenen Behinderungsbildern bezeichnet, da sie neben den in der Beratung häufig vorkommenden Behinderungsformen (vgl. Tabelle 2) auch mit den fünf selten vorkommenden Behinderungen (Körperbehinderung, geistige Behinderung, Seh- oder Hörschädigung oder schwere Mehrfachbehinderung) Kontakt hatten. Eine zweite Gruppe von 20 Beratungsstellen hatte bislang mit zwei bis drei Formen der selteneren Behinderungen Erfahrungen sammeln können und wird der Kategorie mittlere Kontakterfahrung zugeordnet. 12 Beratungsstellen ohne Erfahrung mit den fünf Behinderungsbildern und 15 Einrichtungen mit Erfahrung mit nur einer Form wurden zur Gruppe der Beratungsstellen mit kaum Kontakterfahrung zusammengefasst. Zusammenhänge mit den Kontakterfahrungen und der Größe des Ortes, in dem die Beratungsstelle lag, konnten nicht gefunden werden. 6.2 Austausch im Team der Beratungsstelle Bei der Frage an die Leiterinnen und Leiter der Beratungsstellen, ob sie sich in ihrem Team mit dem Thema der Beratung von Familien mit einem Kind mit Behinderung (insbesondere mit körperlicher und geistiger Behinderung) auseinandergesetzt haben, gaben 67,2 % zustimmende Antworten. Die in den Gesprächen angesprochenen Themen betrafen - wie die Auswertung der offenen Fragen zeigte - die verschiedenen Behinderungsbilder der Kinder und Jugendlichen sowie dadurch bedingte Konsequenzen für das Zusammenleben und die Erziehung. Ebenso häufig wurden die Familiendynamik, insbesondere familiäre Probleme, angesprochen und Besonderheiten der Geschwisterbeziehungen thematisiert. Weitere wichtige Gesprächsinhalte waren Probleme der Eltern behinderter Kinder, die vom Umgang mit Belastungen, über die Verarbeitung der Diagnose bis hin zu Paarproblemen und Trennungen reichten. Neben der Schulwahl und Themen der schulischen Inklusion spielten auch konzeptionelle und organisatorische Fragen in der Erziehungsberatung eine Rolle, wobei insbesondere personelle (z. B. Fachlichkeit, Qualifikation), materielle (z. B. Spielmaterial) und bauliche Ressourcen angesprochen wurden. Anlass für den Austausch im Kollegenkreis der Beratungsstelle waren auch Fragen zum rechtlichen Rahmen, zur Finanzierung der Beratung sowie die Bedeutung von Kooperation und Vernetzung. In mehreren Beratungsstellen, die eine umfassende Kontakterfahrung mit den verschiedenen Behinderungsbildern berichteten, wurden zudem die Themen Sexualität, Liebe und sexueller Missbrauch im Zusammenhang mit Behinderung angesprochen. 6.3 Eignung der Beratungsstelle für inklusive Erziehungsberatung In einer weiteren Frage sollten die Leiterinnen und Leiter der Erziehungsberatungsstellen einschätzen, für welche Behinderungsbilder sie ihre Beratungsstelle bislang für nicht geeignet halten, und ihre Antwort begründen. Es zeigte sich das in Tabelle 3 dargestellte Bild. VHN 2 | 2017 135 CHRISTIAN WALTER-KLOSE Inklusion in der Erziehungsberatung FACH B E ITR AG Auffallend ist zunächst, dass die Beratungsstellenleitungen kaum Behinderungsbilder benennen, für die ihre Einrichtung aus ihrer Sicht nicht geeignet sei. Nur im Hinblick auf Kinder und Jugendliche mit schweren Mehrfachbehinderungen veränderte sich das Bild: Hier äußerten sich 56,3 % der Befragten skeptisch. Untersucht man im nächsten Schritt genauer, welchen Einfluss die Erfahrung mit dem jeweiligen Behinderungsbild hat, findet sich ein zentraler Zusammenhang, der auf die Bedeutung von Vorerfahrungen verweist: Beratungsstellen, die bereits Erfahrung mit der jeweiligen Behinderungsform haben, sind bezüglich der Einschätzung ihrer Eignung für jeweilige Behinderung deutlich positiver eingestellt. 90 % der Beratungsstellen, die Erfahrungen mit Kindern mit schwerer Mehrfachbehinderung haben, sehen ihre Einrichtung auch dafür geeignet. Bei der Suche nach Gründen für eine skeptische Einschätzung bezüglich der Eignung des Angebots argumentierten die Leitungen der Beratungsstellen in erster Linie damit, dass die Mitarbeiter nicht adäquat ausgebildet seien, kein spezifisches Fachwissen im Bereich der Heil- und Sonderpädagogik sowie der Psychologie im Kontext von Behinderung hätten und insgesamt zu wenig Mitarbeiter in der Einrichtung tätig seien. Bezogen auf die Qualifikation führten die Befragten aus, dass neben dem Wissen über Behinderung (hier wurde insbesondere die geistige Behinderung genannt) auch Kompetenzen im Bereich der behinderungsspezifischen Diagnostik sowie Gebärden fehlen würden. Ein weiterer zentraler Ausschlussgrund war eine nicht barrierefreie Architektur. Rechtliche Aspekte und die Einschätzung, nicht zuständig zu sein, waren vor allem ein Ablehnungsgrund von Beratungsstellen mit wenig Erfahrung mit Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung. Dem gegenüber betonten andere Beratungsstellenleiter, dass es ihre Aufgabe sei, Familien mit einem Kind mit Behinderung zu beraten, und sie kompetent seien, wenn nicht speziell die Behinderung, sondern deren Auswirkung auf die Familie im Vordergrund stehe. Gesamtstichprobe Beratungsstellen mit Erfahrung mit dem jeweiligen Behinderungsbild ja nein Schwere Mehrfachbehinderung Hörschädigung/ Taubheit geistige Behinderung Sehbehinderung/ Blindheit Sprach- und Sprechstörung Körperbehinderung chronische Krankheit Verhaltensstörungen Lernbehinderung psychische Störung 56,3 37,5 29,7 23,4 15,6 14,1 3,1 3,1 1,6 1,6 10,0 12,0 8,6 13,0 4,3 4,3 1,9 3,3 1,7 1,8 66,0 53,8 55,2 29,3 47,1 38,9 8,3 0 0 0 Tab. 3 Einschätzungen der Beratungsstellenleitungen hinsichtlich mangelnder Eignung für Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Behinderungen (Angaben in Prozent) VHN 2 | 2017 136 CHRISTIAN WALTER-KLOSE Inklusion in der Erziehungsberatung FACH B E ITR AG 6.4 Einschätzung des Bedarfs an inklusiver Erziehungsberatung Neben der Frage zur Eignung der Beratungsstelle für Familien mit einem Kind mit Behinderung wurde auch gefragt, inwiefern in der Region ein Bedarf für ein Erziehungsberatungsangebot für Kinder mit allen Formen von Behinderung gesehen wird. Während 28,1 % der Leitungen der Beratungsstellen in ihrer Region einen Bedarf formulierten, sahen 37,5 % keinen Bedarf für ein derartiges Angebot. Die restlichen 31,3 % enthielten sich. Setzt man das Antwortverhalten der Befragten in Bezug zur Größe des Ortes, in der die Beratungsstelle liegt, ergibt sich das in Abbildung 1 dargestellte Bild: Den größten Bedarf an Beratung von Familien mit einem Kind mit Behinderung gaben die Erziehungsberatungsstellen an, die in Großstädten liegen, während Leiter von Beratungsstellen kleiner Orte sich am häufigsten enthielten. Einige Leiterinnen und Leiter nutzten die Möglichkeit, Anmerkungen zur Bedarfsfrage zu machen. So sagten mehrere Befragte aus, dass gerade im Hinblick auf die beraterische und psychotherapeutische Versorgung der Kinder mit Behinderung und ihrer Familien eine Versorgungslücke bestehe. Wörtlich merkte eine Leitung an: „Viele Berater/ Therapeuten weisen die Eltern ab, trauen sich die Arbeit nicht zu und die Eltern fühlen sich häufig mit der Behinderung und deren besonderer Problematik alleine gelassen oder müssen lange Wege zurücklegen oder sehr lange Wartezeiten in Kauf nehmen! “ Eine zweite Beratungsstellenleitung merkte an, „dass es sehr viele Familien gibt, die mit massiven Erziehungs- und Familienproblemen kämpfen - neben der Behinderung des Kindes. Diese Familien kommen zu wenig in die Beratungsstellen und werden auch vom psychologischen Dienst der Behinderteneinrichtung selbst noch zu wenig erreicht.“ Die Leitungen von Beratungsstellen, die keinen Bedarf in der Region sahen, verwiesen auf andere Einrichtungen (z. B. Frühförderung) oder hatten bislang keine Anfragen. Insgesamt zeigt sich bis zu diesem Punkt ein heterogenes Bild der Einschätzung nach Nutzung, Grenzen und Bedarf einer Erziehungsberatung für Familien mit einem Kind mit Behin- Abb. 1 Einschätzungen zum Bedarf an Erziehungsberatung für Familien mit Kindern mit unterschiedlichen Behinderungen in Abhängigkeit der Ortsgröße (Angaben in Prozent) 50 40 30 20 10 0 Sehen Sie in Ihrer Region einen Bedarf für ein Erziehungsberatungsangebot, das für Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen geeignet ist? bis 30.000 bis 100.000 größer als 100.000 ja nein weiß nicht 22,2 33,3 44,4 16,7 44,4 38,9 42,3 38,5 19,2 VHN 2 | 2017 137 CHRISTIAN WALTER-KLOSE Inklusion in der Erziehungsberatung FACH B E ITR AG derung. Während einerseits die Beratung von Eltern und ihren Kindern mit Verhaltensstörung, Lernbeeinträchtigung oder auch Körperbehinderung zur alltäglichen Arbeit gehört, bestehen Unsicherheiten einiger Beratungsstellenleitungen hinsichtlich der Eignung des Beratungsangebots für Kinder mit Sinnesschädigung, geistiger oder schwerer Mehrfachbehinderung. Begründet werden diese Unsicherheiten vor allem mit mangelnder Erfahrung und der Seltenheit eines Behinderungsbildes, dies gilt besonders für Kinder mit Sinnesschädigungen, oder aber mit einer skeptischen Beurteilung der eigenen Wirksamkeit und Kompetenz für die Klientel, z. B. wenn spezifisches Fachwissen zu Menschen mit geistiger Behinderung fehlt. Auch stellt die ungeklärte Finanzierungssituation eine Barriere für Familien mit einem Kind mit Behinderung dar. Die Bedeutung des regionalen Versorgungsnetzwerkes hat einerseits einen Einfluss auf die Bedarfseinschätzung der Beratungsstellenleitungen - etwas mehr als ein Drittel sehen aufgrund alternativer Angebote keinen Bedarf für ein inklusives Erziehungsberatungsangebot. Andererseits lässt sich nicht schlussfolgern, dass in Städten mit umfassender Versorgungsstruktur auch der Bedarf an einer inklusiven Erziehungsberatung abnimmt - im Gegenteil: Die Leitungen der Beratungsstellen in Großstädten sind sich sicher, dass ein Bedarf für Familien mit einem Kind mit Behinderung in der Region besteht. Es wird deutlich, dass die Versorgungsstruktur in unterschiedlichen Regionen weiterer Erforschung bedarf. 6.5 Beratungsanlässe und Anliegen der Familien Mit welchen Anliegen kommen die Familien in die Beratungsstellen? Mit dieser Frage befasste sich ein weiterer Fragenkomplex. Die Antworten sind in Tabelle 4 zusammenfassend dargestellt. Eltern von Kindern mit Behinderung kamen bis zum Zeitpunkt der Untersuchung mit höchst unterschiedlichen Anliegen zur Erziehungsberatung, wobei Fragen zur Erziehung und zu familiären Problemen (wie bei Kindern ohne Behinderung) an erster Stelle standen. Auch kindbezogene Fragen zu Verhaltensauffälligkeiten, seelischen Problemen sowie Schul- und Leistungsproblemen sind für die Familien neben familiären Herausforderungen wichtige Anliegen und verdeutlichen die Vielfalt an individuellen und familiären Problemen bei Kindern mit Behinderung. Anliegen Prozent Erziehungsfragen und Erziehungsschwierigkeiten Familiäre Probleme und Krisen Trennung und Scheidung Soziale Probleme der Kinder (z. B. Freunde, Diskriminierung) Verhaltensauffälligkeiten der Kinder Seelische Probleme der Kinder Umgang mit Behinderung (seitens der Familie oder des Kindes) Probleme in der Schule Leistungsprobleme Diagnostische Fragestellungen Fragen zur Schullaufbahn Umgang mit körperlichen Auffälligkeiten 96,8 93,8 90,6 87,5 87,5 79,7 78,1 76,6 73,4 59,4 56,3 53,1 Tab. 4 Anliegen von Eltern mit einem Kind mit Behinderung nach Angaben der Beratungsstellenleitungen (Mehrfachnennungen waren möglich) VHN 2 | 2017 138 CHRISTIAN WALTER-KLOSE Inklusion in der Erziehungsberatung FACH B E ITR AG Für 56,3 % der Leitungen der Beratungsstellen unterschieden sich diese Beratungsanlässe nicht von den Anliegen von Familien ohne Kinder mit Behinderung. 26,6 % gaben dagegen an, dass aus ihrer Sicht sehr wohl ein Unterschied in den Beratungsanlässen bestünde, wie im Folgenden ausgeführt wird. Vergleicht man die Gruppen im Hinblick auf die Erfahrung der Beratungsstellen mit den selteneren Behinderungsbildern (s. o.), zeigt sich das in Abbildung 2 dargestellte Bild. Die Hälfte der Leitungen von Beratungsstellen mit umfassender Erfahrung äußerte, dass sich die Beratungsanliegen von Familien mit einem Kind mit Behinderung von den Anliegen der Familien ohne Behinderung unterscheiden, während die andere Hälfte hier keinen Unterschied feststellen kann. Die Befragten begründeten die Unterschiede in den Beratungsanlässen vor allem damit, dass mit dem Thema Behinderung spezielle Belastungssituationen für die Familie einhergehen würden, die andere Familien nicht hätten. Sie nannten hier insbesondere die Auseinandersetzung mit der Behinderung, den Umgang mit „Enttäuschungen von Lebensträumen“ und die Tatsache, dass Familien sich mit der Dauerhaftigkeit von Belastungssituationen abfinden müssen. Außerdem wurden die Themen Abhängigkeit der Kinder mit Behinderung von den Eltern, Umgang mit negativen sozialen Reaktionen der Umwelt sowie andere Zukunftsperspektiven neben Fragen zur Schulwahl und dem Umgang mit einem besonderen Schulsystem benannt. Mehrere Befragte führten aus, dass der Anmeldegrund der Familien mit einem behinderten Kind zwar häufig ein anderer sei, sich in der Beratung aber später bekannte Themen wiederfänden. So sagten zwei Leitungen: „Nach unserer bisherigen Einschätzung können Familien mit einem behinderten Angehörigen im Prinzip die gleichen Probleme = Beratungsanlässe aufweisen wie Familien ohne behinderten 70 60 50 40 30 20 10 0 Unterscheiden sich die Beratungsanlässe von Familien mit Kindern mit Behinderung von Familien ohne Behinderung? umfassende mittlere wenig Kontakterfahrung Kontakterfahrung Kontakterfahrung ja nein weiß nicht 47 47 6 21 63 16 20 64 16 Abb. 2 Einschätzung zur Unterschiedlichkeit der Beratungsanlässe von Familien mit und ohne Kind mit Behinderung in Abhängigkeit der Kontakterfahrung (Angaben in Prozent) VHN 2 | 2017 139 CHRISTIAN WALTER-KLOSE Inklusion in der Erziehungsberatung FACH B E ITR AG Angehörigen. Allerdings kommen im Fall einer kindlichen oder elterlichen Behinderung noch zusätzliche Belastungen hinzu, die wiederum die Bewältigung aller familiären Probleme zusätzlich erschwert.“ „Die Unterschiede sind nicht gravierend, aber es geht dann doch immer mit um die Behinderung, die Familie lebt anders und muss mit der Behinderung umgehen. Viele/ die meisten Themen sind aber vergleichbar, da wir keine behinderungsspezifische oder förderspezifische Beratung machen.“ Die besondere Herausforderung zeigt sich laut Erfahrungen der Befragten in einer hohen Belastung der Familie und ihrer Mitglieder. Probleme mit der Auseinandersetzung mit der Behinderung, Partnerprobleme, die Situation von Geschwistern sowie die Familiendynamik seien oft Gegenstand der Beratung und könnten mit den gewohnten Methoden der Beratung beantwortet werden. Auf die Frage nach Anliegen der Familien, die von der Erziehungsberatungsstelle abgelehnt werden müssten, wurden medizinische und behinderungsspezifische Fragen zur Symptomatologie, Diagnostik oder spezifische Therapien, zum Sozialrecht oder zur Versorgungsstruktur im Rahmen der Medizin und Behindertenhilfe genannt. Hier würden die Beraterinnen und Berater an „Spezialisten“ weiterverweisen. Auch spezifische Fördermaßnahmen, mit Ausnahme der Förderung nach § 35 a SGB VIII, oder Therapien zur Bewältigung oder Kompensation von Behinderung würden von Beratungsstellen abgelehnt. Einige Befragte nannten hier explizit die Leistungen der Frühförderung oder sagten, dass man für Therapien und Fördermaßnahmen im Zusammenhang mit diagnostizierten Behinderungen nicht zuständig sei, da man selbst keine Finanzierung über den überörtlichen Sozialhilfeträger erhalte. Sofern möglich, würde bei derartigen Anfragen an spezifische Einrichtungen weitervermittelt. Ablehnungen würden auch ausgesprochen, wenn ein umfassenderes Beratungsangebot notwendig, aber keine Barrierefreiheit gegeben wäre oder regelmäßige Hausbesuche als nicht möglich eingestuft würden. Fünf Beratungsstellen antworteten, dass bei ihnen keine Anfrage von Familien mit einem behinderten Kind abgelehnt würde. Ein Befragter drückte dies folgendermaßen aus: „Wir lehnen Anfragen nicht von vornherein ab. Sollte es eine spezielle Einrichtung geben, die in einem Teilbereich über mehr Kompetenzen verfügt, würden wir Eltern darüber informieren.“ Zusammengenommen lässt sich feststellen, dass Familien mit einem Kind mit Behinderung sowohl mit familiären Beratungswünschen als auch kindbezogenen Beratungsanliegen auf die Beratungsstellen zukommen, wobei Letztere häufig Ursache für Ablehnung und Weiterverweis an andere Dienstleister sind. 6.6 Anpassungserfordernisse und Gelingensbedingungen Wechselt man die Erhebungsperspektive und fragt die Vertreter der Beratungsstellen, ob sich die Arbeit mit den Familien mit einem Kind mit Behinderung von der Arbeit mit Familien ohne behindertes Kind unterscheidet, betonten 45 % der Befragten, dass es aus ihrer Sicht keine Unterschiede gäbe. 35 % beschrieben die Arbeit dagegen als unterschiedlich, 20 % waren hier unsicher. Auch hier zeigt sich ein Unterschied in Abhängigkeit der Erfahrungen mit den verschiedenen Behinderungsbildern. Ebenso wie bei der Frage zu den familiären Anliegen reduziert sich die Prozentzahl der Unsicherheitsantworten „weiß nicht“, und der Anteil der Personen, die einen Unterschied in der Arbeit benennen, steigt deutlich - hier auf 56 %. VHN 2 | 2017 140 CHRISTIAN WALTER-KLOSE Inklusion in der Erziehungsberatung FACH B E ITR AG Als Unterschiede in der Arbeit benannten die Befragten insbesondere Themen, mit denen man als Beratender konfrontiert und zu denen Fach- und Methodenwissen benötigt wird. So wurde beispielsweise ausgeführt, dass das Kind mit Behinderung häufig eine besondere Stellung in der Familie habe, sodass die Familiendynamik, Geschwisterbeziehungen und Bindungserschwernisse im Zusammenhang mit der Behinderung beobachtet und besonders berücksichtigt werden müssten. Hinsichtlich der Beratungsbesonderheiten wurde darauf hingewiesen, dass Beratungen häufig mehr Zeit in Anspruch nähmen und Gespräche mit den Kindern in „einfacher Sprache“, z. B. bei einem Kind mit geistiger Behinderung, oder „lauter“ bei einem Kind mit Hörschädigung durchgeführt werden müssten. Weiter war es den Befragten wichtig anzumerken, dass etablierte Methoden manchmal nicht greifen würden und spezifische Methoden zum Einsatz kommen müssten. Auch sei Fachwissen zu Unterstützungsstrukturen für Familien mit Behinderung im Bereich der Behindertenhilfe und Medizin (z. B. zu Sozialpädiatrischen Zentren, Frühförderung) ebenso notwendig wie der Umgang mit der Tatsache, dass Beraterinnen und Berater häufiger mit den Themen Trauer und Hilflosigkeit konfrontiert seien. Organisations- und Strukturmerkmale, die zu einer gelungenen Beratungsarbeit beitragen, wurden im vorletzten großen Block der Erhebung behandelt. Die Teilnehmenden wurden gefragt, welche Bedingungen im Hinblick auf das Gebäude, das Beratungsangebot, das Personal und die Organisation notwendig seien. Die Antworten der Beteiligten sind in Tabelle 5 zusammengefasst dargestellt, wobei zunächst die Antworten der Beratungsstellen aufgeführt sind, die bereits eine umfassende Kontakterfahrung haben. Ergänzende Aspekte von den weniger erfahrenen Beratungsstellen werden im Folgenden ergänzt und in der zweiten Spalte aufgeführt. Dieses Vorgehen wird gewählt um sicherzustellen, dass die Ergebnisse zu den Gelingensbedin- Abb. 3 Einschätzung zur Unterschiedlichkeit der Beratungsarbeit bei Familien mit und ohne Kind mit Behinderung in Abhängigkeit der Kontakterfahrungen (Angaben in Prozent) 60 50 40 30 20 10 0 umfassende mittlere wenig Kontakterfahrung Kontakterfahrung Kontakterfahrung ja nein weiß nicht 56,3 37,5 6,3 31,6 47,4 21,1 24 48 28 Unterscheidet sich die Arbeit mit den Familien von Kindern mit Behinderung von der Arbeit mit Familien ohne Behinderung? VHN 2 | 2017 141 CHRISTIAN WALTER-KLOSE Inklusion in der Erziehungsberatung FACH B E ITR AG Beratungsstellen mit Erfahrungen mit allen Formen der Behinderung Beratungsstellen mit Erfahrungen mit einigen Formen der Behinderung Gebäude und Raumausstattung n Barrierefreier Zugang n Gute Ausschilderung n Gute Erreichbarkeit (Parkplatz, ÖPNV) n Behindertengerechte Toilette n Behindertengerechte Raumgestaltung n Übersichtliche Raumausstattung n Große Räume n Reizfreier Raum n Helle Ausstattung (Licht) n Behindertengerechtes Spielmaterial n Gut ausgestattetes Spielzimmer n Spezielle therapeutische Materialien zur besseren Veranschaulichung des Verbalen n Material, das die Sinne anspricht, „Übersetzungshilfen“ n Besondere Räumlichkeiten (z. B. Art von Snoezelen, Wasserklangbett, sensorische Integration) Beratungsangebot (Methodik, Setting) n Bestehendes Repertoire ausreichend (VT, systemisch, …) n Erweiterte Kommunikationsmöglichkeiten (leichte Sprache, Gebärden, Unterstützte Kommunikation) n Einsatz von Fotos oder Bildern zur Visualisierung n Videogestütztes Arbeiten n Kleinschrittiges Vorgehen, mehr Zeit n Umgang mit Assistenz n Aufsuchende Angebote n Behinderungsgerechte Methoden und Materialien n Spezifische Diagnostik n Arbeit mit Gebärdendolmetscher Personal n Haltung: Akzeptanz und Wertschätzung gegenüber Menschen mit Behinderung n Offenheit, Flexibilität und Kreativität (Anpassung der Methoden) n Behinderungsspezifisches Wissen und dadurch ausgelöste Probleme (Basiswissen) n Fortbildungen n Vernetzung mit spezialisierten Systemen der Medizin und Behindertenhilfe n Multiprofessionelles Team n Erweiterung des Personals n Heil- und sonderpädagogisch qualifiziertes Personal n Personal mit Erfahrung mit Menschen mit Behinderung (Psychologen, Sozialpädagogen) Organisatorische Abläufe n Mehr Zeit n Barrierefreie Homepage, Infobroschüren in einfacher Sprache n Werbung und Information über inklusives Beratungsangebot n Informiertes und geschultes Sekretariat (Finanzierungsfragen bei Kooperation) n Hausbesuche, Fahrdienst n Vernetzung in der Gemeinde n Rückhalt vom eigenen Träger n Mehr Abendtermine (da Kinder häufig ganztags betreut werden) Tab. 5 Gelingensbedingungen inklusiver Erziehungsberatung aus Sicht der erfahrenen und weniger erfahrenen Beratungsstellen VHN 2 | 2017 142 CHRISTIAN WALTER-KLOSE Inklusion in der Erziehungsberatung FACH B E ITR AG gungen für eine inklusive Erziehungsberatung auch wirklich auf Erfahrungen mit unterschiedlichen Behinderungen beruhen, aber gleichzeitig die bedeutsamen Hinweise der weniger erfahrenen Beratungsstelle nicht vergessen werden. Fragte man nach speziellen Angeboten in den Beratungsstellen bezüglich der klassischen Handlungsfelder Diagnostik, Gruppen für Kinder oder Eltern, Präventionsarbeit in der Schule und Informationsveranstaltungen, wurde eine Vielzahl von Angeboten für Kinder genannt, die von seelischer Behinderung bedroht sind, Verhaltensstörungen zeigen, AD(H)S, Legasthenie oder Dyskalkulie haben. Vereinzelt wurden institutionalisierte Angebote für Familien und Kinder mit geistiger, körperlicher oder mehrfacher Behinderung oder Autismus erwähnt. Zum Abschluss der Erhebung interessierte die Einschätzung der Leiterinnen und Leiter, inwiefern die Erziehungsberatung von Kindern mit allen möglichen Formen von Behinderung eine Aufgabe für die Erziehungsberatungsstellen sei. Die Antworten auf diese Frage fielen recht eindeutig aus: 84 % aller Beratungsstellen und 94,1 % der Beratungsstellen mit umfassender Erfahrung sahen sich für die Beratung von Familien mit einem Kind mit Behinderung zuständig (vgl. Abbildung 4), während 11,1 % aller Beratungsstellen auf die Zuständigkeit anderer Einrichtungen und das System bestehender Hilfen in der Region verwiesen. 7 Interpretation und Fazit Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen, dass die Erziehungsberatung von Familien mit einem Kind mit Behinderung bereits Alltag einer überwiegenden Anzahl an Beratungsstellen in Bayern ist und gut ein Drittel aller Erziehungsberatungsstellen Erfahrungen mit der Beratung von Familien mit Kindern mit unterschiedlichen Formen von Behinderung haben, wobei - in der Regel - vor allem Fragen der 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Ist Erziehungsberatung für Familien von Kindern mit unterschiedlichen Behinderungen aus Ihrer Sicht eine Aufgabe für die Erziehungsberatungsstellen? Alle umfassende mittlere Kontaktwenig Kontakt- Beratungsstellen Kontakterfahrung erfahrung erfahrung ja nein weiß nicht 11,1 4,8 84,1 5,9 94,1 15 5 80 11,5 7,7 80,8 Abb. 4 Einschätzung zur Zuständigkeit in Abhängigkeit der Erfahrung mit der Beratung von Familien mit einem Kind mit Behinderung (Angaben in Prozent) VHN 2 | 2017 143 CHRISTIAN WALTER-KLOSE Inklusion in der Erziehungsberatung FACH B E ITR AG Erziehung und der familiären Situation Gegenstand der Beratung sind, während spezifische Einzelförderungen und Therapien für Kinder mit geistiger und/ oder mehrfacher Behinderung abgelehnt werden. Dies unterstreicht einerseits die Bedeutung der Erziehungsberatung für das Versorgungsnetzwerk für Familien mit einem Kind mit Behinderung, die auch von Lehrkräften (z. B. Walter- Klose u. a. 2016) oder Ärzten (Bode 2014) benannt wird. Andererseits wird aber auch deutlich, dass das komplexe Angebot der Erziehungsberatung, wie es im Qualitätsstandard 22 (vgl. bke 1999) benannt ist, insbesondere für Kinder mit geistiger, körperlicher und/ oder wahrnehmungsbezogener Behinderung nicht flächendeckend als Angebot zur Verfügung steht. Inwiefern diese Arbeitsteilung und der Verweis auf andere Stellen, die laut 30 % der Befragten den Bedarf an Erziehungsberatung für Familien mit einem Kind mit Behinderung abdecken, dem Bedarf der Familien gerecht wird, muss weiter erforscht werden. Es sollte regional untersucht und beschrieben werden, welche Unterstützungsbedürfnisse von Eltern durch welche Stellen erfüllt werden und welche Möglichkeiten und Grenzen der Begleitung von Familien mit einem Kind mit Behinderung im Rahmen der jeweiligen Angebote bestehen. Die durchgeführte explorative Studie zeigt auf, dass eine Erweiterung des Angebots für Erziehungsberatungsstellen Anpassungen im Bereich der Arbeitsmethodik und Organisation der Erziehungsberatung erfordert, wie sie in Tabelle 5 beschrieben sind. Auch wenn diese Merkmale wichtige Impulse für den Aufbau eines inklusiven Erziehungsberatungsangebots bieten können, sind sie als erste Überlegungen der Befragten zu bewerten. Weitere Forschung unter Einbeziehung der Expertise sozialpädiatrischer Zentren sowie der Erfahrungen im internationalen Kontext wären ebenso wichtig wie eine Perspektive, in der Merkmale der Behinderung, der Bedarf der Familie und Forderungen an die Beratungsstellen in Beziehung gesetzt würden: Welche Bedingungen erfordert beispielsweise die Beratung einer Familie eines Kindes mit Autismus oder mit mehrfacher Behinderung? Als letzter Hauptbefund dieser Studie kann erwähnt werden, dass vor allem die Frage der Finanzierung der Angebote und die Klärung der Zuständigkeiten der Kostenträger aus dem Gesundheits- und Rehabilitationssystem sowie aus der Jugend- und Sozialhilfe Hindernisse für die Umsetzung der Inklusion im Bereich der Erziehungsberatung darstellen können. Es scheint Unklarheit darüber zu bestehen, ob und wenn ja für welche klassischen Angebote die Erziehungsberatung zuständig ist und für welche nicht. Verbunden mit der eher familienbezogenen Ausrichtung der niederschwelligen Hilfe der Erziehungsberatung und der kindbezogenen Dienstleistung der Behindertenhilfe besteht die Gefahr, dass familienbezogene Angebote bei vorliegender Behinderung des Kindes (insbesondere nach der Frühförderung) nicht mehr finanziert werden. Gerade beim Ausbau inklusiver Bildung und dem Bemühen, allgemeine Schulen als Alternativen zu Förderschulen aufzubauen, ist dringend eine Klärung vonnöten, damit die Familien, die eine Vielzahl von Belastungen erleben, angemessene Hilfe erfahren. Literatur bke (1999): Qualitätsprodukt Erziehungsberatung. Materialien zur Qualitätssicherung in der Kinder- und Jugendhilfe (QS 22). Fürth: Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V. bke (2015): Informationen für Erziehungsberatungsstellen. 1/ 15. Fürth: Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V. BMAS/ Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2013): Teilhabeberichtder Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen. Teilhabe - Beeinträchtigung - Behinderung. Bonn: BMAS, Stand August Bode, H. (2007): Sozialpädiatrische Zentren: Bei Entwicklungsstörungen im Kindesalter bewährt. 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München: Reinhardt Anschrift des Autors Dr. phil. Christian Walter-Klose Universität Würzburg Lehrstuhl für Sonderpädagogik 2 Wittelsbacherplatz 1 D-97074 Würzburg Tel.: +49 (0) 9 31 3 18 08 63 christian.walter-klose@uni-wuerzburg.de