Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2017.art16d
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Rezension: Luchsinger, Katrin (2016): Die Vergessenskurve. Werke aus psychiatrischen Kliniken in der Schweiz um 1900. Eine kulturanalytische Studie. Zürich: Chronos Verlag. 552 S., EUR 71,-
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Christian Mürner
Luchsinger, Katrin (2016): Die Vergessenskurve. Werke aus psychiatrischen Kliniken in der Schweiz um 1900. Eine kulturanalytische Studie Zürich: Chronos Verlag. 552 S., € 71,–
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VHN 2 | 2017 173 REZE NSION E N Luchsinger, Katrin (2016): Die Vergessenskurve. Werke aus psychiatrischen Kliniken in der Schweiz um 1900. Eine kulturanalytische Studie Zürich: Chronos Verlag. 552 S., € 71,- Die Schweiz scheint reich an künstlerischen Arbeiten, die in psychiatrischen Einrichtungen um 1900 entstanden sind. Bis vor Kurzem waren diese Werke in Krankenakten verborgen, nun sind über 5’000 in einer Bilddatenbank (siehe www. kulturgueter.ch) erfasst. Im Rahmen des Forschungsprojekts „Bewahren besonderer Kulturgüter“ untersuchte ein Team unter Leitung der Kunsthistorikerin Katrin Luchsinger die Sammlungen von achtzehn kantonalen Kliniken u. a. in Münsingen, Herisau, Rheinau, in der Waldau, im Burghölzli (S. 209 -279). Da die meisten der Arbeiten den Krankenakten beiliegen, verpflichtet dies per Gesetz aufgrund des Schutzes der persönlichen Daten zur Anonymisierung des Namens der Urheber. Durch die hinzukommende Entmündigung gestand man ihnen auch keine Autorschaft an ihren Werken zu. Nur wenige wurden namentlich und öffentlich bekannt und als Künstler ernst genommen, wie Adolf Wölfli (1864 -1930), Aloïse Corbaz (1886 -1964) oder Johanna Natalie Wintsch (1871 -1944). Katrin Luchsinger hat in ihrem neuen Buch mit dem Titel „Die Vergessenskurve“ das Umfeld dieser künstlerischen Arbeiten aus der schweizerischen Psychiatrie umfassend dargestellt und auch in vier monografischen Untersuchungen detailliert vorgestellt. Der Titel „Die Vergessenskurve“ steht im Zusammenhang eines Experiments des Psychologen Hermann Ebbinghaus, der sinnlose Silbenreihen auswendig so oft wiederholte, bis er feststellen konnte, was er nicht mehr vergaß, ca. 20 Prozent (wobei die auf dem Buchtitel reproduzierte Kurve entgegen der Angabe nicht der „Vergessenskurve“ entspricht). Luchsinger nimmt die „Vergessenskurve“ (S. 15) als Symbol für den Umgang mit den künstlerischen Arbeiten, die in der Psychiatrie entstanden, verloren gingen und nur sporadisch beachtet wurden. Obwohl Luchsinger an manchen Stellen andeutet, was nicht mehr mit Sicherheit rekonstruiert werden kann, widerlegt ihr grandioses Buch in achtbarer Ambivalenz den Titel, denn sie macht beispielhaft deutlich, was alles dennoch rehabilitiert werden kann durch eine präzise Betrachtung. Die Werke waren abhängig vom Blick und der Beachtung der Psychiater. Im Buch werden u. a. die Positionen von Walter Morgenthaler (1882 - 1965), Hermann Rorschach (1884 -1922), Eugen Bleuler (1857 -1939), Ludwig Binswanger (1881 - 1966), Moritz Tramer (1882 -1963) referiert. In VHN 2 | 2017 174 REZE NSION E N der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lassen sich die ersten Publikationen zum Thema Kunst, Psychologie und Psychiatrie lokalisieren. Kunst und Wahnsinn zu verbinden hatte zur Konsequenz, dass Kunst und Künstler einerseits pathologisiert wurden, andererseits Wahnsinn auch „als Metapher für gesellschaftliche oder subjektive Grenzerfahrung“ (136) benutzt werden konnte. Die Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung erfolgte meistens gegen den Willen der Betroffenen, ihre künstlerische Arbeit wurde „zwischen Arbeit, Beschäftigung, Freizeitbeschäftigung oder Therapie angesiedelt“. (172) „Die Werke wurden sehr selektiv aufbewahrt.“ (205) Der Anspruch der Psychiatrie war die Anpassung der Betroffenen an die Normalität, auch im Sinn der „Kulturleistung der Kunst auf Triebverzicht“ (206), obwohl die Mittel zur Heilung begrenzt waren. Ebenso kritisiert Luchsinger im Zusammenhang der Kunst- und Kulturgeschichte die Bezeichnungen Art brut, Outsiderart oder „zustandsgebundene Kunst“ als „eine einengende, ausschließliche Begrifflichkeit“, die „historisch und sozial nicht wandelbar“ sei und „die Urheber irgendwie ‚außerhalb‘ der Gesellschaft platzieren“ wolle. Dies enthebe die Werke der „sozialen Dynamik“ und übersehe damit das „wichtigste Anliegen der Patientinnen und Patienten, die sich künstlerisch äußerten“. „Mit den Vermittlern von Outsiderart und Art brut teilt diese Untersuchung jedoch das Anliegen“, schreibt Luchsinger weiter, „Methoden und Konzepte zu entwickeln, um künstlerisches Schaffen von Laien den Kunst- und Kulturwissenschaften zuzuführen.“ (228) Die Vorbehalte gegenüber der ehrwürdigen Art brut und der Outsiderart als „Enklaven“, die die Kunsthistoriker angeblich entlasten, erscheinen hier ziemlich unvermittelt und sind nicht ohne Weiteres nachvollziehbar, weil im Rahmen der institutionellen Vorgaben die Personen als Patienten erscheinen, in ihrer künstlerischen Ausdrucksweise aber komplexer agieren, im Sinn des Satzes von Robert Walser: „Dichtet ein kranker Mensch gut, so gehört er als Dichter zu den gesunden.“ Die Werke galten damals zudem meistens als „Eigentum der Anstalt“, die Personen waren entmündigt. Aber die Urheber verfolgten mit den Werken die Intention, „ins Geschehen ihrer Zeit einzugreifen“ oder am „Zeitgeschehen teilzuhaben“, was zur „Aufgabe der Kunst“ (S. 337) gezählt werden kann. Luchsinger notiert: „Die Werke, so lautet die Hypothese, reflektieren die Bedingungen, unter denen sie entstanden sind, implizit und explizit.“ Wie diese Reflexion zu verstehen ist, wird ausführlich anhand der monografischen Untersuchungen der Werke von Eugénie P., der Lebensbeschreibung der Schneiderin Anna Z., den Dichtungen und Kippbildern des Müllers Hermann M. und den zahlreichen technischen Zeichnungen und Erfindungen von Heinrich B. vorgestellt. Als Fazit lässt sich sagen: Die „selbst gewählte künstlerische Arbeit diente der Selbstvergewisserung“. „Die Möglichkeit, einen Patienten einer psychiatrischen Anstalt am öffentlichen Leben teilhaben zu lassen, war hypothetisch vorhanden, wurde aber nicht genutzt. Diese Unterlassung macht die Kluft spürbar, die zwischen Teilhabe und Ausschluss bestand. Sie verleiht aber auch der Beschäftigung mit dem Werk eine besondere Aktualität.“ (435) Diese Aktualität wird durch das Buch von Katrin Luchsinger im Allgemeinen sowie mit prägnant ausgewählten Abbildungen optimal präsentiert. Dr. phil. Christian Mürner D-22529 Hamburg DOI 10.2378/ vhn2017.art16d
