Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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Fachbeitrag: Methoden der empirischen Erforschung von Beziehungen und Einflussprozessen zwischen Klassenkameradinnen und -kameraden
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Carmen Zurbriggen
In diesem Beitrag werden ausgewählte empirische Erhebungsmethoden für die Erforschung von Beziehungen und Einflussprozessen zwischen Klassenkameradinnen und -kameraden im Überblick dargestellt. Ausgangspunkt für die Auswahl und Darstellung der quantitativen Methoden bildet eine Systematisierung des Forschungsgegenstandes Peerbeziehungen und Peereinflussprozesse in Schulklassen. Neben den beiden klassischen, in der sonderpädagogischen Forschung häufig eingesetzten Verfahren Fragebogen und soziometrische Nominationsmethoden werden drei bislang noch wenig bekannte Erhebungsmethoden vorgestellt: Social Cognitive Mapping, Erlebensstichprobenmethode und Social Sensing. Abschließend werden zentrale methodische Herausforderungen der Erhebung von Peerbeziehungen und Peereinflüssen in Schulklassen aus einer sonderpädagogischen Perspektive diskutiert.
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205 < RUBRIK > < RUBRIK > 205 VHN, 87. Jg., S. 205 -217 (2018) DOI 10.2378/ vhn2018.art22d © Ernst Reinhardt Verlag Methoden der empirischen Erforschung von Beziehungen und Einflussprozessen zwischen Klassenkameradinnen und -kameraden Carmen Zurbriggen Universität Bielefeld Zusammenfassung: In diesem Beitrag werden ausgewählte empirische Erhebungsmethoden für die Erforschung von Beziehungen und Einflussprozessen zwischen Klassenkameradinnen und -kameraden im Überblick dargestellt. Ausgangspunkt für die Auswahl und Darstellung der quantitativen Methoden bildet eine Systematisierung des Forschungsgegenstandes Peerbeziehungen und Peereinflussprozesse in Schulklassen. Neben den beiden klassischen, in der sonderpädagogischen Forschung häufig eingesetzten Verfahren Fragebogen und soziometrische Nominationsmethoden werden drei bislang noch wenig bekannte Erhebungsmethoden vorgestellt: Social Cognitive Mapping, Erlebensstichprobenmethode und Social Sensing. Abschließend werden zentrale methodische Herausforderungen der Erhebung von Peerbeziehungen und Peereinflüssen in Schulklassen aus einer sonderpädagogischen Perspektive diskutiert. Schlüsselbegriffe: Schulklasse, Klassenkameraden, Peereinfluss, Erhebungsmethoden Methods for Empirical Research of Relationships and Influences Between Classmates Summary: This paper presents an overview of selected empirical survey methods for the study of relationships and processes of influence between classmates. The starting point for the selection and presentation of quantitative methods is a systematization of the research object peer relations and peer influence processes in school classes. In addition to the two classical methods commonly used in special education research, questionnaires and sociometric nomination methods, three survey methods that are still little known are presented: Social Cognitive Mapping, experience sampling method and Social Sensing. Finally, central methodological challenges for data collection of peer relationships and peer influences in classrooms are discussed from a special educational perspective. Keywords: Classroom, classmates, peer influence, survey methods FACH B E ITR AG TH EME NSTR ANG Die Klassenkameraden - Freunde, Feinde, Sozialisationsinstanz 1 Die Klasse als mehrschichtiger sozialer Erfahrungs- und Entwicklungskontext Klassenkameradinnen und -kameraden beeinflussen die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in diversen schulrelevanten Bereichen. Dies betrifft etwa schulische Leistungen, motivationale Aspekte, die kognitive Entwicklung sowie die soziale und emotionale Entwicklung (Wentzel & Ramani, 2016). Entsprechende Erfahrungen werden im Verlaufe der Schulzeit mit einer Vielzahl an Klassenkameradinnen und -kameraden (nachfolgend auch Peers genannt) gesammelt und in unterschiedlichsten Situationen wie etwa bei alltäglichen Interaktionen mit dem Bank- VHN 3 | 2018 206 CARMEN ZURBRIGGEN Erforschung von Beziehungen zwischen Klassenkamerad/ innen FACH B E ITR AG nachbarn, während Gruppenarbeiten, beim Klassenunterricht, beim Spiel in der Pause oder auf der Klassenfahrt. Die Klasse entspricht damit einem vielseitigen sozialen Erfahrungs- und Entwicklungskontext mit verschiedenen, in- und miteinander verzahnten Ebenen. In der sonderpädagogischen Forschung gilt das Hauptaugenmerk bislang vorrangig den Beziehungen zwischen Peers. Von Interesse sind dabei insbesondere Fragen zu Freundschaften, zur sozialen Akzeptanz oder zum sozialen Status von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF). Zum Einsatz kommen hauptsächlich Fragebögen und soziometrische Verfahren (Marten, Voß & Blumenthal, 2016). In den letzten Jahren sind jedoch zunehmend auch Fragen nach der gegenseitigen Beeinflussung von Peers und unterschiedlichen Einflussmechanismen in den Fokus gerückt (z. B. Müller, Hofmann, Fleischli & Studer, 2015). Bei Fragen nach Einflussprozessen kommt eine zeitliche Dimension hinzu. Die Erforschung von Einflussprozessen zwischen Peers ist demgemäß vielschichtig und mit etlichen methodischen Herausforderungen verknüpft (z. B. Brown & Larson, 2009). Die klassischen Erhebungsmethoden werden weiterentwickelt, und neuere Methoden werden in das Forschungsfeld eingeführt. Umso mehr erhält in diesem komplexen Forschungsbereich die Wahl von angemessenen empirischen Methoden eine besondere Bedeutung. Dieser Beitrag hat deshalb zum Ziel, erstens eine konzeptuelle Einbettung der Erforschung von Beziehungen und Einflussprozessen zwischen Peers in Schulklassen zu bieten, zweitens darauf basierend ausgewählte empirische Erhebungsmethoden im Überblick aufzuzeigen und drittens zentrale methodische Herausforderungen aus sonderpädagogischer Perspektive zu diskutieren. 2 Systematisierung von Beziehungen und Einflussprozessen zwischen Peers in Schulklassen 2.1 Interaktion, Beziehung, Gruppe Bei der Erforschung des Peerkontextes Schulklasse gilt es jeweils zuerst zu klären, auf welche Art von Peer-Erfahrungen der Fokus gelegt wird. Rubin, Bukowski, Parker & Bowker (2008) nennen in Anlehnung an Hinde (1995) die folgenden drei Ordnungen von Komplexität (orders of complexity) von Erfahrungen in einem Peersystem: Interaktionen, Beziehungen und Gruppen. (1) Interaktionen entsprechen der einfachsten Ordnung der Komplexität von Peer-Erfahrungen und sind als sozialer Austausch zwischen zwei Individuen zu verstehen (Rubin et al., 2008). Die Aktionen z. B. von zwei Kindern einer Klasse haben sich dabei aufeinander zu beziehen, d. h. interdependent zu sein. Grundsätzlich lassen sich in Bezug auf soziale Interaktionen drei allgemeine Verhaltenstendenzen unterscheiden, die auch in der Peerforschung von Interesse sind: sich aufeinander zubewegen (z. B. helfen), sich gegeneinander bewegen (z. B. streiten), sich voneinander wegbewegen (z. B. ablehnen). (2) Beziehungen können hinsichtlich Peer- Erfahrungen als Komplexität zweiter Ordnung betrachtet werden. Eine soziale Beziehung basiert auf einer Folge von Interaktionen zwischen zwei Individuen und enthält damit eine längere zeitliche Perspektive. Im Klassenkontext erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von mehrfachen sozialen Interaktionen. Peerbeziehungen erhalten durch das Schulsystem jedoch eine zeitliche Rahmung, sodass die Fortführung einer Beziehung z. B. in der Freizeit auf Freiwilligkeit beruht. VHN 3 | 2018 207 CARMEN ZURBRIGGEN Erforschung von Beziehungen zwischen Klassenkamerad/ innen FACH B E ITR AG Wie andere Beziehungsformen auch sind jene zwischen Peers mit gewissen Bedeutungen, Emotionen und Erwartungen verbunden. Das Ausmaß der Verbundenheit in einer Beziehung wird in der Peerforschung im schulischen Kontext oft über die Häufigkeit der Interaktionen der beiden Individuen, über die Zeitdauer der Beziehung oder die Stärke des (gegenseitigen) Einflusses operationalisiert. Alternativ kann die Qualität der Beziehung anhand den von den Beteiligten vorwiegend erlebten Emotionen definiert werden (Rubin et al., 2008). (3) Gruppen lassen sich in Bezug auf Erfahrungen im Peersystem als Komplexität dritter Ordnung verorten. Gemäß Hinde (1995) entspricht eine Gruppe der Struktur, die sich aus Merkmalen und Mustern von Interaktionen und Beziehungen in einer Population (z. B. von Kindern oder Jugendlichen) ergibt. Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal von Peergruppen ist, ob die Mitglieder der Gruppe einander sozial, kulturell oder institutionell zugeordnet wurden (z. B. Bildung von Schulklassen nach Wohngebiet, von der Lehrperson gebildete Lerngruppen) oder ob die Zughörigkeit zur Gruppe von den Mitgliedern selbst gewählt wurde. Weitere Merkmale sind etwa das hierarchische Gefüge in der Gruppe (z. B. Status), die Homogenität in Bezug auf Personenmerkmale (z. B. Geschlecht, sozialer Hintergrund) und die Kohäsion bzw. der Zusammenhalt in der Gruppe. Als Abgrenzungsmerkmale zwischen Gruppen dienen nicht zuletzt auch gruppenspezifische Normen. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Soziale Interaktionen können als einfachste Art von Peer-Erfahrungen eingeordnet werden. Die Peerbeziehungen im schulischen Kontext basieren auf verschiedenen Interaktionsformen und sind von unterschiedlicher Qualität. Eine Peergruppe wiederum ist von den Interaktionen und Beziehungen ihrer Mitglieder geprägt. Innerhalb einer Schulklasse sind verschiedene Peergruppen denkbar. Weiterführender Klärungsbedarf besteht daher in Bezug auf den Typ der Peergruppe, die im Blickfeld stehen soll. 2.2 Typen von Peergruppen in Schulklassen Gemäß Kindermann (2016) können in der Peereinflussforschung fünf Typen von Peergruppen unterschieden werden, bei denen von unterschiedlichen Wirkungspfaden zwischen Peers ausgegangen wird (vgl. auch Kindermann & Gest, 2009). Diese Typologisierung wird hier nun auf den Peerkontext „Schulklasse“ bezogen (Abb. 1), um daran anknüpfend ausgewählte Methoden zur Erhebung von Beziehungen und Einflussprozessen zwischen Peers aufzuzeigen. Abb. 1 Typen von Peergruppen in Schulklassen (in Anlehnung an Kindermann, 2016, S. 33). 1 2 3 4 5 zugeordnet selbst gewählt Peergruppe Individuum Interaktionen Beziehung VHN 3 | 2018 208 CARMEN ZURBRIGGEN Erforschung von Beziehungen zwischen Klassenkamerad/ innen FACH B E ITR AG (1) Der erste Peergruppentyp bezieht sich auf die Schulklasse als Ganzes. Es wird angenommen, dass ein Schüler bzw. eine Schülerin von allen Peers einer Klasse als Gruppe beeinflusst wird. Zu den Einflussfaktoren zählen Merkmale der Klassenkomposition wie etwa die soziale Zusammensetzung oder verhaltensbezogene Normen innerhalb der Klasse (im Überblick z. B. bei Müller & Zurbriggen, 2016). Dieser Typ wurde beim Peereinflussforscher Kindermann (2016) nicht aufgeführt. In der empirischen Bildungsforschung hingegen nimmt die Untersuchung von Klassenkompositionseffekten einen wichtigen Stellenwert ein (z. B. Scharenberg, 2014). (2) Beim zweiten Peergruppentyp bildet ebenfalls die Schulklasse den Rahmen. Von Interesse sind jedoch spezifische Subgruppen, deren Mitglieder sich durch ihren sozialen Status innerhalb der Klasse von den anderen abheben. Gemeinsamkeiten im sozialen Status von Schülerinnen und Schülern sind etwa in der Klasse populär zu sein oder von den Mitschülerinnen und Mitschülern abgelehnt zu werden. (3) Im dritten Peergruppentyp wird davon ausgegangen, dass häufige Interaktionen mit Peers einen Schüler bzw. eine Schülerin beeinflussen. Als wichtig erachtet wird die im Klassenzimmer arrangierte physische Nähe zwischen Peers (z. B. durch Sitzordnung oder durch Gruppenarbeiten), da dadurch die Möglichkeit zu sozialen Interaktionen unterstützt wird (van den Berg, Segers & Cillessen, 2012). (4) Beim vierten Peergruppentyp wird ebenfalls die Häufigkeit und Intensität von Interaktionen als bedeutsamster Einflussfaktor postuliert. Im Gegensatz zum dritten Typ sind die Interaktionspartnerinnen und -partner weniger von den arrangierten Bedingungen bestimmt, sondern von selbst gewählten (z. B. Wahlmöglichkeit bei Binnendifferenzierung). (5) Der fünfte Peergruppentyp ist charakterisiert durch Selbstauswahl und reziproke, relativ enge Beziehungen. Gemeint sind dyadische Freundschaften oder Freundschaftsgruppen innerhalb einer Klasse. 3 Ausgewählte Erhebungsmethoden und ihr Einsatz in der sonderpädagogischen Forschung Nachfolgend werden fünf ausgewählte quantitative Erhebungsmethoden zur Untersuchung von Beziehungen und Einflussprozessen zwischen Peers kurz vorgestellt und anhand von Beispielen aus der sonderpädagogischen Forschung verdeutlicht. Berücksichtigt werden sowohl häufig eingesetzte Methoden als auch bislang in der empirischen sonderpädagogischen Forschung (noch) selten eingesetzte, jedoch (möglicherweise) zukunftsträchtige Methoden. Bei der Auswahl wurde des Weiteren darauf geachtet, dass alle fünf Typen von Peergruppen (vgl. Abschnitt 2.2) einbezogen werden. Durch die möglichst breite Abdeckung musste gleichzeitig der Anspruch auf eine vertiefte Darstellung einzelner Methoden aufgegeben werden. Trotz der Fokussierung auf quantitative Methoden soll die Bedeutung von weiteren empirischen Zugängen für diesen Forschungsbereich nicht unterschlagen werden. Eingesetzt werden als Erhebungsinstrumente beispielsweise auch Beobachtung (z. B. Fabes, Martin & Hanish, 2009), Gruppendiskussionsverfahren und Interviews (im Überblick z. B. Köhler, Krüger & Pfaff, 2016). Zu nennen sind nicht zuletzt qualitativ ausgerichtete ethnografische Zugänge, die seit den 1970er- Jahren in der Peerkulturforschung und auch im schulischen Kontext verbreitet Verwendung finden (z. B. Breidenstein & Kelle, 1998). VHN 3 | 2018 209 CARMEN ZURBRIGGEN Erforschung von Beziehungen zwischen Klassenkamerad/ innen FACH B E ITR AG 3.1 Fragebogenerhebungen Konventionelle Fragebögen zählen auch in der Peerforschung zu den häufigsten Erhebungsmethoden. Erhoben werden dabei vorrangig Merkmale oder Verhaltensweisen der Schülerin bzw. des Schülers (z. B. Persönlichkeit, prosoziales Verhalten) oder Merkmale der Klasse (z. B. Leistungsniveau, Klassenklima). Von Interesse ist die Erhebung von Schüler- und Klassenmerkmalen mittels Fragebogen unter anderem bei Untersuchungen zu Effekten der Schulklasse als Ganzes respektive dem ersten Typ von Peergruppen. Ein Beispiel hierfür ist die Studie von Müller, Hofmann, Fleischli & Studer (2016), bei der die Effekte der Klassenkomposition bezüglich Dissozialität sowie von deren Heterogenität auf aggressives und delinquentes Verhalten von Jugendlichen der 7. Schulstufe untersucht wurden. Zur Erhebung des individuellen antisozialen Verhaltens wurden die Freiburger Selbstauskunftsskalen zu Dissozialität von Müller (2013) verwendet. Für die Variable Klassenkomposition wurden die individuellen Skalenmittelwerte aggregiert. Neben Selbsteinschätzungen werden in der Peereinflussforschung häufig Peer-Einschätzungen (peer assessments) herangezogen. Für die Analysen werden die Individualwerte dabei in der Regel über die Klasse hinweg aggregiert. Diese aggregierten Werte dienen als Index, wie ein Schüler oder eine Schülerin von den Peers generell wahrgenommen wird (Bukowski, Castellanos & Persram, 2017). Ein häufiges Ziel von Peer-Einschätzungen im Rahmen von sonderpädagogisch ausgerichteten Untersuchungen ist die Identifikation von Schülerinnen und Schülern, die aufgrund bestimmter Merkmale mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit als andere gefährdet sind, von ihren Peers negativ eingeschätzt zu werden. Damit weisen Peer-Assessments mittels konventioneller Fragebogenerhebung deutliche Parallelen zu den im Folgenden beschriebenen Peer-Nominationsmethoden auf. 3.2 Soziometrische Nominationsmethoden Soziometrische Nominationsverfahren zählen - wie auch konventionelle Fragebogenerhebungen - zu den klassischen Methoden der Peerforschung und können dabei auf eine über hundertjährige Geschichte zurückblicken (im Überblick z. B. bei Marks, 2017). Zentrales Interesse dieser Verfahren ist die Ermittlung der sozialen Positionen von Kindern und Jugendlichen innerhalb einer Gruppe respektive die im Klassenverband vorherrschenden Akzeptanz- und Ablehnungstendenzen zwischen den Peers. Das Hauptaugenmerk liegt bei den klassischen Nominationsmethoden auf dem zweiten Peergruppentyp respektive den Sub- oder Statusgruppen der beliebten, unbeliebten, kontroversen, unbeachteten oder durchschnittlich akzeptierten Schülerinnen und Schüler (Cillessen, 2009). Bukowski et al. (2017) beschreiben einen der Hauptunterschiede zwischen Nominationsmethoden zu Peer-Assessments folgendermaßen: „Peer assessment techniques measure what a child is like, whereas sociometric methods measure whether someone is liked“ (ebd., S. 77). Die Fragen nach Akzeptanz oder Ablehnung können auch als affektive Kriterien bezeichnet werden, da sie eine affektive oder emotionale Komponente von interpersonellen Beziehungen beinhalten (Cillessen & Marks, 2017). Diese sind zu unterscheiden von Reputationskriterien, die das wahrgenommene Ansehen oder die Popularität innerhalb der Klasse einschätzen. Vor diesem Hintergrund sind die klassischen Nominationsmethoden vorrangig dem zweiten Typ von Peergruppen zuzuordnen, reziproke Akzeptanzbeziehungen zudem dem fünften Typ. Basierend auf soziometrischem Datenmaterial können in sozialen Netzwerkanalysen - neben dem sozialen Status in der Klasse - die Verkettung von Beziehungen im Sinne von Netz- VHN 3 | 2018 210 CARMEN ZURBRIGGEN Erforschung von Beziehungen zwischen Klassenkamerad/ innen FACH B E ITR AG werkstrukturen, die Netzwerkbeteiligung und weitere personen- und netzwerkbezogene Merkmale untersucht werden (z. B. Carrington, Scott & Wasserman, 2005). In Kombination mit Mehrebenenanalysen lassen sich des Weiteren schulklassenspezifische Effekte ermitteln. So zeigte sich etwa bei Kulawiak & Wilbert (2015), dass Schülerinnen und Schüler mit SPF kaum zu den beliebtesten, sondern häufig zu den unbeliebtesten Kindern in ihrer Klasse zählten. Die Variabilität in den sozialen Ablehnungsbeziehungen deutete zusätzlich auf eine Abhängigkeit von Schulklassenmerkmalen hin. Ein großes Potenzial für die Erforschung von Einflussprozessen zwischen Peers bieten schließlich soziometrische Erhebungen über mehrere Messzeitpunkte hinweg (z. B. Scott, 2011). Denn mit solchen längsschnittlichen Datenerhebungen kann die Entwicklung sozialer Netzwerke innerhalb von Klassen aufgezeigt werden. 3.3 Social Cognitive Mapping Social Cognitive Mapping (SCM) ist eine von Cairns, Perrin & Cairns (1985) entwickelte Methode zur Identifizierung von Peergruppen und sozialen Strukturen in Schulklassen. Zum Einsatz kommt sie nicht zuletzt auch aufgrund von Kritik an soziometrischen Nominierungsmethoden (Pijl, Koster, Hannink & Stratingh, 2011). Beanstandet wird an manchen Nominierungsverfahren die bisweilen verwendete negative Form des soziometrischen Kriteriums (z. B. „Neben wem aus der Klasse möchtest du nicht sitzen? “), da sie als unethisch angesehen wird. Im Gegensatz zu Nominationsverfahren werden Kinder und Jugendliche bei Erhebungen im Rahmen von SCM nicht nach der Akzeptanz und Ablehnung ihrer Peers gefragt, sondern danach, ob es in ihrer Klasse Gruppen von Schülerinnen oder Schülern gibt, welche häufig zusammen sind. Selbstnennungen sind auch erlaubt. Zudem werden oft auch die Lehrpersonen befragt. Bezüglich Anzahl der Nennungen von Personen und Gruppen werden keine Einschränkungen vorgegeben. Gemäß Gest, Farmer, Cairns & Xie (2003) können mit SCM die tatsächlichen Interaktionsmuster zwischen Peers in Schulklassen valide abgebildet werden. Das SCM kann somit dem vierten Peergruppentyp in Schulklassen zugeordnet werden. Ein Beispiel für die Anwendung von SCM ist die Studie von Avramidis (2010). Im Vergleich zu soziometrischen Untersuchungen zeigte sich ein positiveres Bild der sozialen Position von Schülerinnen und Schülern mit SPF innerhalb des Netzwerkes in ihrer Klasse. Zusätzlich wurden Peer-Einschätzungen erhoben (vgl. Abschnitt 3.1). Dadurch konnte die Autorenschaft eine detaillierte Beschreibung von unterschiedlichen Positionen innerhalb der sozialen Netzwerke geben (z. B. schüchtern, störend, hilfsbereit). 3.4 Erlebensstichprobenmethode Die Erlebensstichprobenmethode (experience sampling method; ESM) ist eine Methode zur Erfassung des emotionalen Erlebens im unmittelbaren Lebenskontext (Hektner, Schmidt & Csikszentmihalyi, 2007). Die ESM zählt nicht zu den klassischen Erhebungsmethoden der Peereinflussforschung, sie kann jedoch - vor allem in Kombination mit anderen Methoden - einen Beitrag bei Untersuchungen im Bereich des dritten und vierten Peergruppentyps leisten. Wie bereits in Abschnitt 2.2 erwähnt, bietet die Erfassung der von den Beteiligten erlebten Emotionen eine Möglichkeit zur Bestimmung der Qualität von Interaktionen und Beziehung. Bei klassischen Nominationsmethoden wird zwar von „affektiven Kriterien“ gesprochen (vgl. Abschnitt 3.2), emotionale Aspekte von VHN 3 | 2018 211 CARMEN ZURBRIGGEN Erforschung von Beziehungen zwischen Klassenkamerad/ innen FACH B E ITR AG Peerbeziehungen können damit allerdings nur approximativ erfasst werden. Mit der ESM wird hingegen das emotionale Erleben von Personen in situ und damit unmittelbar z. B. während sozialen Interaktionen mit Peers erhoben. Die Erhebungen erfolgen einmal oder mehrmals täglich über eine oder mehrere Wochen hinweg. Die ESM zählt deshalb zur Gruppe der intensiven longitudinalen Methoden (für einen Überblick mit sonderpädagogischem Fokus s. Venetz & Zurbriggen, 2015). Zum Einsatz in der Peerforschung kam die ESM bisher beispielsweise bei Zurbriggen, Venetz & Hinni (2018). Jugendliche der 9. Schulstufe gaben zu durchschnittlich 31 Zeitpunkten während einer Woche mittels online-Kurzfragebogen (zugestellt via Smartphone) jeweils Auskunft zu ihrem emotionalen Erleben und zum sozialen Kontext. Die Ergebnisse zeigten - wie bereits bei Zurbriggen & Venetz (2016) für Ende Primarstufe -, dass soziale Interaktionen mit Peers für Jugendliche generell mit einer positiven Erlebensqualität einhergehen. Nicht erfasst wurde, mit wem sie namentlich zusammen waren. Insofern sind mit ESM keine Aussagen über soziale Netzwerke in den Klassen oder die Häufigkeiten von Interaktionen mit bestimmten Peers möglich. Folglich wäre eine Verbindung mit anderen Erhebungsmethoden wie SCM oder mit Social Sensing gewinnbringend. 3.5 Social Sensing Social Sensing ermöglicht die Erfassung von verbalen und nonverbalen sozialen Interaktionen mittels mobiler Sensoren sowie die kontinuierliche und automatisierte Verarbeitung der Daten in Echtzeit (Schmid Mast, Gatica-Perez, Frauendorfer, Nguyen & Choudhury, 2015). Die Datenerhebungen werden mit Smartphones und weiteren mobilen Technologien wie etwa Smart-Uhren oder in einem mit Sensoren ausgestatteten Umfeld vorgenommen. Zum Datenmaterial zählen in erster Linie Video- oder Audio-Aufnahmen, aber auch Standort- oder Bewegungsinformationen. Übertragen auf den Kontext Peerforschung in Schulklassen vermag Social Sensing je nach Art der Daten einen Beitrag zum dritten oder auch vierten Peergruppentyp zu leisten. Durch die automatisierte und ubiquitäre Datengewinnung eignet sich Social Sensing z. B. auch zur Untersuchung von Kindern und Jugendlichen mit starken kognitiven oder körperlich-motorischen Beeinträchtigungen. Die Idee der unmittelbaren Erfassung mit computerbasierten Methoden ist nicht neu. Sie findet sich bereits bei Verfahren wie Ambulantem Assessment (z. B. Fahrenberg & Myrtek, 1996), die wie die ESM ebenfalls der Gruppe der intensiven longitudinalen Methoden angehört. Durch die zunehmende Digitalisierung und Vernetzung, die hohe Zugänglichkeit von mobilen Technologien und die Fülle an stetig anfallenden Daten aus dem sozialen Alltag (vgl. Lazer et al., 2009) könnte Social Sensing jedoch zu einer zukunftsträchtigen Methode auch in der sonderpädagogisch ausgerichteten Peerforschung avancieren. Ein Beispiel für die Anwendung von Social Sensing ist der electronically activated recorder (EAR; Mehl, 2017). Konzeptuell betrachtet handelt es sich dabei um eine direkte Beobachtungsmethode, die ein akustisches Protokoll z. B. aus dem Alltag eines Jugendlichen und seiner Umgebung erstellt. Technisch gesehen ist EAR ein portabler Audio-Recorder (als Smartphone), der intermittierend Geräusche aus der Umgebung aufnimmt. Der/ die Jugendliche selbst muss nichts rapportieren, was z. B. bei einer starken kognitiven Beeinträchtigung von Vorteil ist. Die gewonnenen objektiven Daten, welche nach Aktivitäten, Interaktionen mit anderen Personen und Standort kodiert werden, können aber auch Selbstberichte z. B. via ESM ergänzen. Aufgrund der realitätsnahen Beobachtungsdaten vergleicht Mehl (2017) EAR mit ethnografischen Methoden. VHN 3 | 2018 212 CARMEN ZURBRIGGEN Erforschung von Beziehungen zwischen Klassenkamerad/ innen FACH B E ITR AG 4 Methodische Herausforderungen aus sonderpädagogischer Perspektive Jede der hier kurz vorgestellten Erhebungsmethoden zur Erforschung von Peerbeziehungen und Peereinflussprozessen in Schulklassen weist spezifische methodische Herausforderungen auf. Vier zentrale Themenbereiche, die in entsprechenden empirischen Untersuchungen ein besonderes Augenmerk erhalten sollten, werden nun aus sonderpädagogischer Perspektive diskutiert. 4.1 Auswahl der Stichprobe Der Auswahl der Stichprobe kommt in jeder empirischen Untersuchung ein hoher Stellenwert zu. Eine Besonderheit bei Untersuchungen von Beziehungen und Peereinflüssen in Schulklassen ist, dass grundsätzlich jeweils der Einbezug aller Schülerinnen und Schüler einer Klasse angestrebt werden sollte. So ist etwa die möglichst vollständige Beteiligung der Schulklasse ein zentraler Punkt für eine gute Qualität von soziometrischen Daten (Cillessen & Marks, 2017). Beim SCM wird deshalb eine Vollerhebung in Klassen gewissermaßen vorausgesetzt. In Untersuchungen mit Kindern oder Jugendlichen mit Beeinträchtigungen des Lernens oder der kognitiven Leistungsfähigkeit ist generell mit einem erhöhten Ausmaß an fehlenden Werten zu rechnen (Nusser, Heydrich, Carstensen, Artelt & Weinert, 2016). In Studien mit der Zielgruppe Schülerinnen und Schüler mit SPF sind deshalb grundsätzlich zusätzliche Überlegungen und besondere Strategien bei der Stichprobenziehung vonnöten (vgl. Gresch & Piezunka, 2015). Ähnliches gilt für die Untersuchungen zu Klassenkompositionseffekten. Zwar ist keine Vollerhebung nötig bei Konstrukten, die direkt auf Ebene der Gruppe gemessen werden können (z. B. Klassengröße). Bei Konstrukten, die über Aggregation von Individualwerten gebildet werden (z. B. Leistungsdurchschnitt, Klassennormen), spielt hingegen der Einbezug möglichst aller Schülerinnen und Schüler eine größere Rolle. Dies gilt insbesondere für die formativ aggregierten Merkmale einer Klasse wie z. B. die durchschnittlichen sozialen Kompetenzen (vgl. Müller & Zurbriggen, 2016). Aber auch bei reflektierender Aggregation von Individualwerten, wie etwa der Einschätzung des Klassenklimas durch die Schülerinnen und Schüler einer Klasse, wirkt sich die Anzahl der Befragten auf die Reliabilität des gemessenen Konstrukts aus. Besonders ins Gewicht fällt dies bei kleinen Klassengrößen (Zurbriggen, 2016). 4.2 Identifikation von Subgruppen Im Rahmen des Einsatzes von soziometrischen Verfahren betreffen wichtige methodische Überlegungen die Anzahl möglicher Nominationen, da sich diese auf die Bildung der Sub- oder Statusgruppen auswirkt. Bei Gommans & Cillessen (2015) zeigte sich in einem systematischen Vergleich von unlimitierten Peernominationen (alle Klassenmitglieder dürfen gewählt werden) und limitierten Peernominationen (nur eine gewisse Anzahl kann gewählt werden), dass beide Methoden im Allgemeinen ähnliche Resultate ergaben. Bei Fragen bezüglich sozialem Status empfehlen die Autoren jedoch aufgrund ihrer Ergebnisse die Verwendung von unlimitierten Nominationen, da die Teilnehmenden dadurch differenziertere Einschätzungen z. B. zur Akzeptanz oder Ablehnung ihrer Peers abgeben können. Konkret kann dies bedeuten, dass ein Schüler bei einem limitierten Verfahren keine Nennungen erhält, bei einem unlimitierten Verfahren hingegen gewählt wird. Die Bildung von Peergruppen anhand der mittels SCM gewonnenen Daten birgt ein etwas VHN 3 | 2018 213 CARMEN ZURBRIGGEN Erforschung von Beziehungen zwischen Klassenkamerad/ innen FACH B E ITR AG anders gelagertes potenzielles Problem der Identifikation von Subgruppen. Je nach Phase im Forschungsprozess ergeben sich nämlich abweichende Zusammensetzungen von Peergruppen, was zu unterschiedlichen Interpretationen führen kann (Näheres bei Neal & Neal, 2013). Pijl et al. (2011) stellten in einer Studie einen Vergleich zwischen einer Nominationsmethode und SCM an. Die Ergebnisse zeigten im Allgemeinen große Überlappungen der beiden Methoden. Die Nominationsmethode stufte allerdings mehr Schülerinnen oder Schüler als „isoliert“ ein, während das SCM für alle mindestens eine reziproke Beziehung und die Mitgliedschaft in mindestens einer Gruppe aufzeigte (vgl. auch Avramidis, 2010). Vor diesem Hintergrund sind weitere Studien erforderlich, welche die Auswirkungen von verschiedenen Subgruppenbildungen sowie die Vergleichbarkeit von Nominationsmethode und SCM untersuchen. 4.3 Setzen von Messzeitpunkten Die Auswahl der Stichprobe betrifft nicht nur die Personen- oder Gruppenebene, sondern auch die Zeitpunkteebene. Bei einem Messzeitpunkt pro Schuljahr stellt sich etwa die Frage, welches Zeitfenster in Bezug auf das Erkenntnisinteresse ökologisch valide ist. Bei sonderpädagogischen Fragestellungen sind oftmals mehrere Erhebungen angebracht, um eine Entwicklung nachzeichnen zu können. Um z. B. die Veränderung der sozialen Position in der Klasse von Schülerinnen und Schülern mit SPF nachzuvollziehen, bietet es sich an, eine erste Erhebung gleich zu Beginn eines Schuljahres anzusetzen und die nächsten Erhebungen in Abständen von z. B. rund zwei Monaten durchzuführen. Beim Phänomenbereich störendes Verhalten etwa sind mehrere Zeitpunkte in einem relativ kurzen Zeitraum sinnvoll. Wechselt die Zusammensetzung der Schulklasse, wie es in den meisten Schulsystemen der Fall ist, verändern sich auch die Gruppenkonstellationen in der Klasse und die Peereinflussprozesse. Neue Klassenkompositionen entstehen vor allem nach Schulübergängen. Gemäß Kindermann (2016) ist es in solchen Fällen am sinnvollsten, zuerst mehrere Erhebungen innerhalb des ersten Schuljahres vorzunehmen, um diese danach auf die folgenden Schuljahre zu erweitern (z. B. bei Müller, Hofmann & Arm, 2017). Bei der ESM spielt das Erhebungsdesign auf Zeitpunktebene ebenfalls eine wichtige Rolle für die Aussagekraft der Daten. Die Messzeitpunkte werden bei ESM-Erhebungen in vergleichsweise kurzen Abständen gesetzt (vgl. Abschnitt 3.4), wodurch auch stark fluktuierende Erlebens- und Verhaltensweisen erfasst werden können. Neben dem intervall-kontingenten Sampling (in regelmäßigen Abständen) und dem ereignis-kontingenten Sampling (bei vorgängig definierten Ereignissen) eignet sich insbesondere das signal-kontingente Sampling für die Peerforschung in Schulklassen. Dabei werden die Signale anhand von inhaltlichen Überlegungen durch die Forschenden gesetzt; die Zusendung der Signale erfolgt dann automatisiert (z. B. bei Zurbriggen & Venetz, 2016). Diese Phasen intensiver wiederholter Messungen lassen sich auch kombinieren mit weiteren Messzeitpunkten (sogenanntes measurement burst design). Für die sonderpädagogische Forschung dürfte außerdem das geräte-kontingente (device-contingent) Sampling von besonderem Interesse sein, da es die kontinuierliche Messung von Merkmalen mittels mobiler Technologien und zudem simultan in unterschiedlichen Modalitäten (z. B. Ton, Fotos, Bewegungsdaten) ermöglicht (Venetz & Zurbriggen, 2015). Beim geräte-kontingenten Sampling werden die Parallelen zwischen ESM und dem Social Sensing deutlich ersichtlich. VHN 3 | 2018 214 CARMEN ZURBRIGGEN Erforschung von Beziehungen zwischen Klassenkamerad/ innen FACH B E ITR AG 4.4 Adaption von Messinstrumenten In der empirischen sonderpädagogischen Forschung ist oftmals eine Adaption des Messinstrumentariums notwendig - so z. B. bei Beeinträchtigungen der kognitiven Leistungsfähigkeit oder bei Sinnesbeeinträchtigungen. Dies betrifft in erster Linie Fragebogenerhebungen, aber auch soziometrische Nominationsverfahren, SCM- und ESM-Erhebungen, welche vielfach auf schriftlicher Befragung basieren. Ein Beispiel für eine Anpassung ist das Vorlesen von Fragebögen (Gresch, Strietholt, Kanders & Solga, 2016). Bei Nominationsmethoden bieten computerbasierte Befragungen Unterstützung. Im Vergleich zu Papierfragebögen (paper-pencil) lässt sich beispielsweise die Erhebungszeitdauer teilweise erheblich verkürzen, was gerade für Schülerinnen und Schüler mit einer kürzeren Aufmerksamkeitsspanne hilfreich ist. Weitere Vorteile sind die einfachere Handhabung, geringere Fehleranfälligkeit und die Möglichkeit, die Benutzeroberfläche entsprechend der Bedürfnisse der Teilnehmenden anzupassen (van den Berg & Gommans, 2017). So können etwa die Peers mit Fotos zur Nomination gestellt und auf einem Touchscreen durch Berührung ausgewählt werden (vgl. computer-basiertes Design bei Huber, Gerullis, Gebhardt & Schwab, 2018). Eine computerbasierte Befragung ist grundsätzlich auch bei konventionellen Fragebogenerhebungen nützlich. Der Problematik der Schriftlichkeit kann z. B. mit Sprachausgabefunktionen begegnet werden. Schwierigkeiten bereitet allerdings vielfach weniger das visuelle Dekodieren, sondern das sprachliche Verstehen der gestellten Fragen. Deshalb ist gerade auch in der sonderpädagogisch ausgerichteten Peerforschung die Entwicklung von Fragebögen notwendig, welche von allen einbezogenen Schülergruppen verstanden werden. Um dies zu überprüfen, sind die einzelnen Items auf Messäquivalenz hin zu testen (z. B. bei Zurbriggen, Venetz, Schwab & Hessels, 2017; Schwab & Helm, 2015). Messäquivalenz ist die Voraussetzung, um Gruppenunterschiede oder differenzielle Effekte sowie Veränderungen von Merkmalen als solche interpretieren zu können. Nicht unmittelbar betroffen von der Problematik der Schriftlichkeit ist Social Sensing. Diese Erhebungsmethode ist mit anderen methodischen Herausforderungen verknüpft, z. B. im Bereich der Programmierung der digitalen Geräte (vgl. Schmid Mast et al., 2015). 5 Fazit Die Erforschung von Peerbeziehungen und Peereinflussprozessen in Schulklassen kann auf eine langjährige Geschichte zurückblicken. Neben der Weiterentwicklung traditionsreicher Erhebungsmethoden wurden in den letzten Jahren neue Methoden eingeführt, die Potenzial für die empirische sonderpädagogische Forschung bergen. Sie versprechen vielfältiges Datenmaterial wie etwa Erlebens- oder Bewegungsprotokolle (via ESM-Erhebung) und Audio-Aufnahmen (via Social Sensing), welche die bisherigen Daten aus Fragebogen- und Nominationsverfahren ergänzen und dadurch die Erkenntnisse zu Beziehungen und Einflussprozessen zwischen Peers in Schulklassen maßgeblich erweitern dürften. Die reichste Datengrundlage bringt jedoch wenig, wenn sie nicht angemessen ausgewertet wird. Längsschnittliche Daten aus Schulklassen, wie sie mit den beschriebenen Erhebungsmethoden gewonnen werden können, sind inhärent komplex. Gefordert sind demnach statistische Analyseverfahren, die der (mehrfach) geschachtelten Datenstruktur (z. B. Schüler in Klassen, Zeitpunkte pro Schüler) gerecht zu werden vermögen, Interaktionsmuster und Beziehungsstrukturen aufzeigen sowie differenzielle Effekte für verschiedene Schülergruppen identifizieren können. VHN 3 | 2018 215 CARMEN ZURBRIGGEN Erforschung von Beziehungen zwischen Klassenkamerad/ innen FACH B E ITR AG Literatur Avramidis, E. (2010). Social relationships of pupils with special educational needs inthe mainstream primary class: peer group membership and peer assessed social behaviour. European Journal of Special Needs Education, 25 (4), 413 -429. https: / / doi.org/ 10.1080/ 08856257.2010.513550 Breidenstein, G., Kelle, H. (1998). Geschlechteralltag in der Schulklasse. Ethnographische Studien zur Gleichaltrigenkultur. 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