eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 86/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2017.art41d
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2017
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Rezension: Fischer, Erhard / Ratz, Christoph (Hrsg.) (2017): Inklusion - Chancen und Herausforderungen für Menschen mit geistiger Behinderung, Weinheim: Beltz Juventa. 326 S., EUR 34,95 (Print) /?EUR

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2017
Hans-Jürgen Pitsch
Laut und zuweilen aggressiv äußern sich Befürworter einer radikalen Inklusion, häufig aus akademischen Kreisen, leise, zurückhaltend und oft nur hinter vorgehaltener Hand Skeptiker, häufig aus der praktischen Arbeit. Der radikalen Inklusionsforderung der UN-Behindertenrechtskonvention begegnet der Verweis auf Schwierigkeiten der Umsetzung in der Praxis. Die übliche Antwort ist dann, die gesamte Gesellschaft müsse ihre Einstellungen und Haltungen ändern, womit das Inklusions-Anliegen schnell in den Bereich der Utopie verwiesen wird. Erst allmählich werden auch Stimmen laut, die an Inklusion als Ziel festhalten, das es nicht von heute auf morgen, sondern allmählich zu erreichen gilt, und die nach Wegen suchen, die aktuellen Probleme der Segregation Schritt für Schritt zu überwinden.[…]
5_086_2017_4_0010
VHN 4 | 2017 358 REZE NSION E N Fischer, Erhard; Ratz, Christoph (Hrsg.) (2017): Inklusion - Chancen und Herausforderungen für Menschen mit geistiger Behinderung Weinheim: Beltz Juventa. 326 S., € 34,95 (Print)/ € 31,99 (E-Book) Laut und zuweilen aggressiv äußern sich Befürworter einer radikalen Inklusion, häufig aus akademischen Kreisen, leise, zurückhaltend und oft nur hinter vorgehaltener Hand Skeptiker, häufig aus der praktischen Arbeit. Der radikalen Inklusionsforderung der UN-Behindertenrechtskonvention begegnet der Verweis auf Schwierigkeiten der Umsetzung in der Praxis. Die übliche Antwort ist dann, die gesamte Gesellschaft müsse ihre Einstellungen und Haltungen ändern, womit das Inklusions-Anliegen schnell in den Bereich der Utopie verwiesen wird. Erst allmählich werden auch Stimmen laut, die an Inklusion als Ziel festhalten, das es nicht von heute auf morgen, sondern allmählich zu erreichen gilt, und die nach Wegen suchen, die aktuellen Probleme der Segregation Schritt für Schritt zu überwinden. Diesen Weg gehen Erhard Fischer und Christoph Ratz in dem von ihnen herausgegebenen Band zusammen mit 21 weiteren Autor/ innen in 17 Beiträgen, die vom vorschulischen (zwei Beiträge) über den schulischen (neun Beiträge) bis zum nachschulischen Bereich (sechs Beiträge) reichen. Sie decken ein breites Themenfeld ab, von einer historischen Aufarbeitung des Inklusionsgedankens über diagnostische und ethische Fragen, Probleme in der Praxis und einen ganz konkreten didaktischen Vorschlag bis zu psychologischen Erörterungen. Auch die Gesundheitsversorgung, mögliche Berufstätigkeiten und die Zukunft der Förderschule geistige Entwicklung werden angesprochen, um nur einige Themen zu nennen. Die Autor/ innen sind zumeist an einer Universität tätig; einige kommen auch aus der Praxis in Einrichtungen für Behinderte. Alle Beiträge bestechen durch ihre Ausgewogenheit. Radikal-utopistische Forderungen finden sich ebenso wenig wie glatte Ablehnungen des Inklusionsgedankens. Dafür ist in allen Beiträgen das Bemühen spürbar, Inklusion in Vorschule, Schule, Arbeit und Gesellschaft „machbar“ zu machen, Wege und Möglichkeiten aufzuzeigen, für Schwierigkeiten Lösungen anzubieten, aber auch mögliche Grenzen offenzulegen. Durchgehend führen die Argumentationsgänge zu einem nicht-einheitlichen System von Bildungs-, Beschäftigungs- und Lebensmöglichkeiten, das nicht für alle das Gleiche vorschreibt, sondern Wahlmöglichkeiten und der individuellen Selbstbestimmung Raum lässt. Damit werden auch Wege gewiesen, wie sich das Bildungssystem, die Arbeitswelt und schließlich auch die Gesellschaft dem Ziel einer möglichst vollständigen Inklusion annähern können. Nicht verschwiegen wird aber auch, dass diese Wege einen erheblichen Aufwand erfordern, an Willen, an Fachkompetenzen, an Planung und Organisation, an Materialien und an Personal einschließlich dessen Aus- und Fortbildung, auch an Möglichkeiten der Finanzierung. In Zeiten des großen Inklusions-Geschreis ist dies ein bemerkenswertes Buch, das Mut macht. Mut, das Ziel des Vermeidens von Trennungen und Separierungen nicht aus den Augen zu verlieren, aber auch den schwierigeren Weg der kleinen allmählichen Veränderungen zum Ziel hin zu gehen. Nicht Revolution, sondern geschickte Reform ist die Maxime. Ein Buch für alle, die noch selbstständig denken und entscheiden können und wollen und dies auch (geistig) behinderten Menschen ermöglichen möchten. Prof. Dr. Hans-Jürgen Pitsch D-66787 Wadgassen-Differten DOI 10.2378/ vhn2017.art41d