Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2017.art36d
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Anteil und schulische Situation von Schülerinnen und Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung an Förderschulen in Nordrhein-Westfalen
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Tobias Bernasconi
In Nordrhein-Westfalen wird die sogenannte „Schwerstbehinderung“ im § 15 der AO-SF beschrieben. Schülerinnen und Schüler mit schwerer und mehrfacher Behinderung bilden eine heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Unterstützungsbedarfen. Die vorliegende Studie liefert einerseits Daten zur Verteilung der Schülerschaft und fokussiert andererseits pädagogische Bedarfe und Herausforderungen im Zusammenhang mit dieser Gruppe an den Förderschulen.
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309 VHN, 86. Jg., S. 309 -324 (2017) DOI 10.2378/ vhn2017.art36d © Ernst Reinhardt Verlag Anteil und schulische Situation von Schülerinnen und Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung an Förderschulen in Nordrhein-Westfalen Ergebnisse einer empirischen Untersuchung in den Förderschwerpunkten körperliche und motorische Entwicklung und geistige Entwicklung Tobias Bernasconi Universität zu Köln Zusammenfassung: In Nordrhein-Westfalen wird die sogenannte ‚Schwerstbehinderung‘ im § 15 der AO-SF beschrieben. Schülerinnen und Schüler mit schwerer und mehrfacher Behinderung bilden eine heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Unterstützungsbedarfen. Die vorliegende Studie liefert einerseits Daten zur Verteilung der Schülerschaft und fokussiert andererseits pädagogische Bedarfe und Herausforderungen im Zusammenhang mit dieser Gruppe an den Förderschulen. Schlüsselbegriffe: Schwere und mehrfache Behinderung, schulische Situation, AO-SF Proportion and School Situation of Pupils With Profound and Multiple Disabilities at Special Schools in North Rhine-Westphalia - Results of an Empirical Study in Schools Focussing on Physical and Motoric Development and on Mental Development Summary: Pupils with profound intellectual and multiple disabilities form a heterogeneous group with different needs for support. This study provides data on the share of these pupils in special schools in North Rhine-Westphalia and focuses on pedagogical demands and challenges. Keywords: PIMD, special school, intellectual disability FACH B E ITR AG 1 Ausgangslage Der aktuelle fachwissenschaftliche Diskurs zum Personenkreis der Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung zeigt unterschiedliche und z. T. gegensätzliche Zugänge, die auch durch die verwendete Begriffsvielfalt - z. B. ‚Schwerstbehinderung‘, ‚Schwerstmehrfachbehinderung‘, ‚komplexe Behinderung‘ oder ‚schwere geistige Behinderung‘ - verdeutlicht wird. Den unterschiedlichen Begriffen liegen bestimmte Sichtweisen zugrunde, die sich beispielsweise an medizinischen, psychologischen, erkenntnistheoretischen oder pädagogischen Erkenntnissen orientierten. Medizinisch-defizitär geprägte Sichtweisen fokussieren auf die Schädigung einer Person, während Definitionen, die sich innerhalb der sog. ‚Schwerstbehindertenpädagogik‘ entwickelt haben, die Schwere der Beeinträchtigung vordringlich als Resultat der (Nicht-) Verbundenheit des Einzelnen mit der sozialen VHN 4 | 2017 310 TOBIAS BERNASCONI Schülerinnen und Schüler mit schwerer Behinderung in NRW FACH B E ITR AG und kulturellen Umwelt sehen (vgl. z. B. Fornefeld 2008). Schwere Behinderung als Begriff ist damit nicht eindeutig definiert, sondern „höchstens vage umschrieben, häufig von Situation zu Situation wechselnd, also bedeutungsvariabel […]. Je nach Situation wird versucht, eine Formel zu finden, die deutlich macht, um wen es sich handeln soll.“ (Fröhlich 2014, 379) Auch in der Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung (AO-SF) des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen wurde der Aspekt der Schwerstbehinderung vormals im § 10 beschrieben. Infolge der Ratifizierung der UN- BRK 2009 wurde die AO-SF überarbeitet und der § 10 in den § 15 überführt. Als Begründung für die Überarbeitung wird angeführt, dass „Schwerstbehinderungen […] keine eigenständigen Behinderungen im Sinne der §§ 3 bis 7“ (MSW NRW/ Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2014, 10) ausmachen und es nicht Aufgabe der Schulaufsicht sei, „eine Behinderung nach medizinischen Maßstäben (…) festzustellen“ (ebd., 2). Im § 15 wird nunmehr die sogenannte ‚intensivpädagogische Förderung‘ beschrieben. Diese kann anerkannt werden, wenn der Förder- und Unterstützungsbedarf in einem Förderschwerpunkt „erheblich über das übliche Maß“ (MSW NRW 2016 a, o. S., § 15) hinausgeht. Dies stellt einen Unterschied dar zur vormaligen Definition von Schwerstbehinderung im Sinne einer Mehrfachschädigung. Die Anzahl der Schülerinnen und Schüler, bei denen intensivpädagogische Unterstützung nach § 15 anerkannt wird, entspricht somit nicht zwangsläufig der Anzahl an Schülerinnen und Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung im Sinne einer Mehrfachschädigung. 2 Fragestellung Im Zusammenhang mit der Schwierigkeit der Beschreibung der Personengruppe sowie der Veränderung des § 15 AO-SF ergeben sich folgende Forschungsfragen: 1. Wie hoch ist der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit schwerer und mehrfacher Behinderung im Sinne einer Mehrfachschädigung an Förderschulen in NRW? 2. Welche spezifischen pädagogischen Bedarfe bestehen bei dieser Schülergruppe mit Blick auf Unterricht und schulischen Alltag im Kontext der Förderschulen? 3 Forschungsstand Die Erhebung empirischer Daten zur Zusammensetzung der Schülerschaft an Förderschulen ist für die Organisation, die Gestaltung und auch die Durchführung pädagogischer Praxis eine hilfreiche Voraussetzung. Vereinzelte Studien haben in der Vergangenheit versucht, die Schülerschaft an den Förderschulen mit den Förderschwerpunkten geistige Entwicklung (im Folgenden FS GE) bzw. körperliche und motorische Entwicklung (im Folgenden FS KME) zu beschreiben. Grundinteresse der Studien ist zum einen die Überprüfung der in der Praxis geäußerte These, dass sich die Schülerschaft an den Schulen mit den genannten Förderschwerpunkten in den vergangenen Jahren deutlich verändert hat (vgl. Dworschak u. a. 2012), zum anderen wurden pädagogische Bedarfe ermittelt oder die schulische Praxis untersucht (vgl. Klauß u. a. 2006). Für die FS KME hat Wehr-Herbst (1997) im Schuljahr 1994/ 95 eine bundesweite Erhebung durchgeführt, die große regionale Unterschiede hinsichtlich des Anteils von Schülerinnen und Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung zeigt. Für den Erhebungszeitraum wird der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit geistiger und/ oder Schwerst- oder Mehrfachbehinderung für Nordrhein-Westfalen mit 38,4 % angegeben. In einer Längsschnittstudie für das Bundesland Bayern bezifferten Lelgemann und Fries (2009) den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit schwerer bzw. schwerster Behinderung mit 17,3 % bzw. 15,2 %. Eine Erhebung für das Bundesland Nordrhein-Westfalen von Kuckartz und Zöllner (2010) gibt an, dass 38,2 % VHN 4 | 2017 311 TOBIAS BERNASCONI Schülerinnen und Schüler mit schwerer Behinderung in NRW FACH B E ITR AG der Schülerinnen und Schüler einen Förderbedarf nach § 10 AO-SF haben. Hansen und Wunderer (2010, 17) geben in einer Querschnittsuntersuchung für NRW den Anteil der schwerstbehinderten Schülerinnen und Schüler mit 38,1 % an. Eine Studie für das Bundesland Rheinland-Pfalz aus dem Schuljahr 2014/ 15 von Scholtz, Wagner und Negwer (2016, 285) gibt den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit schwerer bzw. schwerster Behinderung (orientiert an der ICD 10) mit 13,8 % bzw. 24,2 % an. Für Förderschulen mit dem FS GE existieren insgesamt nur wenige Studien zur Beschreibung der Schülerschaft. Eine bundesweite Erhebung von Holtz und Nassal (1999) fokussiert anhand von Schulleiterfragebögen speziell Schülerinnen und Schüler mit schwerer und mehrfacher Behinderung. Bundesweit wird der Anteil der Schülergruppe nach freier Einschätzung durch die Schulleiterinnen und Schulleiter mit 33,7 % angegeben. Für Nordrhein- Westfalen unterscheiden sich die Werte nur gering mit 32,4 %. Die Studie zur Bildungsrealität von Kindern und Jugendlichen mit schwerer und mehrfacher Behinderung in Baden-Württemberg (BiSB) (vgl. Klauß u. a. 2006, 30) differenziert den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit schwerer und mehrfacher Behinderung nach Förderschulen für Geistigbehinderte (23,5 %), Förderschulen für Körperbehinderte (38,5 %) und Förderschulen für Geistig- und Körperbehinderte (27,9 %). Bei einem Schnitt von 28 % zeigen die Angaben der befragten Schulen jedoch eine enorme Spannbreite zwischen N = 1 bis zu N = 166 Schülerinnen und Schüler mit schwerer und mehrfacher Behinderung. Die Autoren machen zudem deutlich, dass aufgrund der fehlenden eindeutigen Definition die Kriterien für das, was als schwere und mehrfache Behinderung bezeichnet wird, von Schule zu Schule unterschiedlich sind (ebd., 29f.). Eine Studie für das Bundesland Bayern (Dworschak u. a. 2012) gibt den Anteil von schwerer bzw. schwerster geistiger Behinderung (orientiert an der ICD-10) an den FS GE mit 16,3 % bzw. 13,2 % an. Insgesamt zeigt sich beim Vergleich der Studien ein etwas höherer Anteil der hier fokussierten Schülerinnen und Schüler an den FS KME. Zudem wird die Schwierigkeit der Klassifikation der Schülergruppe aufgrund der nicht vorhandenen allgemeinen Definition alleine an den verwendeten Begrifflichkeiten („schwere“, „schwerste“, „komplexe“, „mehrfache“) deutlich. Einige Studien orientieren sich bei der Klassifikation der Personengruppe an der ICD-10, wenngleich betont wird, dass deren Verständnis insbesondere von schwerster Behinderung nicht dem Verständnis innerhalb der sonderpädagogischen Disziplinen entspricht. Autoren, Erhebungszeitpunkt Fokussierter Förderschwerpunkt Erhebungsgebiet Anteil an Schülerinnen und Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung Wehr-Herbst, 1994/ 95 Lelgemann/ Fries, 2009 Hansen/ Wunderer, 2010 Scholtz u. a., 2014/ 15 Holtz/ Nassal, 1999 Klauß u. a., 2002 -2004 Dworschak u. a., 2009/ 10 KME KME KME KME GE GE & KME GE Bundesweit Bayern NRW Rheinland-Pfalz Bundesweit Rheinland-Pfalz Bayern hier NRW: 38,4 % 32,5 % 38,1 % 38,0 % hier NRW: 32,4 % 28 % 29,5 % Tab. 1 Studien zum Anteil von Schülerinnen und Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung an den FS KME und FS GE VHN 4 | 2017 312 TOBIAS BERNASCONI Schülerinnen und Schüler mit schwerer Behinderung in NRW FACH B E ITR AG 4 Methode und Stichprobe Ein Grundproblem bei der Erhebung von Daten zur Schülerschaft mit schwerer und mehrfacher Behinderung stellt das Fehlen einer allgemeinen Definition bzw. die Vielzahl an Beschreibungsversuchen dar. Angaben über die Schülerinnen und Schüler hängen demnach maßgeblich von der zugrunde gelegten Definition sowie der subjektiven Vorstellung von schwerer und mehrfacher Behinderung ab. Um dennoch eine Verständigung zu ermöglichen, benötigt man für eine Befragung eine Arbeitsdefinition des Personenkreises, welche das Verständnis von schwerer und mehrfacher Behinderung transparent macht. Aufgrund des Anliegens der vorliegenden Studie, eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Schülergruppen innerhalb des § 15 AO-SF (Mehrfachschädigung vs. hoher Unterstützungsbedarf in einem Förderschwerpunkt) zu treffen, wurden Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung für die vorliegende Studie als eine heterogene Gruppe beschrieben, deren Gemeinsamkeiten sind: n ausgeprägte kognitive Beeinträchtigung und erhöhter Unterstützungsbedarf in den Bereichen Körperpflege, Ernährung, Mobilität und Kommunikation sowie n häufig starke sensorische Beeinträchtigungen und damit zusammenhängende Probleme im Bereich des Verhaltens. Die Beschreibung orientiert sich an der Charakterisierung der „International Association for the Scientific Study of Intellectual and Developmental Disabilities“ (IASSIDD), welche die hier fokussierte Personengruppe als „Individuals with profound intellectual and multiple disabilities“ (PIMD) beschreibt und präzisiert: „Individuals with profound intellectual and multiple disabilities form a heterogeneous group. The ,core group‘ consists of individuals with such profound cognitive disabilities that no existing standardized tests are applicable for a valid estimation of their level of intellectual capacity and who often have profound neuromotor dysfunctions for example, spastic tetraplegia. In addition to profound intellectual and physical disabilities, it has been demonstrated that they also frequently have sensory impairments. Individuals with PIMD form a physically very vulnerable group of persons with a high dependence on personal assistance for every day tasks, 24 hours a day.“ (SIRG/ PIMD 2008) Anders als die Charakterisierung der IASSIDD beschreibt die AO-SF intensivpädagogische Förderung bzw. ‚Schwerstbehinderung‘, wenn „bei einem Schüler oder einer Schülerin der Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung in den Förderschwerpunkten Geistige Entwicklung, Körperliche und motorische Entwicklung, Emotionale und soziale Entwicklung, Sehen oder Hören und Kommunikation erheblich über das übliche Maß“ (MSW 2016 a, o. S., § 15) hinausgeht. Zielgruppe der Studie waren Förderschulen mit den Förderschwerpunkten GE, KME oder GE und KME. Es wurden zwei Fragebögen entwickelt, die sich zum einen an die Schulleitungen und zum anderen an die Lehrpersonen richteten. Mit Bezug zur Forschungsfrage 1 erfragte der Schulleitungsfragebogen allgemeine Angaben zum Anteil der Schülerinnen und Schüler gemäß § 15, zu Schulbegleitungen sowie zu besonderen organisatorischen, strukturellen oder konzeptionellen Gegebenheiten innerhalb der Schule. Neben der Gesamtzahl der Schülerinnen und Schüler, die nach § 15 AO-SF als schwerstbehindert gelten, wurde auch nach der Zahl der Schülerinnen und Schüler gefragt, die dem §15 und der Arbeitsdefinition entsprechen. Der Fragebogen für die Lehrpersonen orientierte sich an der Forschungsfrage 2 und gliederte sich in verschiedene Abschnitte, die pädagogische Bedarfe der Schülerinnen und Schüler thematisierten. Die Lehrpersonen wurden gebeten, für Schülerinnen und Schüler ih- VHN 4 | 2017 313 TOBIAS BERNASCONI Schülerinnen und Schüler mit schwerer Behinderung in NRW FACH B E ITR AG rer Klasse, die der gegebenen Arbeitsdefinition entsprechen, jeweils einen Fragebogen auszufüllen. Der Fragebogen enthielt offene und geschlossene Fragen zu den Themen Unterstützungsbedarfe der Schülerinnen und Schüler, Unterrichtsgestaltung, Kommunikation und Interaktion sowie besondere Belastungen. Die Befragung der Lehrpersonen als Experten für ihre Schülerinnen und Schüler birgt dabei sowohl Vorals auch Nachteile. Den subjektiven Einschätzungen der Lehrkräfte kommt insbesondere im Kontext von schwerer und mehrfacher Behinderung eine hohe Gewichtung zu, da die Schülerinnen und Schüler oftmals nicht selber bzw. nur mit erhöhtem Aufwand zu befragen sind. Gleichzeitig ist bei der Einschätzung der Schülerinnen und Schüler die Kenntnis ihrer individuellen Bedarfe und Eigenschaften von großer Wichtigkeit. Aus diesem Grund wurde das fachliche sowie das personenbezogene spezifische Wissen der Lehrkräfte, ähnlich wie in anderen derart angelegten Studien, für diese Studie als Ressource genutzt, um gegenstandsadäquat und gleichzeitig ökonomisch eine möglichst große Stichprobe zu erhalten (vgl. Ratz/ Dworschak 2012, 14; Hansen 2012, 125). Beide Fragebögen wurden einem Pre-Test unterzogen und daraufhin inhaltlich und mit Blick auf die Verständlichkeit überarbeitet. Die Teilnahme an der Untersuchung war freiwillig, die Schulen sendeten die Fragebögen in einem vorfrankierten Rückumschlag ohne weitere Angaben zur Schule zurück, wodurch eine größtmögliche Anonymität gewährleistet war. In Nordrhein-Westfalen gibt es 116 öffentliche und private Förderschulen, die dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zugeordnet sind, 35 haben den primären Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung (davon einmal gymnasiale Oberstufe). Schulen in privater Trägerschaft wurden nicht in die Untersuchung mit einbezogen, sodass insgesamt nur 133 Schulen im letzten Quartal des Schuljahres 2015/ 2016 mit der Bitte um Teilnahme an der Befragung angeschrieben wurden. 53 Schulen haben bis zum Ende des Schuljahres an der Befragung teilgenommen, was einem Rücklauf von 39,8 % entspricht. Für die Auswertung wurden 52 vollständig ausgefüllte Schulleitungsfragebögen sowie 502 Lehrerfragebögen berücksichtigt. Die Daten wurden in SPSS eingegeben und einer deskriptiven Analyse unterzogen. Die Antworten auf die offenen Fragen wurden manuell nachcodiert, wobei induktiv Kategorien gebildet wurden. Die Kodierung erfolgte dabei durch drei Personen, um mögliche kognitive Verzerrungen zu minimieren. Im Anschluss wurden die Daten ebenfalls einer deskriptiven Auswertung unterzogen. 5 Ergebnisse 5.1 Auswertung Schulleitungsfragebogen Laut der amtlichen Schulstatistik für das Land NRW liegt die Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf an FS GE und FS KME für das Schuljahr 2015/ 16 bei 24.118, davon entfallen 17.404 auf den FS GE und 6.714 auf den FS KME (vgl. MSW NRW 2016 b, 18). Die Anzahl der durch die Schulleitungsfragebögen erfassten Schülerinnen und Schüler beträgt 7.724, d. h. 32,1 % der Untersuchungsgruppe. Diese teilt sich auf in 36,58 % Schülerinnen und 63,42 % Schüler, was der amtlichen Schulstatistik entspricht, in welcher die Anteile mit 36,47 % bzw. 63,53 % angegeben werden (vgl. ebd., 28f.). Als schwerstbehindert nach § 15 AO-SF werden von den Schulleiterinnen und Schulleitern 2.469 Schülerinnen und Schüler angegeben, was einem Anteil von 31,97 % entspricht. Als schwer und mehrfach behindert gemäß der angegebenen Arbeitsdefinition werden 1.608 Schülerinnen und Schüler bzw. 20,82 % klassifiziert. VHN 4 | 2017 314 TOBIAS BERNASCONI Schülerinnen und Schüler mit schwerer Behinderung in NRW FACH B E ITR AG Zwischen den einzelnen Schulen existieren mit Blick auf die realen Zahlen große Unterschiede. So schwankt die Anzahl an Schülerinnen und Schülern mit Schwerstbehinderung zwischen N = 1 und N = 153, was - bezogen auf die jeweilige Schülerschaft der Schulen - einem Anteil von 2,63 % bzw. 61,45 % entspricht. Bei der gegebenen Definition schwanken die Angaben zwischen N = 0 und N = 102 bzw. 49,04 %. Von den Schülerinnen und Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung gemäß Arbeitsdefinition hat knapp die Hälfte (49,88 %) eine individuelle Schulbegleitung. Auch hier ergibt sich zwischen den einzelnen Schulen ein heterogenes Bild mit Werten zwischen 22,2 % und 100 %, d. h. an manchen Schulen verfügt jede Schülerin bzw. jeder Schüler mit schwerer und mehrfacher Behinderung gemäß Arbeitsdefinition über eine Schulbegleitung. Hierzu ist anzumerken, dass knapp ein Fünftel der Schulen angibt, mit Poollösungen zu arbeiten, d. h. eine Integrationskraft unterstützt wechselnd mehrere Schülerinnen und Schüler im Schulalltag. 77,8 % der Schulen geben an, ein eigenes pädagogisches Konzept für die fokussierte Schülergruppe zu haben, bei 2 % ist ein solches aktuell in der Arbeit. Als besondere organisatorische bzw. strukturelle Maßnahmen geben die Schulleitungen überwiegend personelle Maßnahmen wie zusätzliche Stunden für Lehrpersonal (26,7 %) oder die Versorgung mit Integrationsbzw. Hilfskräften (20 %) an, homogene Klassen werden in 8,3 % (n = 5) der Schulen gebildet. 5.2 Auswertung Lehrpersonenfragebogen Die Lehrpersonenfragebögen beziehen sich nur auf Schülerinnen und Schüler gemäß der gegebenen Arbeitsdefinition. Durch die 502 Fragebögen konnten 31,2 % der 1.608 von den Schulleiterinnen und Schulleitern angegebenen Schülerinnen und Schüler mit schwerer und mehrfacher Behinderung erfasst werden. Das Alter der Schülerinnen und Schüler bewegt sich zwischen 6 und bis zu 25 Jahren, der Schnitt liegt bei 12,53 Jahren. 5.2.1 Unterstützungsbereiche und primäre unterstützende Personen Insgesamt zeigt sich erwartungsgemäß ein hoher Unterstützungsbedarf bei den Schülerinnen und Schülern. Der Bedarf an Unterstützung im Bereich Kommunikation und Körperpflege ist dabei am höchsten. (Abb. 1) Körperpflege Kommunikation Mobilität Ernährung Sonstiges 92,2 92,6 81,7 85,9 40,4 0 20 40 60 80 100 Abb. 1 Unterstützungsbereiche der Schülerinnen und Schüler (N=502, Angaben in Prozent, Mehrfachantworten möglich) VHN 4 | 2017 315 TOBIAS BERNASCONI Schülerinnen und Schüler mit schwerer Behinderung in NRW FACH B E ITR AG Unter der Kategorie Sonstiges konnten die Lehrpersonen weitere Unterstützungsbedarfe angeben. Dabei wird am häufigsten Unterstützung im Bereich des Verhaltens sowie in Unterrichtskontexten bzw. beim Arbeitsverhalten genannt. 7,8 % der Schülerinnen und Schüler benötigen permanente Unterstützung in allen Lebensbereichen. (Abb. 2) Arbeitsassistenz Spielen, Freizeit Sozialkontakte Unterstützung in allen Lebensbereichen Arbeitsverhalten Individuelle Förderangebote gesundheitliche Versorgung Begleitung im Unterricht Verhaltensregulation 26,4 18,5 14,6 11,2 9,8 7,8 5,4 4,4 2 0 5 10 15 20 25 30 Abb. 2 Zusätzliche individuelle Unterstützungsbedarfe der Schülerinnen und Schüler (N = 449, codierte offene Antworten, Angaben in Prozent) Ernährung Mobilität Kommunikation Körperpflege 36,2 45,2 5,4 13,3 42,9 45,1 3,5 8,4 60,1 33,4 1,9 4,6 25,7 45,7 9 19,6 Lehrperson Integrationshelfer FSJ/ BFD Krankenschwester Abb. 3 Primäre unterstützende Personen der Schülerinnen und Schüler (N= 502, Angaben in Prozent) VHN 4 | 2017 316 TOBIAS BERNASCONI Schülerinnen und Schüler mit schwerer Behinderung in NRW FACH B E ITR AG Mit Blick auf die angegebenen Unterstützungsbereiche zeigt sich die hohe Relevanz von Integrationshelfern, die in allen Bereichen außer Kommunikation mehrheitlich den Schülerinnen und Schülern Unterstützung geben. Personen, die ein freiwilliges soziales Jahr (FSJ) oder den Bundesfreiwilligendienst (BFD) absolvieren, stellen hier dagegen nur einen geringen Anteil. Im Bereich Kommunikation sind die Lehrpersonen die primäre Unterstützungsperson. (Abb. 3) Bis 30 Min. Bis 1 Std. Bis 2 Std. Bis 3 Std. Mehr als 3 Std. 22,5 15,3 13,5 29,4 51,2 31,9 27,2 48,3 22,5 21,5 17,8 14,7 0,5 6,8 6,6 4 3,4 24,6 35 3,7 Ernährung Mobilität Kommunikation Körperpflege Abb. 4 Zeitliche Unterstützungsbedarfe der Schülerinnen und Schüler innerhalb eines Schultages (N = 452, Angaben in Prozent) Kommunikationsprobleme Anfallserkrankung Selbststimulation Emotionale Ausbrüche Verweigerung von Nahrung Spucken Motorische Unruhe Verweigerung im Unterricht Selbstverletzendes Verhalten Schreien, Weinen, Lautieren Aggressives Verhalten 27,6 23,4 13,1 7,9 6,3 4,7 3,4 3,4 3,4 3,1 2,1 0 5 10 15 20 25 30 Abb. 5 Individuelle Verhaltensweisen der Schülerinnen und Schüler (N = 482, codierte offene Antworten, Angaben in Prozent) VHN 4 | 2017 317 TOBIAS BERNASCONI Schülerinnen und Schüler mit schwerer Behinderung in NRW FACH B E ITR AG Von den 502 Schülerinnen und Schülern erhalten 81,7 % (N = 410, Mehrfachantworten möglich) ein therapeutisches Angebot in der Schule, dabei mehrheitlich Physiotherapie (84,2 %), Ergotherapie (60,7 %) oder Logopädie (53,7 %). Die benötigte Zeit für die unterschiedlichen Unterstützungsbereiche im Rahmen eines Schultages liegt mehrheitlich bei ca. 1 Stunde. Für knapp 20 % der Schülerinnen und Schüler wird der Bedarf mit bis zu 2 Stunden angegeben. Mehr als 3 Stunden an Unterstützungsbedarf besteht für 35 % der Schülerinnen und Schüler im Bereich Kommunikation und für etwa jeden vierten im Bereich Mobilität. (Abb. 4) Beim Blick auf individuelle Verhaltensweisen der Schülerinnen und Schüler überwiegt in den Antworten mit 40 % aggressives bzw. selbstverletzendes Verhalten. Des Weiteren wird oftmals lautes Schreien, Weinen oder ständiges Lautieren genannt. Ferner finden sich Verhaltensweisen wie Selbststimulation, motorische Unruhe, Probleme bei der Nahrungsaufnahme oder emotionale Ausbrüche. Entgegen dem hohen Unterstützungsbedarf im Bereich Kommunikation werden Kommunikationsprobleme dagegen nur selten genannt. (Abb. 5) 5.2.2 Unterricht Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler mit schwerer und mehrfacher Behinderung verbringt die überwiegende Zeit des Tages im Klassenunterricht. Therapeutische Angebote nehmen im Tagesverlauf bis zu einem Viertel der Schulzeit ein, während Einzelförderung und Regenerationszeit bis zu 29,1 % bzw. 32,3 % des Tages angeboten werden. Einige wenige Schüler (n = 2) benötigen bis zu 100 % Regenerationszeit. (Abb. 6) Bei der Frage nach zusätzlichen Angeboten (N = 401, Mehrfachantworten möglich) wird Einzelförderung (52,1 %) bzw. Unterricht in homogenen Gruppen (44,7 %) für etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler genannt. Knapp ein Viertel erhält zusätzliche Förderung im Bereich der Unterstützten Kommunikation (23,6 %),Therapien (18,2 %) oder themengebundene außerunterrichtliche Zusatzangebote (AGs) (11,4 %). Rückzugsmöglichkeiten (N = 482, codierte offene Antworten) für die Schülerinnen und Schüler mit schwerer und mehrfacher Behinderung finden sich innerhalb der Schule vornehmlich im Nebenraum der Klasse (29 %) oder in Fachräumen, wie einem Entspannungs- oder Bewegungsraum (30,1 %). Für 17,6 % der Schülerinnen und Schüler existiert ein abgegrenzter Ruhebereich oder ein Bett bzw. Sitz- 0 -25 % 25 -50 % 50 -77 % 75 -100 % 11,5 55,6 88,5 57,4 24,3 29,1 11 32,3 53,2 11,4 0,5 9,8 11 3,9 0,5 Klassenunterricht Einzelförderung Therapie Regenerationszeit Abb. 6 Zeitlicher Anteil unterschiedlicher Angebote innerhalb eines Schultages (N = 432, Angaben in Prozent) VHN 4 | 2017 318 TOBIAS BERNASCONI Schülerinnen und Schüler mit schwerer Behinderung in NRW FACH B E ITR AG sack oder -kissen innerhalb der Klasse. Das Außengelände oder der Flur dienen für 10,1 % der Schülerinnen und Schüler als Rückzugsmöglichkeit. Des Weiteren gibt es Inselräume (5,4 %) oder Therapie- und Pflegeräume werden als Rückzugsmöglichkeit genutzt (8 %). Musik Kunst Berufsvorbereitung Hauswirtschaft Sport Sachunterricht Mathematik Deutsch, Sprache 81,4 81,1 38,6 31,7 20,4 9,7 9 6,3 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 Abb. 7 Alternative Angebote in Unterrichtsfächern (N = 502, Angaben in Prozent, Mehrfachantworten möglich) bei allen Themen Alle, bei individueller Anpassung und Unterstützung Erzählsituationen, Morgenkreis Basale, sinnlich-wahrnehmbare Angebote Lebenspraktische Situationen Handlungsorientierte Angebote Sachunterricht Bewegungsangebote Hauswirtschaft künstlerische oder musische Angebote 25,9 12,5 11,4 11,1 7,6 7,5 5,7 5,7 5,1 4,7 0 5 10 15 20 25 30 Abb. 8 Situationen, die eine gute Einbindung der Schülerinnen und Schüler in den Unterricht ermöglichen (N = 470, codierte offene Antworten, Angaben in Prozent) VHN 4 | 2017 319 TOBIAS BERNASCONI Schülerinnen und Schüler mit schwerer Behinderung in NRW FACH B E ITR AG Bezogen auf die inhaltliche Gestaltung von Unterricht gaben die Lehrkräfte Unterrichtsfächer an, in denen die fokussierten Schülerinnen und Schüler häufig (d. h. in der Mehrzahl der abgehaltenen Stunden) ein alternatives Angebot erhalten. Dabei stechen die Hauptfächer deutlich hervor, in Musik und Kunst gibt es am wenigsten alternative Angebote. (Abb. 7) Ein ähnliches Ergebnis liefert die Frage nach Themen, in denen es den Lehrpersonen gut gelingt, die Schülerinnen und Schüler einzubinden. Hier werden am häufigsten musisch-kreative Angebote genannt, gefolgt von Hauswirtschaft und Sport bzw. Bewegungsangeboten. 4,7 % der Befragten geben an, die Schülerinnen und Schüler bei allen Themen einbinden zu können. (Abb. 8) 5.2.3 Kommunikation und Interaktion Die Kommunikation zwischen den Lehrpersonen bzw. den Mitschülerinnen und Mitschülern und Schülerinnen und Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung erfolgt neben der (nicht immer vorhandenen) Lautsprache überwiegend über körpereigene Kommunikationsmittel wie Körperzeichen, Mimik oder Gestik bzw. kommt Körper- und Vitalzeichen eine kommunikative Funktion zu. (Tab. 2) Lehrperson Mitschülerinnen und Mitschüler Körper- und Vitalzeichen Mimik und Gestik Gebärden Kommunikationstafeln „Kleine Hilfen“ Komplexe elektronische Hilfen 48,1 92,2 22,5 26,3 50,1 16,7 32,2 87,5 18,1 14,7 41,4 11,4 Tab. 2 Kommunikationsmittel und -medien in der Kommunikation zwischen Lehrpersonen/ Mitschülern und Schülerinnen und Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung (N = 492, Angaben in Prozent, Mehrfachantworten möglich) Lehrperson Mitschüler Schulbegleitung Andere Person 87,9 23,2 42,8 62,3 61 40,9 7 8,6 primärer Kommunikationspartner im Alltag Interaktionspartner in der Pause Abb. 9 Primäre Kommunikations- und Interaktionspartner im Alltag und in der Pause (N = 492, Angaben in Prozent, Mehrfachantworten möglich) VHN 4 | 2017 320 TOBIAS BERNASCONI Schülerinnen und Schüler mit schwerer Behinderung in NRW FACH B E ITR AG Personalsituation Elternarbeit Gefühl, den SuS nicht gerecht zu werden Hoher Bewegungsdrang der SuS Schwierigkeiten in der Kommunikation SuS geht es ohne offensichtliche Ursache schlecht Geringe Teilhabe am Unterricht Körperlicher Aufwand durch Heben und Tragen Pflegebedürftigkeit Zeitliche Belastung Gesundheitliche Situation inkl. Anfallserkrankung Lautstärke, insb. Schreien Fremd- und autoaggressives Verhalten 22,3 19,5 10,2 10 8,5 5,5 5,5 4,2 4,2 3,2 3,2 2,6 1,1 0 5 10 15 20 25 Abb. 10 Belastende Faktoren für die Lehrpersonen in der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung (N = 500, codierte offene Antworten, Angaben in Prozent) Austausch mit anderen Schulen Supervision, psychologische Begleitung Mehr unterstützende Technologien Bessere Elternarbeit Fortbildung, Beratungen Kleinere Klassen Mehr UK-Material Mehr spezifisches Fördermaterial Mehr Personal: Schulbegleitungen Mehr Zeit Spezifische räumliche Ressourcen Mehr Personal: Lehrerstunden 18 14,1 10,5 8,2 5,4 4,4 3,5 2,8 2,8 0,5 0,2 0 5 10 15 20 25 30 35 29,5 Abb. 11 Wünsche der Lehrpersonen für die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung (N = 450, codierte offene Antworten, Angaben in Prozent) VHN 4 | 2017 321 TOBIAS BERNASCONI Schülerinnen und Schüler mit schwerer Behinderung in NRW FACH B E ITR AG Primäre Kommunikationspartner sind die Lehrpersonen oder die Schulbegleitung. Die Pause verbringen die Schülerinnen und Schüler mit schwerer und mehrfacher Behinderung mehrheitlich mit den Mitschülern. Hier sind die Lehrpersonen am wenigsten Interaktionspartner. (Abb. 9) 5.2.4 Belastungen und Wünsche aus Sicht der Lehrpersonen Aggressives Verhalten (Selbst- und Fremdaggression) und eine besondere Lautstärke der Schülerin bzw. des Schülers werden am häufigsten als Belastung in der schulischen Arbeit genannt. Ferner der gesundheitliche Zustand bzw. die Pflegebedarfe sowie damit verbundene Schwierigkeiten beim Handling. Insgesamt existieren hier viele Übereinstimmungen mit den Ergebnissen nach besonderen Verhaltensweisen der Schülerinnen und Schüler. (Abb. 10) Der Wunsch nach mehr Personal steht bei der Frage nach Maßnahmen oder Materialien zur Verbesserung der Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung deutlich im Vordergrund. Darüber hinaus werden spezifische Materialien und Räumlichkeiten sowie allgemein mehr Zeit genannt. (Abb. 11) 6 Diskussion der Ergebnisse Der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit schwerer und mehrfacher Behinderung in dieser Studie unterscheidet sich durch die genauere Definition der Schülerinnen und Schüler mit § 15 AO-SF von dem anderer Studien. Der Anteil an § 15 AO-SF entspricht der Schulstatistik des Landes NRW, der Anteil der Schülerinnen und Schüler nach vorgegebener Definition ist dagegen mit 20,4 % deutlich niedriger. Dies kann dahingehend interpretiert werden, dass innerhalb der Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit § 15 AO-SF verschiedene Untergruppen existieren, deren spezifische Fördersowie individuelle Unterstützungsbedarfe sich unterscheiden. Es macht aber auch deutlich, dass an den Förderschulen mit den Schwerpunkten GE und KME der Anteil der Schüler mit schwerer und mehrfacher Behinderung gemäß der Arbeitsdefinition nicht weiter angestiegen ist. Vielmehr kann die Aussage, dass sich die Schülerschaft an eben diesen Förderschulen verändert hat, so interpretiert werden, dass Schülerinnen und Schüler, die ebenfalls dem § 15 AO-SF entsprechen, jedoch nicht im Sinne einer Mehrfachschädigung, zunehmend an den Förderschulen unterrichtet werden. Zu beachten sind neben diesen allgemeinen Angaben vor allem die starken Schwankungen zwischen den einzelnen Schulen. Mit Blick auf die Schülerinnen und Schüler sticht neben der generellen komplexen Verschränkung einzelner Förderbereiche insbesondere hervor, dass Aspekte im Kontext ‚Verhalten‘ von den Lehrkräften einerseits als Besonderheit ihrer Schülerinnen und Schüler sowie andererseits als die größte Belastung innerhalb der Schule genannt werden. Herausforderndes Verhalten in all seinen Facetten ist folglich auch bei der Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit schwerer und mehrfacher Behinderung ein pädagogisch relevanter Aspekt, allerdings eingebettet in die Unterstützungsbereiche Ernährung, Mobilität, Kommunikation und Körperpflege. Der Blick auf die zeitlichen Bedarfe für die individuelle Unterstützung macht deutlich, welche Herausforderung ein Schultag in Bezug auf die Strukturierung und Planung der Unterstützungsangebote mit sich bringt, welche personellen Mittel nötig sind und auch, wie viel Zeit letztlich für den Unterricht bleibt. Werden auch die benötigten Therapieangebote und Ruhephasen berücksichtigt, wird ersichtlich, dass für Schülerinnen und Schüler mit schwerer und mehrfacher Behinderung ein Schultag etwa zu gleichen Teilen aus Unterricht und aus ergänzenden Förder- und Unterstützungsangeboten bzw. VHN 4 | 2017 322 TOBIAS BERNASCONI Schülerinnen und Schüler mit schwerer Behinderung in NRW FACH B E ITR AG Pflegemaßnahmen besteht. Diese besonderen Unterstützungsbedarfe sind zuvorderst anzuerkennen und schulstrukturell zu berücksichtigen. Es weist aber auch darauf hin, dass ‚Unterricht‘ im Kontext von schwerer und mehrfacher Behinderung u. U. einer Neukonzeption bedarf, die die individuellen Bedarfe der Schülerinnen und Schüler mit inhaltlichen Ansprüchen an Unterricht verbindet und für die Lehrkräfte umsetzbar macht. Die hohe Anzahl an individuellen zusätzlichen Angeboten lässt darauf schließen, dass aktuell noch vielfach differenzierte Angebote bestehen. Hier müsste genauer analysiert werden, wie diese zusätzlichen Angebote inhaltlich gestaltet sind und - mit Blick auf die hohe Zahl der Hilfskräfte, die primäre Bezugspersonen für die Schülerinnen und Schüler sind - wer sie durchführt. Es verweist gleichsam darauf, dass die Frage, wie basale Lernangebote in Unterrichtsprojekte in heterogenen Gruppen integriert werden können, weiterhin eine besondere Herausforderung und Aufgabe darstellt. Die Schülerinnen und Schüler kommunizieren überwiegend nonverbal bzw. über körpereigene Kommunikationsformen. Kommunikationsprobleme werden dagegen nur selten als Schwierigkeit genannt. Lautieren, Schreien oder Geräuschentwicklung wie Brummen usw. wird jedoch für viele Schülerinnen und Schüler als problematisches oder die Lehrpersonen belastendes Verhalten beschrieben. Hier ist zu bedenken, dass solche Verhaltensweisen zwar für die Organisation des Unterrichts als störend empfunden werden können, dass sie jedoch ggf. die einzigen Möglichkeiten für die betreffenden Personen sind, sich mitzuteilen. Auch wenn Schreien und Lautieren als Verhaltensproblem wahrgenommen wird, fordert es letztlich das Umfeld heraus, Maßnahmen zu erdenken, die dem Personenkreis Teilhabe an Kommunikation und Interaktion ermöglicht. Bedenkt man zusätzlich, dass der Großteil der Schülerinnen und Schüler bei der Kommunikation mit den Lehrpersonen und den Mitschülerinnen und Mitschülern auf Mimik und Gestik sowie Körper- und Vitalzeichen angewiesen ist, wodurch per se eine vermehrte Abhängigkeit von der Deutung der kommunizierten Inhalte durch die Bezugspersonen entsteht, wird deutlich, wie wenige Möglichkeiten zur eindeutigen bzw. initiierenden Kommunikation diese Menschen haben. In diesem Kontext fällt zudem auf, dass knapp ein Viertel der Schülerinnen und Schüler Kommunikationsförderung als zusätzliches Angebot zum Klassenunterricht erhält. Es wird dabei aber nicht ersichtlich, wer dieses Angebot gestaltet. Es kann jedoch zumindest angemerkt werden, dass Kommunikationsangebote außerhalb des Unterrichts nicht zwangsläufig in den Klassenalltag übertragen werden können, gerade wenn es sich um sehr individuelle Kommunikationsformen handelt. Auch hier wird ein schulstrukturelles Problem deutlich, da Kommunikation mit Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung individuelle Wege, ein tieferes Verständnis der Person und vor allem viel Zeit erfordert. Im Kontext Unterricht zeigt sich, dass der hier fokussierte Personenkreis den Großteil des Tages innerhalb des Klassenverbandes verbringt. Das unterrichtliche Angebot ist entsprechend darauf abgestimmt bzw. die Schülerinnen und Schüler erhalten spezifische Angebote innerhalb der Klasse durch eine Schulbegleitung oder ein Einzelangebot. Auch die große Anzahl an Rückzugsmöglichkeiten sowie die Aussage, dass die Pause überwiegend mit den Mitschülern verbracht wird, verdeutlicht, dass die Schülerinnen und Schüler Teil des Klassengeschehens und des Schulalltages sind. Der Blick auf die inhaltliche Gestaltung von Unterricht legt dagegen offen, dass es vor allem in den Hauptfächern schwierig ist, Angebote unter Einbezug von Schülerinnen und Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung umzusetzen. In Deutsch und Mathematik wird zwar traditionell häufig differenziert; das Ergebnis der durchgeführten Studie verdeutlicht jedoch eindringlich die VHN 4 | 2017 323 TOBIAS BERNASCONI Schülerinnen und Schüler mit schwerer Behinderung in NRW FACH B E ITR AG Schwierigkeit von gemeinsamem Unterricht in den Hauptfächern und macht damit auf die dringende Notwendigkeit aufmerksam, Konzepte für diesen Bereich zu entwickeln bzw. in die Praxis zu transferieren. Zusätzlich wünschen sich viele Lehrkräfte besseres bzw. geeigneteres spezifisches Fördermaterial, was ebenfalls auf die Notwendigkeit einer stärkeren Verbindung von Fachdidaktik und sonderpädagogischem Blickwinkel verweist. Die aus den Ergebnissen aufscheinende Schwierigkeit, Unterricht in heterogenen Klassen unter Einbezug von Schülerinnen und Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung auch in den Hauptfächern anzubieten, macht deutlich, dass es weiterhin an Konzepten und Ideen mangelt, Teilhabeansprüche der hier fokussierten Schülergruppe an kulturell bedeutsamen Bildungsinhalten zu sichern. 7 Einschränkungen der Studie und Ausblick Mit Blick auf die Arbeitsdefinition und die Konstruktion des Fragebogens muss kritisch gefragt werden, ob der Fokus der befragten Lehrkräfte möglicherweise unbewusst auf personale Unterstützungsbedarfe gelenkt wurde und soziale Teilhabebarrieren, die ggf. in ähnlichem Maße vorhanden sind, gar nicht benannt wurden. Zudem können Detailfragen, beispielsweise die Frage, welche Person welches Unterrichtsbzw. ergänzende Angebot durchführt, nicht beantwortet werden. Grundsätzlich besteht bei dieser Art der Befragung die Gefahr subjektiver Verzerrungen in der Einschätzung der Schülerinnen und Schüler bzw. das grundsätzliche Stellvertreterproblem bei empirischer Forschung im Kontext von schwerer und mehrfacher Behinderung (vgl. Bernasconi/ Keeley 2016). Auch gibt es keine Möglichkeit der Überprüfung der Angaben der Lehrkräfte mit Blick auf einzelne Schülerinnen und Schüler, bei gleichzeitiger Gewährleistung der Anonymität der Lehrpersonen wie der Schülerinnen und Schüler. Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass sich die Schülerschaft an den Förderschulen mit den Förderschwerpunkten geistige Entwicklung und körperliche und motorische Entwicklung weiter ‚heterogenisiert‘ und es für die Lehrkräfte eine zusätzliche und ansteigende Belastung darstellt, den zum Teil weit auseinander liegenden Bedürfnissen gerecht zu werden. Dies fordert die wissenschaftliche Pädagogik heraus, Handlungsvorschläge zu erarbeiten, welche die spezifischen Bedarfe der hier beschriebenen Schülergruppe mit allgemeinen Anforderungen des Lehrens und Lernens in heterogenen Gruppen stärker in Verbindung bringen. Der § 15 der AO-SF scheint dabei nicht als Instrument geeignet, um pädagogische Bedarfe zu analysieren oder aufzuzeigen, sondern hat lediglich auf schulstruktureller Ebene Einfluss auf die personelle Situation der einzelnen Schulen. Mit Blick auf die eher geringe Studienlage im Kontext schwerer und mehrfacher Behinderung wäre es wünschenswert, die doch dürftige empirische Lage in Zukunft zu erweitern, um Antworten auf die drängende Frage zu finden, wie die individuellen Unterstützungsbedarfe von Schülerinnen und Schülern mit schwerer und mehrfacher Behinderung und die inhaltlichen Anforderungen von Schule besser verbunden werden können. Literatur Bernasconi, T.; Böing, U. (2015): Pädagogik bei schwerer und mehrfacher Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer Bernasconi, T.; Keeley, C. (2016): Empirische Forschung mit Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung. In: Teilhabe 55, 10 -15 Dworschak, W.; Kannewischer, S.; Ratz, C.; Wagner, M. (2012): Schülerschaft mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung. Eine empirische Studie. Oberhausen: Athena Fornefeld, B. (2008): Menschen mit Komplexer Behinderung. Selbstverständnis und Aufgaben der Behindertenpädagogik. 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Tobias Bernasconi Universität zu Köln Humanwissenschaftliche Fakultät Pädagogik für Menschen mit Beeinträchtigungen der körperlichen und motorischen Entwicklung Habsburgerring 1 D-50674 Köln Tel.: +49 (0) 2 21 4 70 55 25 E-Mail: tobias.bernasconi@uni-koeln.de
