eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 87/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2018
871

Fachbeitrag: Produziert Pädagogik Exklusion?

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2018
Sven Jennessen
Andreas Kuhn
Michael Wagner
Die Forderung einer gleichberechtigten Teilhabe an Erziehung und Bildung gehört zu den grundlegenden Annahmen der modernen Pädagogik. Indem eine eigenständige institutionalisierte pädagogische Praxis Misserfolge primär den Zu-Erziehenden zurechnet, generiert sie aber zugleich Ungleichheit und Exklusion. Wird in diesem Zusammenhang von einem dadurch entstehenden Rest gesprochen, bezieht sich dieser nicht in erster Linie auf bestimmte exkludierte Kinder und Jugendliche, sondern verweist insbesondere auf ungelöste Probleme moderner Pädagogik. Im Hinblick auf Schüler / innen mit schwerer Behinderung am Bildungsort Schule erweisen sich Fragen der Anerkennung von Andersheit, didaktische Aspekte der Gestaltung von Bildungsprozessen und Möglichkeiten des interpersonellen Verstehens als besondere Herausforderungen in dem Versuch, individuelle Exklusionserfahrungen zu reduzieren.
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42 VHN, 87. Jg., S. 42 -52 (2018) DOI 10.2378/ vhn2018.art04d © Ernst Reinhardt Verlag Produziert Pädagogik Exklusion? Eine Analyse von Theorie und Praxis im Hinblick auf Menschen mit schwerer Behinderung Sven Jennessen Humboldt Universität Berlin Andreas Kuhn, Michael Wagner Universität Koblenz · Landau, Campus Landau Zusammenfassung: Die Forderung einer gleichberechtigten Teilhabe an Erziehung und Bildung gehört zu den grundlegenden Annahmen der modernen Pädagogik. Indem eine eigenständige institutionalisierte pädagogische Praxis Misserfolge primär den Zu-Erziehenden zurechnet, generiert sie aber zugleich Ungleichheit und Exklusion. Wird in diesem Zusammenhang von einem dadurch entstehenden Rest gesprochen, bezieht sich dieser nicht in erster Linie auf bestimmte exkludierte Kinder und Jugendliche, sondern verweist insbesondere auf ungelöste Probleme moderner Pädagogik. Im Hinblick auf Schüler/ innen mit schwerer Behinderung am Bildungsort Schule erweisen sich Fragen der Anerkennung von Andersheit, didaktische Aspekte der Gestaltung von Bildungsprozessen und Möglichkeiten des interpersonellen Verstehens als besondere Herausforderungen in dem Versuch, individuelle Exklusionserfahrungen zu reduzieren. Schlüsselbegriffe: Exklusion, gleichberechtigte Teilhabe, spezifische Herausforderungen Does Pedagogy Lead to Exclusion? An Analysis of Theory and Practice Regarding People with Severe Disabilities Summary: Modern pedagogy commonly demands an equal participation in education. In the process, failure is primarily attributed to the students. Thus, the independent institutional practice creates inequality and exclusion. The term ‘arising rest’ is used to point out unsolved problems of modern pedagogy instead of referring to excluded children. Regarding children with severe disabilities in school, it is necessary to address specific challenges, concerning the appreciation of otherness, didactical aspects and ways of facilitating mutual understanding in interaction with the aim to reduce individual experiences of exclusion. Keywords: Exclusion, equal participation, specific challenges FACH B E ITR AG 1 Eine spezifische Herausforderung der Pädagogik Die aktuelle Diskussion um Inklusion in der Pädagogik scheint in unterschiedlicher Hinsicht von einer Selbstverständlichkeit der Inklusion auszugehen. Die Frage ist scheinbar nicht mehr, ob Inklusion oder nicht, sondern nur noch, wie Inklusion gestaltet werden kann. So schreibt Vera Moser: „Die philosophische Rechtfertigung von Integration bzw. Inklusion (…) wird übrigens auch deshalb obsolet, weil seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention Inklusion nicht mehr begründungspflichtig ist.“ (Moser 2012, 2) Dennoch gelingt jenseits des geltenden Rechts die VHN 1 | 2018 43 SVEN JENNESSEN, ANDREAS KUHN, MICHAEL WAGNER Produziert Pädagogik Exklusion? FACH B E ITR AG Umsetzung inklusiver Bildungsansprüche nicht per se. Insbesondere im Hinblick auf Menschen mit einer sogenannten schweren Behinderung scheint dies nur sehr punktuell umgesetzt werden zu können (vgl. Lelgemann u. a. 2012). Nach wie vor ist diese Personengruppe in besonderer Weise von Exklusionserfahrungen betroffen. Der vorliegende Beitrag thematisiert mögliche Ursachen für diese Situation in Theorie und Praxis. Dabei wird in einem ersten theoretischen Analyseschritt zunächst der Frage nachgegangen, inwieweit Pädagogik selbst, im Rahmen der Herstellung von Inklusion, immer unvermeidbar Exklusion produziert, die für diese Personengruppe von Bedeutung ist. Der stärker an der schulischen Praxis von Schülerinnen und Schülern mit schwerer Behinderung orientierte zweite Analyseschritt analysiert zunächst, welche Bedeutung interpersonelle Verstehensprozesse für das Entstehen von Exklusion haben, um dann im Weiteren aufzuzeigen, wie mit Blick auf den Bildungsort Schule für diesen Personenkreis eine Reduktion von Exklusionserfahrungen möglich erscheint. Grundlage des Beitrags ist ein Inklusionsverständnis, das allen Lernenden unabhängig von ihren individuellen Merkmalen und Eigenschaften sowie gesellschaftlich bedingten Lernerschwernissen ein gemeinsames Lernen in entwicklungs- und lernheterogenen Gruppen ermöglicht. 2 Wie Pädagogik Exklusion produziert - ein theoretischer Zugang In Auseinandersetzung mit der immer noch stark sonderpädagogisch geprägten Diskussion verweist Tenorth aus einer allgemeinpädagogischen Perspektive auf die Selbstverständlichkeit von Inklusion (vgl. Tenorth 2006; Tenorth 2011). Die sonder- und inklusionspädagogische Argumentation gewissermaßen pädagogisch radikalisierend betont er, dass die Idee der Inklusion seit 300 Jahren zum Kern moderner Pädagogik gehört. Oder zugespitzt: Der Idee der Inklusion verdankt die moderne Pädagogik als eigenständige Praxis, Theorie und Forschung ihre Entstehung (vgl. Tenorth 2011, 2). Wenn jedoch Inklusion als Forderung einer gleichberechtigten Teilhabe aller Menschen an Erziehung und Bildung nicht nur zu den selbstverständlichen, sondern zu den grundlegenden Annahmen moderner Pädagogik gehört, stellt sich die Frage, warum wir nach wie vor, immer noch und gerade aktuell verstärkt über die Teilhabe aller an Erziehung und Bildung sprechen müssen und sollten. Die Frage nach der möglichen Herausbildung eines Rests oder die These, dass bestimmte Gruppen von Menschen in dieser Diskussion vergessen, ausgeklammert oder vernachlässigt würden, rührt hier also an das Selbstverständnis moderner Pädagogik. Wenn pädagogische Inklusion, als Anspruch der Teilhabe aller an Erziehung und Bildung, in ihrer rechtlichen Anerkennung auch nicht mehr begründungspflichtig ist (vgl. Moser 2012) und ohnehin das Grundproblem aller Pädagogik darstellt (vgl. Tenorth 2011), so scheint sie doch vor dem Hintergrund der Frage nach dem Rest fortgesetzt begründungs- und verständigungsbedürftig. Die Idee einer gleichberechtigten Teilhabe aller Menschen an Erziehung und Bildung als Vorbereitung einer selbst- und mittätigen Teilhabe an der Gestaltung von Welt und Gesellschaft ist mit Blick auf die Geschichte der Menschheit eine verhältnismäßig neue Errungenschaft. Bis ins ausgehende Mittelalter galt es lange Zeit als selbstverständlich, dass nicht alle Menschen an einer planvoll gestalteten Erziehung teilhaben sollen. Ausschluss von Erziehung und Bildung und eine von der Herkunft oder vom Stand abhängige Ungleichheit der Teilhabe war kein Problem, sondern der göttlich sanktionierte Normalfall. VHN 1 | 2018 44 SVEN JENNESSEN, ANDREAS KUHN, MICHAEL WAGNER Produziert Pädagogik Exklusion? FACH B E ITR AG Aus dieser Sicht ist die Forderung eines gleichberechtigten Zugangs aller Menschen zu Erziehung und Bildung keineswegs selbstverständlich, sie ist auch nicht von Natur aus oder göttlich gegeben und stellt sich auch nicht durch die Erklärung der Menschenrechte gewissermaßen von selbst ein. Sie stellt vielmehr eine historische Errungenschaft dar und ist in ihrer Durch- und Umsetzung auf die Anerkennung und das Handeln von Menschen, das heißt auf ihre Herstellung durch den Menschen angewiesen. Und das heißt auch, sie ist mit Blick auf die historische Entwicklung moderner Pädagogik an bestimmte Bedingungen geknüpft (vgl. Tenorth 2011). Auf einer individuellen Ebene: an die Anerkennung der unbestimmten Bildsamkeit des Einzelnen, das heißt die Annahme einer von der Ungleichheit der sozialen und biologischen Herkunft unabhängigen und zur Zukunft hin offenen, erst über die Teilhabe an Erziehung und Bildung vermittelten Möglichkeit der Hervorbringung der eigenen Bestimmung sowie einer selbst- und mittätigen Teilhabe an der Gestaltung von Welt und Gesellschaft (vgl. Benner 2001). Auf einer gesellschaftlichen Ebene: an die Einrichtung und Anerkennung einer eigenständigen, von weiteren Bereichen menschlichen Handelns unterscheidbaren und abzugrenzenden Pädagogik. Das heißt, die Einrichtung einer die umgängliche und familiale Erziehung erweiternde, künstlich und kunstvoll veranstaltete, methodisch und inhaltlich gestaltete, eigenständig institutionalisierte pädagogische Praxis, im Sinne der Einrichtung von Orten, die eigens der Erziehung und Bildung dienen (vgl. Benner 2001). Der Prototyp dieser mittlerweile sehr unterschiedlichen Orte pädagogischen Handelns ist die öffentliche und allgemeinbildende Schule. Ausgehend von der Annahme, dass einerseits die bestehende Ungleichheit unter den Menschen nicht naturgegeben oder göttlich gegeben, sondern auch eine sozial verfasste ist und andererseits die Teilhabe an einer eigenständig institutionalisierten pädagogischen Praxis die Bedingung der Möglichkeit von Selbstbestimmung sowie einer selbst- und mittätigen Teilhabe an der Gestaltung von Welt und Gesellschaft markiert, lassen sich außerpädagogisch bestimmte Formen einer Ungleichheit der Teilhabe an Pädagogik nicht mehr rechtfertigen und begründen. Gleichzeitig bringt die Einrichtung und Etablierung einer eigenständigen Pädagogik, als Bearbeitung des Problems einer gleichberechtigten Teilhabe an Erziehung und Bildung trotz bestehender Formen der Ungleichheit, selbst Folgeprobleme mit sich. In diesem Sinne schreibt Michael Winkler: „Je mehr also erzogen wird, desto mehr zeigt sich das Problem der Erziehung; genauer: je mehr Pädagogik institutionalisiert, je mehr sie methodisiert wird, umso mehr werden jene sichtbar, an welchen die Einrichtungen, Angebote und Leistungen scheitern und Erziehung eben als Bedarf zu erkennen ist. Vermutlich gründet dies darin, dass mit Institutionalisierung und Methodisierung die systematische Offenheit verloren geht, mit welcher pädagogische Praxis auf das Gemisch von Freiheit und Zufall einzugehen versucht.“ (Winkler 2006, 105) Und Klaus Prange formuliert: „Zu den scheinbar, aber eben nur scheinbar paradoxen Folgen der Inklusion aller in das Erziehungssystem gehört, dass dessen Binnendifferenzierung zunimmt und von den Betroffenen als Exklusion und Chancenungleichheit erlebt wird. Tatsächlich handelt es sich um einen unvermeidbaren Zusammenhang: Mehr Erziehung für alle führt zugleich auch dazu, dass Defekte und Defizite zunehmen, die ihrerseits eine Antwort in dem System verlangen, in dem sie entstanden sind.“ (Prange 2001, 41) Die Pädagogik reproduziert also in der Bearbeitung der Problemstellung einer Teilhabe aller im Rahmen einer eigenständigen institutionalisierten, methodisch und inhaltlich, künstlich und kunstvoll gestalteten pädagogischen Praxis fortgesetzt das Problem Teilhabe, indem sie selbst unterschiedliche Formen VHN 1 | 2018 45 SVEN JENNESSEN, ANDREAS KUHN, MICHAEL WAGNER Produziert Pädagogik Exklusion? FACH B E ITR AG einer Ungleichheit der Teilhabe sowie des Ausschlusses aus Pädagogik hervorbringt (vgl. Kuhn 2015). Bestimmte und unterschiedliche Formen der methodischen, inhaltlichen und institutionellen Gestaltung ermöglichen in diesem Sinne immer unterschiedliche Formen der Teilhabe und produzieren ebenfalls spezifische Formen des Ausschlusses. Tenorth (2006) begreift dieses Problem im Zusammenhang von Universalisierung und Partikularisierung der Idee der Bildsamkeit in der Professionalisierung und Methodisierung pädagogischer Arbeit: „In der subtilen Identifikation von Problemen wird die Partikularisierung verschärft und die Differenz und Separierung der Klientel erzeugt, die der an Gleichheit von Bildung und Bildsamkeit orientierte Diskurs an sich verbietet.“ (Tenorth 2006, 498) Die Geschichte der institutionellen Ausdifferenzierung der Sonderpädagogik innerhalb der Pädagogik ist Teil dieser Paradoxie. So bringt die Sonderpädagogik, im Bemühen um die Herstellung einer Teilhabe aller an Erziehung und Bildung trotz Behinderung, in der Bearbeitung des Ausschlusses aus Pädagogik sowie der Ungleichheit der Teilhabe fortgesetzt neue Formen einer Ungleichheit der Teilhabe sowie des Ausschlusses aus Pädagogik als individualisierte Formen pädagogischer Ungleichheit hervor (vgl. Moser 2003). Dirk Baecker hat das (mit Blick auf die Soziale Arbeit) als „stellvertretende Inklusion“ bezeichnet (Baecker 1994, 102). Diese verstärkt jedoch nicht nur die Nebenwirkungen der Bearbeitung der Probleme am Zu-Erziehenden, sie entlastet auch das System, den Bereich, in dem die Probleme entstehen, von der weiteren Auseinandersetzung und Bearbeitung (vgl. Kuhn 2012). Die Pädagogik - und auch die Sonderpädagogik - verstellt sich so in der Bearbeitung und Thematisierung der Ungleichheit der Teilhabe sowie des Ausschlusses aus Pädagogik am Zu- Erziehenden, insbesondere entlang der Problemstellung Behinderung (vgl. Kuhn 2015), den Weg zu einer pädagogischen Bearbeitung pädagogisch hervorgebrachter Formen der Ungleichheit. „Indem sie“, wie Luhmann schreibt, „Erfolge sich selbst und Mißerfolge den Eigenarten ihrer Klienten, also der Umwelt zurechnet“ (Luhmann 2002, 168), markiert die Pädagogik die Ungleichheit der Teilhabe sowie den Ausschluss aus Pädagogik als vor- und außerpädagogisch bestimmte und somit pädagogisch exkludierte Problemstellungen. Die Frage, die sich der Pädagogik im Rahmen der aktuellen Diskussion um Inklusion also stellt, ist, wie sich die Exklusion(en), die Pädagogik als eigenständige Theorie und Praxis fortgesetzt selbst hervorbringt, wiederum pädagogisch mit Blick auf die Verständigung und Gestaltung der Bedingungen der Möglichkeit von Teilhabe an Pädagogik als eigenständig institutionalisierter Praxis thematisieren und bearbeiten lassen statt sie weiterhin an den Zu-Erziehenden zu bearbeiten (vgl. Kuhn 2015). Mit Blick auf den Bereich Schule hieße das zu fragen, wie durch eine veränderte methodische, inhaltliche und institutionelle Gestaltung der allgemeinen Schule neue Teilhabemöglichkeiten entwickelt und somit individuelle Exklusionserfahrungen reduziert werden können. Das lässt sich als Problem der Reinklusion bezeichnen (vgl. Kraft 1999; Prange 2001). Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Frage nach dem Rest anders bestimmen: Der Rest, das sind nicht Kinder mit schwersten Behinderungen (oder auch die Kinder mit massiven Verhaltensauffälligkeiten), sondern der Rest ist Exklusion. Das sind die ungelösten Probleme des Inklusionsanspruchs moderner Pädagogik, die sich besonders eindrücklich im Ausschluss von pädagogischer Praxis zeigen, aber auch in den vielfältigen weiteren Formen unerwünschter Ungleichheit, die Pädagogik hervorbringt. Genauso aber auch die noch unbekannten Schwierigkeiten der Pädagogik, also insbesondere das, worüber wir heute noch nicht sprechen können, weil sie noch dem Bereich des Unsichtbaren, Unbegriffenen und Unbestimmten angehören. Und in diesem VHN 1 | 2018 46 SVEN JENNESSEN, ANDREAS KUHN, MICHAEL WAGNER Produziert Pädagogik Exklusion? FACH B E ITR AG Sinne begreift der Rest auch die (noch) unbestimmten Möglichkeiten der Pädagogik. Die Bedingungen eines gleichberechtigten Zugangs aller zu Erziehung und Bildung erscheinen demnach in einem strengen Sinne als pädagogisch bestimmte, bestimmbare und zu bestimmende. Im Folgenden sollen nun diese grundlegenden allgemeinpädagogischen Ausführungen mit praxisnahen Bezügen zu den Schwierigkeiten und Möglichkeiten der Gestaltung inklusiver Schulen und Situationen von Bildung konkretisiert werden. 3 Wie Pädagogik Exklusion produziert - ein praxisorientierter Zugang Inklusion bedeutet, grundlegende Anerkennungsprozesse als eine pädagogische Aufgabe zu begreifen. Auf der Grundlage der bereits ausgeführten grundsätzlichen Anerkennung der Bildsamkeit des Menschen wird nun die interpersonale Dimension von Anerkennung in den Blick genommen. So kann mit Blick auf das Entstehen eines Rests als Ausdruck eines ungelösten Problems des Inklusionsanspruchs der modernen Pädagogik nicht davon ausgegangen werden, dass diese Anerkennung in der Bildungsinstitution Schule per se gelingt - und zwar unabhängig vom Förderort. Es stellen sich die gleichen Herausforderungen, die ausgehend von drei Thesen und weitgehend abseits der üblichen Ressourcendiskussion skizziert werden sollen. 3.1 Ebene Unterrichtsgestaltung Die Fokussierung des gemeinsamen Lerngegenstandes als Gelingensbedingung für die Teilhabe von Schülerinnen und Schülern mit schwerster Behinderung erschwert die Umsetzung inklusiver Bildung. Während in der allgemeinen Schulpädagogik weitgehend die Forderungen nach offenem Unterricht und Differenzierung Einzug gehalten haben, wird gerade in inklusionspädagogisch ausgerichteten Theoriebeiträgen die konsequente Orientierung am gemeinsamen Lerngegenstand nahezu dogmatisch wieder und wieder gebetet. Diese steht in einem deutlichen Widerspruch zu der Forderung, Schüler/ innen auf vielen Ebenen individuelle und möglichst selbstgesteuerte Lernwege zu ermöglichen. Diese am Schülerwillen und an der Schülermotivation ansetzende Pädagogik geht davon aus, dass das Gemeinsame in einer Lerngruppe eben nicht dadurch hergestellt werden muss, dass alle immer gleichzeitig an den gleichen Aufgaben und den gleichen Inhalten arbeiten, sondern dass neben den Phasen des individuellen Lernens das soziale Gefüge durch ritualisierte Formen des Zusammenkommens und des Austausches zu gewährleisten ist. Warum wird eine solche an den Lernbedürfnissen der Schüler/ innen gedachte Didaktik, wie sie in konsequentester Weise als Mathetik zu bezeichnen ist, nicht auf die Lernsituationen von Schülerinnen und Schülern mit und ohne schwerste Behinderung übertragen, sondern die Orientierung am gemeinsamen Lerngegenstand als nahezu obligatorische Voraussetzung für Teilhabe begriffen? In der Beschreibung verschiedener Unterrichtsentwürfe, die das Lernen am gemeinsamen Gegenstand zum Inhalt haben, wirkt Didaktik eher wie Legitimation des Lehrerhandelns denn als Umsetzung des Bildungsanspruches schwerstbehinderter Schüler/ innen. In diesem Sinne wäre die methodische und inhaltliche Gestaltung pädagogischer Situationen grundsätzlich daraufhin zu reflektieren, inwiefern sie in der Lage sind, auch Kinder mit komplexen Behinderungen mit einzubeziehen, um sie mit Blick auf die individuelle Teilhabe an gestalteten Lernprozessen weiterzuentwickeln. Für die Anerkennung individueller Lernmöglichkeiten und -bedürfnisse im Bildungsort Schule wäre dies eine wichtige Voraussetzung. VHN 1 | 2018 47 SVEN JENNESSEN, ANDREAS KUHN, MICHAEL WAGNER Produziert Pädagogik Exklusion? FACH B E ITR AG 3.2 Ebene Identitätsentwicklung Teilhabe beruht auf der Möglichkeit der Identifikation mit dem Anderen als Bestandteil der individuellen Identitätsentwicklung. Identität und Identifikation stehen in einem Wechselspiel zueinander. „Eine Selbstidentität (…) ist beim heranwachsenden Menschen darauf angewiesen, dass gesendete Signale und Begegnungen im interaktiven Umfeld identitätsfördernd“ (Schmetz 2010, 144) gespiegelt werden. In Anlehnung an die Identitätstheorie Meads kann davon ausgegangen werden, dass die eigene Identität nur mit den Augen der anderen wahrgenommen werden kann. Die Anderen als Spiegel eigenen Verhaltens und Seins sind elementar wichtig, um das Selbstbild zu strukturieren und zwischen eigenen und von außen herangetragenen Erwartungen zu balancieren - also diesen mal zu entsprechen, sie aber auch bewusst abzulehnen. Interaktionsverläufe, bei denen der Einzelne seine Identität dem anderen darstellt und auf der Grundlage der Reaktionen und Erwartungen des anderen weiterentwickelt, sind darauf angewiesen, dass der andere auf das damit verbundene Rollenhandeln eingeht. „Eine herrschaftsfreie Interaktion kommt erst dann zustande, wenn beide Interaktionspartner bereit sind, ihre Identität vorbehaltlos gegenseitig zu akzeptieren.“ (Schmetz 2010, 144) Grundlegend für die Interaktionsgestaltung ist die verbale und nonverbale Kommunikation zwischen den Beteiligten. Sprach- und Rollenhandeln werden genutzt, um sich dem anderen verständlich und auch berechenbar zu zeigen. Was bedeuten diese Erkenntnisse nun für gemeinsame Bildungsprozesse von Schülerinnen und Schülern mit und ohne schwere Behinderung? Schwierigkeiten im gemeinsamen Leben und Lernen werden meist mit den scheinbar wenig zu vereinbarenden Interessen dieser - real nicht wirklich existierenden - zwei Gruppen begründet: Kinder ohne Behinderung wollen Dinge spielen, lernen, machen, die für Kinder mit schweren Behinderungen nicht attraktiv oder aufgrund ihres Soseins schlicht nicht realisierbar sind. Vielleicht liegen die Ursachen für nicht gelingendes Miteinander aber auch auf der Ebene der Identitätsentwicklung: Ein Kind mit einer schweren Behinderung kann einem anderen Kind möglicherweise nicht die für die eigene Identitätsentwicklung notwendigen Signale spiegeln. Es kann ihm keine Rückmeldung geben, die hilfreich für das eigene Selbstbild wäre, die Sicherheit gibt und Weiterentwicklung ermöglicht. Stattdessen kann es sein, dass die von einem schwerstbehinderten Kind gesendeten Signale das Gegenteil bewirken: sie verunsichern, sie können nicht gedeutet und verstanden werden. Sie sind fremd, da die Ausdrucksformen häufig nicht der üblichen verbalen und nonverbalen Kommunikation entsprechen. Dies kann dazu führen, dass direkte und regelmäßige Interaktionen mit einem schwer behinderten Kind eher vermieden werden. Ausnahmen stellen häufig die eher helfenden Tätigkeiten für diese Kinder da. Dies sind dann aber keine Kontakte im Sinne einer herrschaftsfreien Interaktion, die als Voraussetzung für die Identitätsentwicklung gelten. Hierbei ist das Verstehen des Anderen nicht als Gefühl von Gleichheit zu denken, sondern auch als Verstehen von Differenz inklusive differentem Rollen- und Ausdrucksverhalten. Zu diskutieren ist an dieser Stelle auf der Grundlage grundsätzlich analoger Entwicklungsprozesse auch, ob und wie ein schwerstbehindertes Kind in seiner Identitätsentwicklung in besonderer Weise herausgefordert ist, da es durch seine Umgebung ebenfalls nicht die Spiegelung erfahren kann, die es für Gestaltung und Festigung seines Selbstkonzeptes benötigt. Stinkes (2008) interpretiert den Aspekt der Responsivität phänomenologisch, indem sie ihn als Antwortstruktur unseres Verhaltens bezeichnet, das „unabhängig von Geschlecht, Begabung, Rasse und Kultur ist, weil es auf Situationen antwortet, in denen es VHN 1 | 2018 48 SVEN JENNESSEN, ANDREAS KUHN, MICHAEL WAGNER Produziert Pädagogik Exklusion? FACH B E ITR AG immerzu verstrickt ist. (…) Man kann sich nicht nicht-antwortend verhalten.“ (ebd., 94) Die Tatsache des Leiblich-Seins ist somit sowohl Voraussetzung und zugleich Bestandteil von Kommunikation. Diese Annahme hilft weiter, um die Exklusion von Menschen mit schwerer Behinderung im Kontext der Schwierigkeit der identitätsbildenden Identifikation mit dem Anderen zu bearbeiten: Die nicht verstehende und somit für die eigene Identitätsentwicklung nicht nutzbare Kommunikation bedarf der Übersetzung. Dies scheint auf dem Hintergrund der Annahme, dass Anerkennungsprozesse im Kontext des Entstehens von Exklusionserfahrungen als eine pädagogische Aufgabe zu begreifen sind, die zentrale Herausforderung in gemeinsamen Bildungsprozessen von Schüler/ innen mit und ohne schwere Behinderung zu sein. Die Ausdrucksformen schwerbehinderter Schülerinnen und Schüler müssen allen anderen Schülerinnen und Schülern in einer Weise verständlich gemacht werden, dass sie sich selbst in hinter diesen Ausdrucksformen stehenden Bedeutungszuschreibungen wiedererkennen können. Es muss deutlich werden, dass sowohl basale Bedürfnisse als auch Lernbedürfnisse ähnlich, vergleichbar, gekannt und aus eigenen Lebenserfahrungen nachvollziehbar sind und lediglich verändert ausgedrückt oder auf andere Inhalte bezogen werden. 3.3 Ebene Förderort Die Diskussion über Inklusion entzaubert die Förderschule. In allgemeinen Schulen werden in Bezug auf Schülerinnen und Schüler mit schwersten Behinderungen Bildungsfragen gestellt, die auch in Förderschulen gestellt werden sollten, aber häufig nicht gestellt werden: z. B. nach der Gestaltung von adäquaten, fördernden Bildungsangeboten jenseits von Pflege und Therapie. Diese Feststellung ist eine Chance, den Diskurs über Teilhabe an Bildung auch für einen grundsätzlichen Diskurs über Bildung von Menschen mit schwerer Behinderung zu nutzen. Nur scheinbar sind in den Förderschulen umfassende, theoretisch fundierte Antworten auf sämtliche Fragen nach Bildungsinhalten und Bildungszugängen gefunden worden. Stellen wir uns dieser Annahme ernsthaft, können wir in der Tat von einer Entzauberung der Förderschule sprechen. 4 Möglichkeiten der Reduktion von Exklusionserfahrungen im Kontext interpersonaler Prozesse Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Verstehen des Anderen eine wichtige Voraussetzung für die Möglichkeit seiner Anerkennung und Akzeptanz ist. Nicht-verstehen in interpersonellen Prozessen stellt somit eine mögliche Ursache für Exklusionserfahrungen dar. Insbesondere im Hinblick auf Menschen mit schwerer Behinderung stellt das Erleben von Nicht-verstehen in der Begegnung für alle Interaktionspartner eine Herausforderung dar. Fornefeld geht in diesem Zusammenhang unter Bezug auf Bodenheimer sogar von der Möglichkeit einer Beziehungsstörung aus (vgl. Fornefeld 2001, 133f.). Pädagogen sind hier als ‚Übersetzer‘ in besonderer Weise gefordert. Dass es ihnen aber oft kaum gelingt, einen Menschen mit schwerer Behinderung in seinem Verhalten zu verstehen und es ihnen daher dann auch schwerfällt, dieses Verhalten für andere zu ‚übersetzen‘, das zeigt das folgende Zitat von Wilhelm Pfeffer: „Bei einigen Behinderten stößt man wohl auf menschliche Existenzformen, die mich mit Seinsformen konfrontierten, die mir vollkommen fremd und vorher überhaupt nicht im Denk- und Vorstellungshorizont aufgetaucht waren.“ (Pfeffer 1988, 128) Die empirischen Ergebnisse der Studie SFGE (vgl. Dworschak u. a. 2012) geben erste Hinweise darauf, welche Hintergründe VHN 1 | 2018 49 SVEN JENNESSEN, ANDREAS KUHN, MICHAEL WAGNER Produziert Pädagogik Exklusion? FACH B E ITR AG und Ursachen es für ein solches Gefühl der Fremdheit in der Begegnung geben könnte. So verfügen nach Einschätzung der in der Studie befragten Lehrer/ innen 56,5 % ihrer Schülerinnen und Schüler mit schwerer Behinderung (n = 448) nicht über die Möglichkeit der Lautsprache. Bei immerhin 31,5 % gaben die Lehrerinnen und Lehrer an, dass das Sprachverständnis dieser Kinder und Jugendlichen für sie nicht einschätzbar ist, dass sie also nicht genau wissen, inwieweit sie in der Begegnung vom Gegenüber überhaupt verstanden werden (vgl. Wagner 2013, 498). Wie kann es aber trotz des Gefühls von Fremdheit gelingen, den Anderen zu verstehen? Ein erster, vielleicht sogar der wichtigste Schritt ist es, den Menschen mit schwerer Behinderung als kompetente Persönlichkeit wahrzunehmen, die in der Auseinandersetzung mit der Umwelt individuelle emotionale und kognitive Deutungen im Hinblick auf die dingliche und soziale Welt schafft, die dann in seinem Verhalten zum Ausdruck kommen. Mit anderen Worten: der Mensch mit schwerer Behinderung ist nicht in erster Linie durch seine Beeinträchtigungen und seinen Unterstützungsbedarf zu charakterisieren, sondern durch die Kompetenz zur Gestaltung eines individuellen „Sinnraumes“ (Frindte, 1998), den es zu verstehen gilt. Dabei ist es notwendig, sich durch das Verhalten des Gegenübers im Sinne Bodenheimers ‚anrufen‘ zu lassen. „Nicht darum geht es also, ob das, was mir gegenüber steht, anrufbar ist, sondern darum, ob ich mich fähig zeige und willens äußere, dieses Gegenüberstehende in seiner Anrufbarkeit anzuerkennen.“ (Bodenheimer 1967, 64) Dieses sich von einem anderen anrufen Lassen führt dazu, dass man sich auf die Suche nach seinen „Um-zu und Weil-Motiven“ (Pfeffer 1988, 86) macht, um dann mit dem eigenen Verhalten auf diese Motive hin antworten zu können. Bei dem Versuch, den Menschen mit schwerer Behinderung in seiner Individualität, in seinen ‚Um-zu und Weil-Motiven‘ zu verstehen, gibt es allerdings kein sicheres Wissen im Sinne von ‚ich weiß, er verhält sich so, weil…‘, sondern es handelt sich nach Pfeffer um einen Prozess des „phantasierenden Nachvollzugs“ (Pfeffer 1988, 78). Die eigene Phantasie, das eigene Glauben, ‚so oder so könnte es sein …‘ ist prinzipieller Bestandteil des Verstehens eines Anderen. Oder mit den Worten Pfeffers: „Fremdverstehen kann immer nur Analogisierendes sein“ (Pfeffer 1988, 63), selbst die eigenen Überzeugungen und Vorstellungen sind also immer Teil des Verstehens eines Anderen. Mit Blick auf schulische Orte der Erziehung und Bildung und dem Ziel der Reduktion von Exklusionserfahrungen ist es somit die Aufgabe von Lehrer/ innen, den Prozess des phantasierenden Nachvollzugs, des Verstehens der Individualität des Menschen mit schwerer Behinderung in seinem ‚Sinnraum‘ sowohl bei sich selbst als auch bei anderen möglichen Interaktionspartnern und durch eigene mögliche Übersetzungsleistungen zu unterstützen. Verstehen basiert aber nicht nur auf dem phantasierenden Nachvollzug im Hinblick auf individuelle Sinnräume, sondern ist das Ergebnis einer Attribution (vgl. Rusch 1992, 232f.). Folgendes Beispiel soll der Verdeutlichung dieser These dienen: Ein zehnjähriger Junge mit einer komplexen Behinderung zeigt im schulischen Setting immer nach ca. zweistündiger Anwesenheit starke kopfmotorische Bewegungen, wirft den Kopf heftig gegen die seitlichen Kopfstützen und lautiert. Wird auf das Verhalten nicht reagiert, beginnt er, in seine Hand zu beißen. Die Lehrerin lagert ihn in diesen Situationen in eine eher liegende Position. Das Verhalten hört auf, der Junge entspannt sich. Vermutlich benötigt das Kind eine Lageveränderung. Bei der Frage des Umgangs mit dieser Situation sollen die Bedeutungen, die die Dinge für den Lernenden haben, im Mittelpunkt stehen. VHN 1 | 2018 50 SVEN JENNESSEN, ANDREAS KUHN, MICHAEL WAGNER Produziert Pädagogik Exklusion? FACH B E ITR AG „Dinge umfasst alles, was der Mensch in seiner Welt wahrzunehmen imstande ist: psychische Gegenstände, andere Menschen, Kategorien von Menschen, Institutionen, Leitideale usw.“ (Schmetz 2010, 147f.) Diese Zugangsweise ist auch insofern für inklusive pädagogische Prozesse sinnvoll, als sie der Bedeutungszuschreibung des Kindes als interaktivem Prozess des Verstehens mehr Gewicht verleiht als der Frage des Behindertseins. Für die Identitätsentwicklung des Kindes mit schwerer Behinderung ist es daher von Bedeutung, dass seine Bezugspersonen „die individuellen u. U. subtilen Äußerungen des Menschen mit schwerster Behinderung vor allem als initiative Beiträge auf(…)greifen und kontingent (…) beantworten“ (Hennig 2011, 283). Werden diese Beiträge auch für Mitschülerinnen und Mitschüler deutbar und verstehbar, können sie auch in inklusiven Settings gleichberechtigte Peers sein, deren Beziehung von Bindung und gegenseitiger Anerkennung geprägt ist. Am Beispiel des oben skizzierten Verhaltens eines Jungen ist die Vermutung, dass in dem von ihm gezeigten Verhalten (intensive kopfmotorische Bewegungen, Lautieren, Beißen in die Hand) ein Gefühl von Unwohlsein und ein Bedürfnis nach Lageveränderung zum Ausdruck kommen, zunächst das Ergebnis eines phantasierenden Nachvollzugs. Damit man aber den Eindruck hat, den Jungen und sein Verhalten zu verstehen, muss sich die Vermutung in der konkreten Interaktionssituation in der Form bewähren, dass das Verhalten des Jungen sich gemäß der eigenen Erwartungen verändert, d. h. dass er nach der Lageveränderung mit den kopfmotorischen Bewegungen und dem Beißen in die Hand aufhört. Ermöglicht und erleichtert wird das Verstandenwerden durch andere, wenn man sich in seinem Verhalten auf sogenannte ‚soziale Konstrukte‘ bezieht. Dies sind interindividuell vergleichbare Bedeutungen von und Überzeugungen über die dingliche und soziale Welt. Sie bilden den sozialen Background der individuellen Wirklichkeit und ermöglichen das Entstehen von sozialen Gruppen (vgl. Frindte 1998, 82f.). Was bedeutet dies nun für die schulischen Orte von Erziehung und Bildung? Wie dargestellt gehört die Forderung einer gleichberechtigten Teilhabe an Erziehung und Bildung zu den grundlegenden Annahmen der Pädagogik. Mit Blick auf den Menschen mit schwerer Behinderung zeigt sich, dass die Voraussetzung hierfür zum einen das Bemühen ist, individuelle Sinnräume phantasierend nachzuvollziehen. Zum anderen geht es aber auch darum, in konkreten Interaktionen zu interindividuell vergleichbaren Bedeutungen und Überzeugungen im Hinblick auf die dingliche und soziale Welt zu kommen. Nur wenn dies gelingt, kann eine soziale Gruppe entstehen, und eine Teilhabe an dieser Gruppe für den Einzelnen wird möglich. Die Gefahr von Exklusionserfahrungen wird somit reduziert. 5 Fazit und Perspektive für einen inklusiven Bildungsort Schule Ausgehend von der Annahme, dass Pädagogik im Rahmen der Herstellung von Inklusion immer auch Exklusion und in diesem Zusammenhang Ungleichheit der Teilhabe an sowie Ausschluss von Pädagogik hervorbringt, wurde hier exemplarisch in Bezug auf Schülerinnen und Schüler mit schwerer Behinderung versucht zu verdeutlichen, wie diese Exklusionen wiederum pädagogisch bearbeitbar werden. Für die Möglichkeiten der Gestaltung von Orten der Erziehung und Bildung bedeuten die oben gemachten Ausführungen, dass diese sowohl die Individualität des Einzelnen thematisieren und berücksichtigen als auch die Entwicklung von Verstehensprozessen und das Entstehen von sozialen Konstrukten in Interaktionen ermöglichen müssen. VHN 1 | 2018 51 SVEN JENNESSEN, ANDREAS KUHN, MICHAEL WAGNER Produziert Pädagogik Exklusion? FACH B E ITR AG Es wurde bereits deutlich, dass eine starke und fast ausschließliche Fokussierung auf die Idee des gemeinsamen Gegenstandes im Unterricht in heterogenen Gruppen die Gestaltung eines für Menschen mit schwerer Behinderung adäquaten inklusiven Bildungsortes Schule erschwert. Für einen solchen Ort der inklusiven Bildung wäre somit die Idee einer Schule zu favorisieren, in der ausgehend von einer heterogenen Stammgruppe n die Schülerinnen und Schüler mit ganz unterschiedlichen Bildungs- und Unterstützungsbedarfen in heterogen zusammengesetzten Gruppen lernen, n in der aber auch in homogenen Gruppen gelernt werden kann, n in der situativ in individuellen Einzelsituationen gelernt werden kann n und in der darüber hinaus auch therapeutische Unterstützungsangebote gemacht werden (vgl. Jennessen/ Wagner 2012; Wagner 2013). Exklusive Lernsituationen, die in ein inklusives Setting eingebettet sind, tragen dazu bei, dass sowohl die gestaltende Individualität des Einzelnen als auch die Bedeutung des Eingebundenseins in soziale Systeme Berücksichtigung finden. Es ist die Idee einer Pädagogik, in der die individuellen Unterschiede und Besonderheiten in den Blick genommen werden, ohne die Notwendigkeit einer sich entwickelnden Gemeinsamkeit mit dem Ziel der Teilhabe an einer sozialen Gemeinschaft aus den Augen zu verlieren. In ausschließlich exklusiven Schulsettings kann dies nur sehr bedingt gelingen. Dort laufen Kinder und Jugendliche mit hohem Unterstützungsbedarf in besonderer Weise Gefahr, aus dem Blick zu geraten. Dies im Rahmen einer fortgesetzten Reflexion pädagogischer Exklusion zu thematisieren, ist genauso Aufgabe von Pädagogik wie ausgehend davon die Orte der Erziehung und Bildung so zu gestalten, dass eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen an Erziehung und Bildung möglich wird und Exklusionserfahrungen reduziert werden. Literatur Baecker, D. (1994): Soziale Hilfe als Funktionssystem der Gesellschaft. In: Zeitschrift für Soziologie 23, 93 -110. http: / / dx.doi.org/ 10.1515/ zf soz-1994-0202 Benner, D. (2001): Allgemeine Pädagogik. Eine systematisch-problemgeschichtliche Einführung in die Grundstruktur pädagogischen Denkens und Handelns. 4. Aufl. Weinheim: Juventa Bodenheimer, A. R. (1967): Versuch über die Elemente der Beziehung. Basel, Stuttgart: Schwabe Dworschak, W.; Kannewischer, S.; Ratz, C.; Wagner, M. (2012): Schülerschaft mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung (SFGE). Eine empirische Studie. 2. Aufl. Oberhausen: Athena Fornefeld, B. 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