Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
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2018
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Aktuelle Forschungsprojekte: Vorstellung des Forschungsprojekts INSENSION
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2018
Peter Zentel
Teresa Sansour
Meike Engelhardt
Torsten Krämer
Problemaufriss Menschen mit schwerer mehrfacher Behinderung kommunizieren häufig auf der präsymbolischen Ebene und verwenden nicht-konventionelle Verhaltensweisen wie beispielsweise bestimmte Körperbewegungen oder Vokalisationen, um ihren Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen. Technische Hilfsmittel zur Unterstützung der Kommunikation zwischen Menschen mit und ohne Behinderung setzen jedoch meist ein Symbolverständnis aufseiten der Nutzer/innen voraus. Diese Formen der Unterstützten Kommunikation können demnach im Kontext schwerer mehrfacher Behinderung in der Regel nicht eingesetzt werden. [...]
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336 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Vorstellung des Forschungsprojekts INSENSION Peter Zentel, Teresa Sansour, Meike Engelhardt, Torsten Krämer PH Heidelberg Problemaufriss Menschen mit schwerer mehrfacher Behinderung kommunizieren häufig auf der präsymbolischen Ebene und verwenden nicht-konventionelle Verhaltensweisen wie beispielsweise bestimmte Körperbewegungen oder Vokalisationen, um ihren Bedürfnissen Ausdruck zu verleihen. Technische Hilfsmittel zur Unterstützung der Kommunikation zwischen Menschen mit und ohne Behinderung setzen jedoch meist ein Symbolverständnis aufseiten der Nutzer/ innen voraus. Diese Formen der Unterstützten Kommunikation können demnach im Kontext schwerer mehrfacher Behinderung in der Regel nicht eingesetzt werden. Der Kreis jener Interaktionspartner/ innen, die in der Lage sind, die spezifischen und hoch individuellen Verhaltenssignale wahrzunehmen und möglichst genau zu deuten, ist meist stark begrenzt. Selbst bei vertrauten Personen ist eine exakte Vermittlung von Bedürfnissen oft nicht möglich. Dies schränkt die Teilhabe oder auch die Entscheidung für eine Beendigung der Teilnahme an Angeboten unter Umständen ein. Forschungsziel und Konsortium Im Zentrum des EU-Forschungsprojekts steht die Frage, wie Mitarbeiter/ innen oder Angehörige durch den Einsatz technischer Hilfsmittel darin unterstützt werden können, Signale von Menschen mit schwerer mehrfacher Behinderung besser wahrzunehmen und zu deuten. Hierdurch soll ein Beitrag geleistet werden, die Lebensqualität von Menschen mit schwerer mehrfacher Behinderung zu steigern, ihre Kommunikation zu erleichtern und damit auch Selbstbestimmung zu fördern. Umgesetzt werden soll dies mithilfe einer technologieunterstützten responsiven Umgebung, die verschiedenste Verhaltenssignale - Mimik, Gestik, Vokalisationen oder auch physiologische Parameter - analysiert und interpretiert. Daraus leitet sich anschließend in Abstimmung mit den Situations- und Kontextfaktoren ein möglicher Handlungsbedarf ab, der mithilfe des Systems von der Bezugsperson erkannt werden soll. Auf lange Sicht ist eine ergänzende Unterstützung durch die zusätzliche Verwendung weiterer Informations- und Kommunikationstechnologien - beispielsweise im Sinne von Ambient Assisted Living - angedacht. Das interdisziplinäre Konsortium setzt sich aus verschiedenen Expert/ innen aus Polen, Spanien, Slowenien und Deutschland zusammen. Die nachfolgenden drei der sechs Projektpartner sind auf Technologien zur Erkennung der genannten Verhaltenssignale spezialisiert: n Poznan´ Supercomputing and Networking Center (PSNC, Polen) n Fundación Centro Tecnológico de la Información y la Comunicación (CTIC, Spanien) n Jožef Stefan Institute (JSI, Slowenien). Des Weiteren sind Partner aus der Sonderpädagogik beteiligt, sowohl aus dem praktischen und wissenschaftlichen als auch aus dem Bereich der Hilfsmittelversorgung: n Stowarzyszenie Na Tak (Na Tak, Polen) n Pädagogische Hochschule Heidelberg (PH Heidelberg, Deutschland) n Harpo Sp. z o. o. (Harpo, Polen). Methodisches Vorgehen Im Projekt INSENSION werden die theoretischen Konzepte und die technische Realisierung im konkreten Umfeld von Na Tak, einem Träger von Einrichtungen für Menschen mit Behinderung in Polen, entwickelt und erprobt. Eingesetzt wird die Technik bei sechs ausgewählten Proband/ innen mit schwerer mehrfacher Behinderung - je zwei Teilnehmende im Vorschul-, Schulsowie im Erwachsenenalter. Die Analyse der Lebensbereiche erfolgt sowohl qualitativ als auch quantitativ. VHN, 87. Jg., S. 336 -337 (2018) DOI 10.2378/ vhn2018.art37d © Ernst Reinhardt Verlag VHN 4 | 2018 337 AK TU E LL E FORSCHUNGSPROJ E K TE Der Untersuchung liegt ein Assessment der Kommunikations- und Verhaltensweisen der sechs Proband/ innen zugrunde. Dieses basiert auf einem Fragebogen, der von Mitarbeiter/ innen der jeweiligen pädagogischen Einrichtung und Angehörigen des Menschen mit schwerer mehrfacher Behinderung ausgefüllt wird. Er beinhaltet Skalen zur Erfassung von vorsprachlicher Kommunikation, Verhaltensauffälligkeiten, Stimmung, Schmerz, (Un-)Zufriedenheit und allgemeinen Daten der Proband/ innen. Im Rahmen erster Videoaufnahmen wird das Verhalten der Proband/ innen vor dem Hintergrund von Kommunikation und Gemütszuständen fokussiert. Weitere Aufnahmen in ausgewählten Szenarien dienen der sukzessiven Verbesserung der verwendeten Erkennungstechnologien. Sämtliche technologisch erhobenen Daten werden in Verbindung mit den Informationen der Fragebögen personenbezogen analysiert und interpretiert. Aus diesem Datenbestand entsteht für alle Proband/ innen jeweils ein mit diesen Informationen gefüllter individueller sogenannter Electronic Communication Passport. Die darin gesammelten Erkenntnisse bilden den Ausgangspunkt für das zu entwickelnde System zur technischen Analyse und Deutung der Verhaltenssignale. Die Erfahrungen der Nutzer/ innen (z. B. Angehörige oder pädagogisches Fachpersonal) sowie deren Akzeptanz des technologiebasierten Settings werden im Rahmen von Fokusgruppen ermittelt und münden in die Erarbeitung potenzieller Anwendungsmöglichkeiten des Systems. Die hierdurch gewonnenen Erkenntnisse werden mit weiteren Expert/ innen aus Wissenschaft und Praxis über ein Online-Portal zu Evaluationszwecken diskutiert. Nach der Erstellung eines ersten, umfänglich funktionierenden Prototyps der technologieunterstützten responsiven Umgebung, welcher alle einzelnen Module der Erkennungstechnologien vereint, erfolgt die methodologische Planung und Durchführung des Pilotversuchs mit anschließender Evaluation. Ausblick Das erste Projekthalbjahr dient der Auswahl der Proband/ innen sowie theoretischen Vorarbeiten zu Kommunikations- und Verhaltensweisen der Zielgruppe und den damit verbundenen Anforderungen an die einzelnen Erkennungstechnologien, die parallel dazu erprobt werden. Im nächsten Schritt wird die hierauf aufbauende Datenerhebung von Verhaltenssignalen der Proband/ innen in spezifischen Kontexten eingeleitet. Der dafür notwendige Abstimmungsprozess zwischen den technologischen und pädagogischen Partnern zielt auf deren sukzessive Optimierung ab. INSENSION wird durch das Rahmenprogramm der Europäischen Union für Forschung und Innovation Horizont 2020 gefördert. Projektleitung: Prof. Dr. Peter Zentel, Dr. Teresa Sansour Wissenschaftliche Mitarbeiter/ innen: Meike Engelhardt, Torsten Krämer Weitere Informationen und Literaturangaben können eingeholt werden bei engelhardt@ph-heidelberg.de und kraemer@ph-heidelberg.de
