eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 87/1

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2018.art02d
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2018
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Fachbeitrag: Mehrdimensionale Diskriminierungen. Intersektionale Perspektiven auf Behinderung, Geschlecht und Sexualität

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2018
Julia Zinsmeister
Anna-Katharina Vogel
Im vorliegenden Beitrag werden aus rechtswissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Perspektive die Mechanismen mehrdimensionaler Diskriminierung anhand der Intersektionen von Geschlecht, Behinderung und Sexualität erläutert und mögliche politische, rechtliche und fachliche Konsequenzen diskutiert. Anschließend an Kritikpunkte des UN-Fachausschusses wird beispielhaft anhand der Themen der reproduktiven Rechte und des Strafrechtsschutzes behinderter Menschen bei sexualisierter Gewalt veranschaulicht, wie die drei genannten Kategorien zusammenwirken und wie durch bestimmte Normalitätsvorstellungen auch vermeintlich neutrales Recht diskriminierende Effekte entfalten kann. Die Ergebnisse einer wissenssoziologischen Diskursanalyse zum Thema der sexuellen Selbstbestimmung von Menschen mit Lernschwierigkeiten geben Aufschluss darüber, dass diese Zuschreibungsprozesse und Normalitätskonstruktionen auch im fachlichen Diskurs der Pädagogik und Sozialen Arbeit vorherrschen.
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10 VHN, 87. Jg., S. 10 -26 (2018) DOI 10.2378/ vhn2018.art02d © Ernst Reinhardt Verlag Mehrdimensionale Diskriminierungen. Intersektionale Perspektiven auf Behinderung, Geschlecht und Sexualität Julia Zinsmeister, Anna-Katharina Vogel Technische Hochschule Köln Zusammenfassung: Im vorliegenden Beitrag werden aus rechtswissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Perspektive die Mechanismen mehrdimensionaler Diskriminierung anhand der Intersektionen von Geschlecht, Behinderung und Sexualität erläutert und mögliche politische, rechtliche und fachliche Konsequenzen diskutiert. Anschließend an Kritikpunkte des UN-Fachausschusses wird beispielhaft anhand der Themen der reproduktiven Rechte und des Strafrechtsschutzes behinderter Menschen bei sexualisierter Gewalt veranschaulicht, wie die drei genannten Kategorien zusammenwirken und wie durch bestimmte Normalitätsvorstellungen auch vermeintlich neutrales Recht diskriminierende Effekte entfalten kann. Die Ergebnisse einer wissenssoziologischen Diskursanalyse zum Thema der sexuellen Selbstbestimmung von Menschen mit Lernschwierigkeiten geben Aufschluss darüber, dass diese Zuschreibungsprozesse und Normalitätskonstruktionen auch im fachlichen Diskurs der Pädagogik und Sozialen Arbeit vorherrschen. Schlüsselbegriffe: Mehrdimensionale Diskriminierung, Intersektionalität, Rechtswissenschaften, Sozialwissenschaften, wissenssoziologische Diskursanalyse Multi-dimensional Discrimination. Intersectional Perspectives on Disability, Gender, and Sexuality Summary: In this article the mechanisms of multi-dimensional discrimination are explained from a legal and social sciences perspective by means of the intersections of gender, disability, and sexuality. The possible political, legal, and professional consequences are discussed. Subsequently, criticisms from the UN Committee on the Rights of Persons with Disabilities will be exemplified by means of reproductive rights and the legal protection of persons with disability in criminal proceedings in cases of sexual violence. We will illustrate how the three cited categories intertwine, and how purportedly neutral law can also lead to discriminatory effects through certain ideas of normality/ normative concepts. The results of a sociological discourse analysis on the topic of sexual self-determination of people with learning difficulties reveals that these social ascriptions and constructions of normality also predominate in the professional discourse of pedagogy and social work. Keywords: Multidimensional discrimination, intersectionality, jurisprudence, social sciences, sociology of knowledge approach to discourse FACH B E ITR AG TH EME NSTR ANG Intersektionalität in der Sonderpädagogik VHN 1 | 2018 11 JULIA ZINSMEISTER, ANNA-KATHARINA VOGEL Mehrdimensionale Diskriminierungen FACH B E ITR AG 1 Mehrdimensionale Diskriminierung: Wirkmächtig, aber kaum beachtet Art. 6 der UN-Behindertenrechtskonvention 1 verpflichtet die Vertragsstaaten, darunter Österreich, Deutschland und die Schweiz, mehrdimensionalen Diskriminierungen von Menschen mit Behinderungen vorzubeugen und entgegenzuwirken. In Deutschland sind entsprechende Verbote der Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen „wegen mehrerer Gründe“ und die Pflicht, ihren „besonderen Bedürfnissen“ Rechnung zu tragen, schon länger gesetzlich verankert, vgl. nur § 2 Abs. 1 und 2 Bundesbehindertengleichstellungsgesetz (BGG). Die Regelungen finden in administrativen und pädagogischen Bereichen bislang jedoch kaum Beachtung. Dies veranlasste den Fachausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu der Feststellung, dass Menschen mit Behinderungen in Deutschland unzureichend vor mehrdimensionaler Diskriminierung geschützt und oft von spezifischen Menschenrechtsverletzungen wie z. B. Zwangssterilisationen betroffen sind (CPRD 2015). Wir werden nachfolgend aus rechtswissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Perspektive am Beispiel des Zusammenwirkens von Geschlecht, Behinderung und Sexualität beleuchten, was unter einer mehrdimensionalen Diskriminierung zu verstehen ist und wie dieser begegnet werden kann und muss. Dabei bewegen wir uns innerhalb des Orientierungsrahmens der Intersektionalität, den Katharina Walgenbach in ihrem Beitrag in der VHN 3/ 2016 als ein Paradigma zur Analyse von Ungleichheits-, Macht- und Normierungsverhältnissen charakterisiert hat (Walgenbach 2016). Sie stellt zutreffend fest, dass den verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven ein gemeinsames Gründungsnarrativ, insbesondere der Rekurs auf die wegweisenden Arbeiten der Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw (1989), und ein bestimmtes „Set an Prämissen“ zu eigen ist. Kennzeichnend für die Intersektionalitätsforschung ist auch, dass sie nicht nur die Wechselbeziehungen zwischen „gender“, „sex“, „race“ und anderen Strukturkategorien, sondern auch zwischen den Ebenen der Identitätsbildung, symbolischen Ordnungen und sozialen Strukturen analysiert (Walgenbach 2016). Diese Wechselbeziehungen wollen wir nachfolgend anhand einzelner Kritikpunkte des UN-Fachausschusses beleuchten und hier insbesondere die reproduktiven Rechte und den Strafrechtsschutz behinderter Menschen bei sexualisierter Gewalt in den Blick nehmen. Wir zeigen auf, dass auch scheinbar neutrale Regelungen diskriminierend wirken können, wenn sie sich einseitig an einem Normalitätsverständnis orientieren, dem Teile der Bevölkerung nicht entsprechen können oder wollen. Mit der Konstruktion von Normalität geht die Konstruktion von Andersartigkeit einher. Sie vollzieht sich auch in der pädagogischen Theorie und Praxis. Anhand einer wissenssoziologischen Analyse des Fachdiskurses der letzten 10 Jahre zur sexuellen Selbstbestimmung von Menschen mit Lernschwierigkeiten 2 kann aufgezeigt werden, dass in der pädagogischen und sozialen Arbeit Behinderung immer noch individualisiert und die Sexualität von Menschen mit Beeinträchtigungen als andersartig konstruiert wird. Das Geschlecht bildet dabei eine Leerstelle, die als wiederkehrendes Schweigen gelesen und als vieldeutiges Verstummen interpretiert werden kann. Wie können dieses Schweigen und mehrdimensionale Diskriminierungen überwunden werden? Diese Frage stellen wir abschließend zur Diskussion und zeigen beispielhaft Handlungsmöglichkeiten auf. 2 Prolog: Ein Gedankenspiel Stellen Sie sich eine sexuelle Begegnung zweier Menschen vor: Die eine Person ist weiblich, die andere männlich. Die eine Person ist behindert, die andere nicht. Eine Person bezahlt die andere für den Sex. Wer, denken Sie, ist wer? VHN 1 | 2018 12 JULIA ZINSMEISTER, ANNA-KATHARINA VOGEL Mehrdimensionale Diskriminierungen FACH B E ITR AG Ein zweites Szenario: Wiederum sehen Sie eine Frau und einen Mann. Die eine Person mit, die andere ohne Behinderung. Diesmal geht es nicht um eine sexuelle Begegnung oder um Geld. Die eine Person zwingt die andere Person zu sexuellen Handlungen. Wer, denken Sie, ist wer? 3 Mehrdimensionale Diskriminierung: Definition und Erscheinungsformen Kernelement jeder Diskriminierung bilden bestimmte, bewusste oder unbewusste Vorstellungen von Normalität und Andersartigkeit. Je nachdem, ob wir eine Person als weiblich oder männlich, behindert oder nicht behindert wahrnehmen, schreiben wir ihr unbewusst verschiedene Neigungen und (Un-)Fähigkeiten, ein unterschiedliches Maß an (sexueller) Attraktivität, Aktivität und einen bestimmten Platz in der sozialen Hierarchie zu. Im Zusammenwirken unserer Vorstellungen von Geschlecht, Behinderung und Sexualität entstehen Zuschreibungen von eigenem Charakter und damit verbundene Effekte der Privilegierung und Diskriminierung. Welche Vorannahmen ließen Sie die im Prolog beschriebenen Szenarien gedanklich arrangieren? Eine Erklärungsfolie liefert die geschlechtshierarchische Struktur, die es nahelegt, dem oder der Freier/ in und Täter/ in jeweils ein männliches Geschlecht zuzuschreiben, die Rolle des bzw. der Sexarbeiter/ in oder des Opfers von Menschenhandel hingegen weiblich zu besetzen. Das entspricht nicht nur den statistisch nachgewiesenen Verhältnissen (Müller/ Schröttle 2004; IOM 2015), sondern auch der Performanz heterosexueller Männlichkeit und Weiblichkeit (Gerheim 2012, 267; Grenz 2007, 245): Als Freier/ in Geld zu zahlen, um mit einem anderen Menschen sexuell verkehren zu können, lässt sich als Ausdruck männlicher Macht (Geld ist Macht, ergo ist ein Mann erfolgreich, wenn er Sex mit Frauen kaufen kann, die sich unbezahlt nicht auf ihn einlassen würden) und weiblichen Versagens (sexuelle Attraktivität ist Macht, ergo sind Frauen erfolgreich, wenn sie nicht für Sex zahlen müssen) deuten. Dass - wenn auch in statistisch geringerem Maße - Freier/ innen auch weiblich sind und Männer als Prostituierte arbeiten und Opfer sexualisierter Gewalt werden, wird tabuisiert (Forschungsverbund Gewalt gegen Männer 2004; Schönnagel 2016). Gängige Vorstellungen von Behinderung - von diesen wird noch die Rede sein - können es erschweren, behinderte Menschen als machtvoll, wohlhabend, sexuell attraktiv oder auch als Täter oder Opfer sexueller Gewalt wahrzunehmen. Behinderung wird vielmehr mit Ageschlechtlichkeit und Leid gleichgesetzt. Unsere Vorstellungen davon, was das Geschlecht, eine Behinderung und eine „normale“ Sexualität ist, prägen nicht nur die zwischenmenschliche Interaktion. Sie werden medial reproduziert, verfestigen sich in gesellschaftliche Kulturen und Strukturen, die wiederum den Handlungsrahmen der Einzelnen und das Maß ihrer gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten bestimmen. Zu diesen gesellschaftlichen Strukturen zählen auch sittliche, moralische und rechtliche Normierungen des menschlichen Verhaltens, z. B. die gesetzliche Regulierung der Prostitution oder die Reglementierung von sozialen Kontakten in den Hausordnungen von Heimen. 3.1 Diskriminierung als Rechtsbegriff Rechtlich bezeichnet der Begriff der Diskriminierung eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung und damit eine Verletzung des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes, wie er insbesondere in Art. 2 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) der Vereinten Nationen formuliert wurde. Die Mitgliedstaaten haben die Grundfreiheiten und VHN 1 | 2018 13 JULIA ZINSMEISTER, ANNA-KATHARINA VOGEL Mehrdimensionale Diskriminierungen FACH B E ITR AG Persönlichkeitsrechte aller Menschen zu wahren und Ungleichbehandlungen von Menschen stets auf ein sachlich gebotenes Maß zu begrenzen. Im allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz kommt die Universalität der Menschenrechte zum Ausdruck: Sie stehen allen Menschen unabhängig davon zu, ob sie in der Lage sind, von diesen Rechten Gebrauch zu machen, oder ob sie von anderen Menschen für fähig gehalten werden, autonome, d. h. verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen (BVerfG v. 29. 7. 1968 - 1 BvL 20/ 63, 31/ 66 und 5/ 67). Danach hat z. B. jeder Mensch das Recht auf eine freie Wahl seiner Lebensform und die Achtung seiner Privatheit und sexuellen Selbstbestimmung, solange er seinerseits die Grenzen anderer und die allgemeinen Gesetze achtet. Sind Menschen aufgrund ihres kindlichen Alters, einer demenziellen Erkrankung oder aufgrund von Lernschwierigkeiten (noch) nicht bzw. nicht mehr uneingeschränkt in der Lage, von ihren Grundfreiheiten Gebrauch zu machen, sind die Vertragsstaaten verpflichtet, sie gezielt in ihrer Rechtsverwirklichung zu fördern. Entsprechende staatliche Schutz- und Gewährleistungspflichten, z. B. in Form von Informations-, Beratungs- und Bildungsangeboten werden in den völkerrechtlichen Konventionen zum Teil konkret ausbuchstabiert. So haben die Vertragsstaaten gemäß Art. 12 Abs. 3 und Art. 19 UN-BRK behinderten Menschen die Unterstützung bei der Entscheidungsfindung und persönliche Assistenz zu gewähren, die sie ggf. zur Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit und für ein Leben in der Gemeinschaft und in der von ihnen gewählten Wohn- und Lebensform benötigen. Der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz ist verletzt, wenn Personen bzw. Personengruppen unterschiedlich behandelt werden, obwohl zwischen ihrer Situation und ihren Interessen keine derartigen Unterschiede bestehen, die eine ungleiche Behandlung rechtfertigen oder sogar gleichheitsrechtlich erfordern könnten. Über den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz hinaus reichen die von den Vereinten Nationen, dem Europarat und vielen Nationalstaaten verabschiedeten besonderen Diskriminierungsverbote. In Art. 8 Abs. 2 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft lauten sie z. B.: „Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.“ Die besonderen Diskriminierungsverbote sollen den wirkungsvollen Schutz vor Ungleichbehandlung von Menschen gewährleisten, die in besonderem Maß von Ausgrenzung, Entrechtung und Verfolgung bedroht und betroffen sind. Die Differenzierungskategorien, die diese besondere Schutzbedürftigkeit begründen, variieren von Rechtsordnung zu Rechtsordnung. Ihre Auswahl lässt keine ungleichheitstheoretische Systematik erkennen, sondern ist das Ergebnis historischer Bürger/ innenrechtsbewegungen (Zinsmeister 2017 a, 265). So sind beispielsweise Menschen, die der gängigen Vorstellung von der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit des Menschen nicht entsprechen, zwar in hohem Maß von Diskriminierung betroffen, rechtlich aber nur in wenigen Rechtsordnungen explizit vor Diskriminierung wegen der sexuellen Identität bzw. Orientierung geschützt. An die Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen wegen der gesondert aufgeführten Differenzkategorien ist ein besonders strenger Maßstab zu legen. So ist es dem Staat verboten, überkommene Geschlechterrollen zu verfestigen, indem er z. B. Männern weniger gesetzliche Anreize zur Übernahme der Elternverantwortung und Hausarbeit bietet, Frauen den aktiven Militärdienst verweigert oder in einer Haftanstalt nur weiblichen Häftlingen die Möglichkeit einräumt, Kosmetika einzukaufen. VHN 1 | 2018 14 JULIA ZINSMEISTER, ANNA-KATHARINA VOGEL Mehrdimensionale Diskriminierungen FACH B E ITR AG 3.2 Mehrdimensionale Diskriminierung Ein Lernprozess, der aktuell sowohl auf internationaler wie nationaler Ebene vollzogen wird, ist die Anerkennung und Analyse des mehrdimensionalen Charakters sozialer und rechtlicher Ungleichheit, der in der Gesetzgebung bisher als mehrfache Benachteiligung (vgl. im deutschen Recht: § 2 BGG, § 4 Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) bezeichnet wird. So heißt es in § 2 Abs. 1 BGG, dass zur Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und zur Vermeidung von Benachteiligungen von Frauen mit Behinderungen wegen mehrerer Gründe deren besondere Belange zu berücksichtigen, bestehende Benachteiligungen zu beseitigen und hierzu gezielte Fördermaßnahmen zulässig sind. Der gesetzliche Hinweis auf die „besonderen Bedürfnisse“ behinderter Frauen und Kinder reproduziert freilich eben jenes hierarchische Denken, das mithilfe der Gesetze überwunden werden soll: die Gleichsetzung vom Menschen mit dem erwachsenen Mann, die es erforderlich macht, Frauen und Kinder gesondert zu erwähnen, um sie mitdenken zu können, sowie die Marginalisierung ihrer Bedürfnisse zur geschlechtsbzw. altersspezifischen Besonderheit (Zinsmeister 2006). Auch der Begriff der mehrfachen Diskriminierung gibt Anlass zur Kritik, legt er doch nahe, dass es im Zusammenwirken verschiedener Diskriminierungskategorien stets zu einer Addition von Risiken käme. Aussagen über gruppenspezifische Nachteile und Problemlagen, wie z. B. jene „der Frauen“ oder „der Behinderten“ lassen sich jedoch nicht von vornherein 1 : 1 auf die Gruppe der Frauen mit Behinderungen übertragen. So bezog sich die tradierte und einst auch vom Bundesverfassungsgericht vertretene Ansicht, wonach die Mutterschaft der Bereich der Frau sei, „in dem ihr Wesen am tiefsten wurzelt und sich entfaltet“ (Bundesverfassungsgericht vom 29. 7. 1959 - 1 BvR 205/ 58), offenbar nur auf das Wesen nichtbehinderter Frauen. Während diese in den 1970er-Jahren mit spektakulären Selbstbezichtigungskampagnen - wie z. B. dem öffentlichen Bekenntnis vieler prominenter Frauen „Wir haben abgetrieben“ (stern v. 6. 6. 1971) - für ihr Recht auf eine selbstbestimmte Entscheidung gegen ein Kind kämpften, wurden und werden behinderte Frauen bis heute ohne Rücksicht auf ihre Fähigkeiten, Potenziale und die staatlichen Hilfen für Familien häufig zur Sterilisation oder Abtreibung gedrängt: Im bundesweiten Durchschnitt sind in Deutschland 5 % aller Frauen und Männer, die aktuell verhüten, sterilisiert (vgl. BzGA 2011). Bei Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen im Alter von 16 - 65 sind es hingegen 17 % (Schröttle u. a. 2013; Zinsmeister 2012). Die Zahl der sterilisierten Männer mit Behinderungen und Beeinträchtigungen ist nicht bekannt. Frauen, die in Einrichtungen für Menschen mit Lernschwierigkeiten leben, verhüten zudem häufig mit der Drei-Monats-Spritze, und dies vielfach prophylaktisch, d. h. ohne (hetereo-)sexuell aktiv zu sein (Schröttle 2012). Im Bundesdurchschnitt entscheiden sich aufgrund der erheblichen Gesundheitsrisiken gerade einmal 1 % aller Frauen für diese Verhütungsmethode (BzGA 2011). Die deutschen Fachgesellschaften für Gynäkologie und Geburtshilfe raten von Depotspritzen wegen des sehr hohen Osteoporoserisikos überwiegend ab (DGGG e.V. 2010). Frauen mit Beeinträchtigungen berichten von großen Vorbehalten, mit denen sie sich in Bezug auf ihren Kinderwunsch oder ihre elterlichen Kompetenzen konfrontiert sehen (Pixa-Kettner 2012). Weiblichkeit wird zwar meist mit Fürsorglichkeit assoziiert, eine Behinderung jedoch wird mit Fürsorgebedürftigkeit gleichgesetzt und angenommen, dass Menschen, die selbst Hilfe benötigen, anderen nicht helfen können. VHN 1 | 2018 15 JULIA ZINSMEISTER, ANNA-KATHARINA VOGEL Mehrdimensionale Diskriminierungen FACH B E ITR AG Das Beispiel der reproduktiven Rechte belegt besonders anschaulich, dass sich an den Schnittstellen verschiedener Kategorien Nachteile nicht notwendig vervielfachen müssen, sondern Diskriminierungen von eigenem Charakter entstehen (Makkonen 2002). In der deutschsprachigen Rechtswissenschaft hat sich daher der Begriff der mehrdimensionalen Diskriminierung als Oberbegriff für alle Formen rechtlicher Diskriminierungen etabliert, die auf mehr als einem Diskriminierungsgrund basieren (Zinsmeister 2007; Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2010). Je nachdem, wie Kategorien verwoben sind, ob sich Nachteile verdoppeln, in anderer Weise potenzieren oder relativieren, wird innerhalb der Gruppe der „mehrdimensionalen Diskriminierung“ nochmals zwischen „additiver“, „vermehrter“ und „intersektionaler“ Diskriminierung unterschieden (Zinsmeister 2007; Baer u. a. 2010, 17). Der Begriff der mehrdimensionalen Diskriminierung wird auch den unterschiedlichen Formen und Wirkungsweisen rechtlicher Diskriminierung gerecht. Denn als Diskriminierung verboten ist nicht nur die vorsätzliche Herabwürdigung oder Schlechterstellung einer Person wegen ihrer körperlichen Erscheinung, Religion oder ähnlichen Gründen. Auch scheinbar neutrale Regelungen können diskriminierend sein, wenn sie sich einseitig an einem Normalitätsverständnis orientieren, dem bestimmte Mitglieder der Gesellschaft nicht entsprechen können und die hierdurch schlechter gestellt werden, ohne dass ein sachlicher Grund dies rechtfertigen könnte („mittelbare Diskriminierung“). Ein solches Normalitätsverständnis kommt z. B. in der unreflektierten Annahme zum Ausdruck, alle Menschen seien zeitlich flexibel, uneingeschränkt mobil und des Sehens, Lesens und Hörens mächtig. Gemäß Art. 2 UN- BRK handelt es sich darum auch um eine Diskriminierung, wenn Menschen mit Beeinträchtigungen angemessene Vorkehrungen - z. B. die Übersetzung eines behördlichen Schreibens in leichte Sprache - verweigert werden. 4 Mehrdimensionale Diskriminierungen in Deutschland - die Kritik des UN-Fachausschusses Der Fachausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen prüft die Lage der Menschenrechte beeinträchtigter Menschen in den Vertragsstaaten anhand der Berichte der Regierungen und der Nichtregierungsorganisationen sowie anhand von Individualbeschwerden und gibt Anregungen zur Umsetzung der UN-BRK. Er befasst sich in diesem Zusammenhang auch mit mehrdimensionalen Diskriminierungen. Der Art. 6 UN-BRK hebt explizit das Risiko der „multiple discrimination“, insbesondere der mehrfachen Diskriminierung behinderter Frauen und Mädchen und die Pflicht der Staaten hervor, dieser aktiv entgegenzuwirken. 2015 nahm der Fachausschuss erstmals zur Lage der Menschenrechte in Deutschland Stellung. Er wies auf die Diskriminierung geflüchteter Menschen mit Beeinträchtigungen und ihr Recht auf Zugang zu sozialer und medizinischer Versorgung hin (CPRD 2015). Er zeigte sich besorgt darüber, dass Kinder mit Beeinträchtigungen nicht systematisch in Entscheidungen, die ihr Leben betreffen, einbezogen werden und ihre Eltern nicht frei über die Art der Bildung für ihre Kinder entscheiden können. Der Fachausschuss verurteilt Sterilisationen und Schwangerschaftsabbrüche an Menschen mit Behinderungen ohne deren Einverständnis auf der Grundlage einer ersetzenden Entscheidung ihrer rechtlichen Betreuer/ innen als Zwangsmaßnahmen und forderte die Bundesrepublik darum auf, § 1905 BGB ersatzlos zu streichen 3 . Er kritisierte außerdem die unzureichenden staatlichen Aktivitäten in Deutschland zum Schutz behinderter Mädchen und Frauen vor Gewalt und den erschwerten Zugang gewaltbetroffener Frauen mit Beeinträchtigungen zur Justiz (CPRD 2015). In seinem General Comment No. 3 zu Art. 3 UN- BRK „women and girls with disabilities“ führte VHN 1 | 2018 16 JULIA ZINSMEISTER, ANNA-KATHARINA VOGEL Mehrdimensionale Diskriminierungen FACH B E ITR AG der Fachausschuss ergänzend hierzu aus, dass Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen besonders häufig von sexualisierter Gewalt betroffen sind und insbesondere Frauen mit intellektuellen oder psychosozialen Beeinträchtigungen nach erlittener sexualisierter Gewalt befürchten müssen, vor Gericht keinen ausreichenden Rechtsschutz zu erhalten, weil ihnen prozessuale Rechte vorenthalten oder ihre Aussagen als unglaubhaft eingestuft werden (CPRD 2016). 5 Intersektionen von Behinderung, Geschlecht und Sexualität Werden Frauen mit Beeinträchtigungen nach erlittener sexualisierter Gewalt vor Gericht tatsächlich diskriminiert? Formalrechtlich betrachtet ist dies zu verneinen: Die Strafprozessordnung räumt ihnen als Verletzten einer Straftat die gleichen prozessualen Rechte und Pflichten ein wie anderen Zeug/ innen, die als mutmaßliche Kriminalitätsopfer vor Gericht zur Tat aussagen sollen. Die Gerichte sind im Umgang mit den Verfahrensbeteiligten zudem zur Neutralität verpflichtet. Gegen eine Diskriminierung ließe sich auch einwenden, dass das Ziel der Wahrheitsfindung und das Prinzip der Unschuldsvermutung generell hohe Anforderungen an Zeug/ innenaussagen stellen, an denen nicht nur behinderte Frauen, sondern auch nichtbehinderte Männer zu scheitern drohen. Das gilt insbesondere bei Sexualstraftaten, bei denen die Aussagen der Verletzten oft das einzige Beweismittel sind und damit den Dreh- und Angelpunkt des Verfahrens bilden. Zeug/ innen mit Beeinträchtigungen kann die Aussage jedoch durch verschiedene Faktoren zusätzlich erschwert werden (Zinsmeister u. a. 2017). Sie sehen sich möglicherweise mit Kommunikationsbarrieren konfrontiert, die beseitigt werden müssen. Zeug/ innen mit Lernschwierigkeiten sind zudem oft nicht sexuell aufgeklärt worden 4 und verfügen dann u. U. nicht über die Worte, die sie benötigen, um dem Gericht den Übergriff in der erforderlichen Detailtreue zu beschreiben. Um behinderten Prozessbeteiligten einen gleichberechtigten, wirksamen Zugang zur Justiz (Art. 13 UN-BRK) zu eröffnen, gilt es auch, Mythen von Behinderung und deren Verknüpfung mit Mythen sexueller Gewalt im Geschlechterverhältnis zu überwinden. Die Wirkmächtigkeit solcher Mythen haben Krüger u. a. (2013) in ihrer Auswertung von 57 Strafprozessakten aus zwei Schweizer Kantonen anschaulich herausgearbeitet und aufgezeigt, dass Geschlechterkonstruktionen und Stigmatisierungen von Menschen mit Lernschwierigkeiten als anormal Einfluss auf die Bewertung ihrer Aussagen und damit auf die Wahrheits- und Entscheidungsfindung des Gerichts nehmen können. Dazu gehört beispielsweise die pauschale Bewertung intellektuell beeinträchtigter Frauen als unattraktiv, verbunden mit der Annahme, mangelnde Attraktivität schütze Frauen vor sexualisierter Gewalt. Die Forscherinnen stellten fest, dass sich nicht alleine Vertreter/ innen der Polizei und Justiz dieser und ähnlicher Mythen bedienten, sondern die gewaltbetroffenen Frauen und Männer auch von ihren Angehörigen und den psychosozialen Fachkräften infantilisiert und gegenüber den Vernehmungsbeamt/ innen als asexuell oder triebhaft und sexuell distanzlos beschrieben wurden (ebd.). Eine formaljuristische Gleichstellung alleine bietet also noch keine Gewähr für umfassende Gleichberechtigung. Damit Menschen vor Gericht tatsächlich gleich behandelt werden, müssen ihnen gleichwertige Zugänge zur Justiz geebnet und ihre Aussagen neutral und frei von diskriminierenden Zuschreibungen verwertet werden. Dazu bedarf es jedoch eines vertieften Verständnisses der wechselseitigen Bedingtheit der Kategorien und in der Analyse hierzu des VHN 1 | 2018 17 JULIA ZINSMEISTER, ANNA-KATHARINA VOGEL Mehrdimensionale Diskriminierungen FACH B E ITR AG Wechsels von der rechtswissenschaftlichen in eine sozialwissenschaftliche Perspektive: In welcher Art und Weise erfolgen Zuschreibungsprozesse im Sprechen über Sexualität und Behinderung? Wie vollziehen sich die Konstruktionen von behindertem Geschlecht und behinderter Sexualität als Bereiche des Anomalen? 5.1 Konstruktionen von Behinderung, Geschlecht und Sexualität - eine wissenssoziologische Diskursanalyse Den eben genannten Fragen ist Vogel in einer Analyse des sozialwissenschaftlichen Diskurses zum Thema der sexuellen Selbstbestimmung von Menschen mit Lernschwierigkeiten (Vogel 2016; 2018) nachgegangen. Anhand ihrer Studienergebnisse soll nachfolgend aufgezeigt werden, wie Behinderung, Geschlecht und Sexualität in der fachlichen Diskussion konstruiert werden und welchen Einfluss dabei die heteronormative Ordnung hat 5 . Die intersektionale Perspektive eröffnet den Blick auf die Wechselwirkungen der genannten Kategorien. Scheinbar neutrale Regelungen und Maßnahmen lassen sich daraufhin untersuchen, ob sie sich einseitig an hegemonialen Vorstellungen von einer menschlichen bzw. gesellschaftlichen Normalität orientieren und damit den Ausschluss derjenigen bedingen, die dieser Norm nicht entsprechen können oder wollen. Im Rahmen einer wissenssoziologischen Diskursanalyse nach Keller (vgl. Keller 2011) unter Einsatz von Mapping-Techniken der Situationsanalyse nach Clarke (2012) hat Vogel ein repräsentatives Textsample, bestehend aus 15 deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Publikationen aus den Jahren 2004 - 2014 mit unterschiedlichem Umfang, zum Thema „Sexuelle Selbstbestimmung bzw. nicht erfüllte Selbstbestimmung von Menschen mit Lernschwierigkeiten“ generiert. Das Spektrum der Texte reicht von zweiseitigen Handbucheinträgen über Zeitschriftenaufsätze und Monografien bis hin zu 500-seitigen Sammelbänden. Um die Breite des Diskurses einzufangen, finden sich im Sample sowohl Texte, die sich als Ratgeber für die Praxis bezeichnen lassen, als auch anwendungsbezogene Forschung und Texte, die orientiert an Grundlagenforschung Kritik üben. Texten, die aus einer Betroffenenperspektive argumentieren, stehen Texte aus der Praxis gegenüber. Die Auswahl erfolgte anhand vorher definierter Abgrenzungskriterien, die eine einheitliche und eindeutige Zuordnung der Texte zum fachlichen Diskurs erlaubten und spezifisch auf das Forschungsinteresse abgestimmt waren. Mittels der Prinzipien der Kontrastierung wurden Texte bezüglich ihres Umfangs und der Ausrichtung (angewandt/ grundlagenbezogen) oder Perspektive (Vertretung einer bestimmten Interessensgemeinschaft) möglichst gleichmäßig ausgewählt. Insgesamt wurde eine Textmenge von rund 1.500 Seiten auf wiederkehrende Muster hin untersucht, die als gültige Aussagen des Diskurses gewertet werden können. Es ging also nicht darum, singuläre Äußerungen zu erfassen, sondern darum, typische Aussagen, wiederkehrende Zuschreibungen, thematische Schwerpunktsetzungen und musterhafte Leerstellen herauszuarbeiten, um so die kollektive Wissensproduktion zum Thema „Sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Lernschwierigkeiten“ abzubilden. In der Diskursanalyse wurden die ausgewählten Fachpublikationen daraufhin untersucht, wie Sexualität verhandelt und in Bezug zu Behinderung gesetzt wird, welche Ursachen für eine nicht erfüllte sexuelle Selbstbestimmung gesehen werden und welche Lösungsangebote in Bezug darauf als angemessen betrachtet werden. 5.2 Ergebnisse der Analyse 5.2.1 Individualisierung von Behinderung Im Ergebnis der Analyse zeigte sich ein eindeutiges Bild in Hinblick auf die Ursachen: Es besteht ein Konsens darüber, dass die Ursa- VHN 1 | 2018 18 JULIA ZINSMEISTER, ANNA-KATHARINA VOGEL Mehrdimensionale Diskriminierungen FACH B E ITR AG chen für die nicht erfüllte sexuelle Selbstbestimmung in der sozialen Umwelt, namentlich in der Tabuisierung, der Angst und Hilflosigkeit der Mitarbeiter/ innen der Behindertenhilfe und der Eltern zu sehen sind, die mit Vorurteilen von Infantilität / Ageschlechtlichkeit / Triebhaftigkeit einhergingen. Daneben wird die behindernde Lebenswelt als Ursache erkannt: die Sozialisation zur Abhängigkeit und Fremdbestimmung etwa durch Isolation, Immobilität, Mangel an Informationsmöglichkeiten und soziale Kontrolle. In Bezug auf die Lösungsperspektiven ließ sich auch ein eindeutiges Muster ablesen: Die Interventionen müssen notwendig individuell auf Menschen mit Lernschwierigkeiten abzielen. Als zentraler Lösungsweg wird die lebenslange Sexualerziehung und Sexualaufklärung empfohlen. Aus den beiden dominanten Aussagen zur Problemstruktur kann ein zentrales Deutungsmuster des Diskurses abgelesen werden, das einem bestimmten Modell von Behinderung entspricht: dem individualisierenden Modell von Behinderung 6 . Vonseiten der Disability Studies, die diesem Modell ein soziales, menschenrechtliches und kulturelles Modell von Behinderung entgegenstellen, wird diese Praxis als Medizinisierung, Pathologisierung und Naturalisierung von Behinderung beschrieben (vgl. Windisch 2014, 29). Die Individualisierung mündet, wie Degener feststellt, in zwei menschenrechtsgefährdende Annahmen: „(1) Behinderte Menschen brauchen vor allem Schonraum und Wohlfahrtspolitik und (2) eine gesundheitliche Beeinträchtigung kann die Menschenrechtsfähigkeit mindern.“ (Degener 2015, 156) Bestätigung findet der Vorwurf der Individualisierung und Pathologisierung auch im Diskurs zur sexuellen Selbstbestimmung in Hinblick auf die verflochtenen Kategorien Behinderung und Sexualität. Das Narrativ einer abweichenden psychosexuellen Entwicklung wird genutzt, um die Sexualität von Menschen mit Behinderung als besonders und andersartig zu markieren und zu reglementieren. Die medizinisch feststellbare intellektuelle Beeinträchtigung bietet hier den Begründungszusammenhang. Ähnliches gilt auch für den Lösungsweg der verordneten Sexualpädagogik: Durch die Annahme, die Sexualität von Menschen mit Lernschwierigkeiten benötige eine gesonderte Behandlung in Form einer konzeptionell auf geistig behinderte Menschen ausgerichteten Sexualpädagogik, wird die Konstruktion einer speziellen Sexualität und damit die Anormalität von Behinderung fortgeschrieben: „In der Konsequenz bedeute dies auch, dass die etablierten Hilfs- und Unterstützungssysteme, deren eigentlicher Sinn es ist, Behinderung entweder direkt abzubauen oder als Hilfeleistungen für andere Systeme zu fungieren, die ihrerseits Behinderung und deren Auswirkung abbauen sollen, somit Teil des Diskurses sind, welcher Behinderung als solches erst erzeugt.“ (Trescher/ Börner 2014, Kap. 4.4) 5.2.2 Das Geschlecht als Leerstelle Wenn es in der heil- und sozialpädagogischen Theorie und Praxis um eine Anerkennung von Sexualität geht, Sexualität zu etwas Normalem werden soll, dann muss gefragt werden, an welcher Normalität sich pädagogisches Denken und Handeln orientiert. Worten und Handlungen liegen Räume des Denkens und Denkbaren zugrunde. Judith Butler spricht von „kultureller Intelligibilität“ (Butler 1991, 39), um zu beschreiben, welche Denkräume in Bezug auf die Geschlechtsidentität durch kulturelle Regulation zulässig bzw. betretbar sind. Welche Denkräume und welches Wissen sind es, die das Sprechen über Sexualität und Behinderung abstecken? Was ist in diesem Zusammenhang intelligibel, d. h. was wird als wirklich und echt angesehen (vgl. Butler 2009, 49)? Welche Prozesse der Enteignung und Aneignung bietet der Diskurs als Ort der kulturellen Regulation (vgl. ebd., 32f.)? VHN 1 | 2018 19 JULIA ZINSMEISTER, ANNA-KATHARINA VOGEL Mehrdimensionale Diskriminierungen FACH B E ITR AG Zur Untersuchung dieser Frage wurden häufig wiederkehrende Aussagen zur sexuellen Selbstbestimmung im Diskurs auf ihre Typizität hin untersucht. Auffallend ist, dass in der Fachliteratur zur sexuellen Selbstbestimmung von Menschen mit Lernschwierigkeiten die Kategorie Geschlecht nur äußerst selten eine Rolle spielt. Diese Leerstelle kann als wiederkehrendes Schweigen gelesen werden und zunächst nur als vieldeutiges Verstummen interpretiert werden. Bei der Analyse bildeten sich zwei dominante Muster ab, die widersprüchlich anmuten: Einerseits wird problematisiert, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten aufgrund fehlender Erfahrungsräume keine geschlechtliche und sexuelle Identität ausbilden können und bei ihrem Versuch häufig auf stereotype Geschlechterrollen zurückgriffen. Andererseits finden sich Zuschreibungsprozesse in Hinblick auf die Kategorie Geschlecht, die eine heteronormative Ordnungsstruktur erkennen lassen. Abgelesen wurde dies durch die in den Texten zu Illustrationszwecken verwendeten Beispiele: Es zeigte sich eine deutliche Tendenz dahingehend, dass die Themen Verhütung, Kinderwunsch, Familiengründung, Verliebtsein, Partnerschaft, Attraktivität, sexualisierte Gewalt, passive Sexualassistenz mit dem Weiblichen verbunden wurden, wohingegen das Thema körperliche Befriedigung, etwa Selbstbefriedigung und aktive Sexualassistenz, dem Männlichen zugeordnet wurde. Signifikant sind auch Zuschreibungen des Geschlechts in Bezug auf gleichgeschlechtliches Begehren. Wenn Homosexualität überhaupt als mögliche Form des Begehrens thematisiert wird (dies ist in weniger als 50 % der Texte des Samples der Fall), so findet lesbisches Begehren dabei keine Berücksichtigung. Homosexualität wird fast ausschließlich männlich konstruiert und zumeist in einem Atemzug mit AIDS, Missbrauch, Zwang, Anormalität genannt. Der Denkraum der Sexualität wird damit restriktiv reguliert: Heterosexualität wird als Norm stabilisiert, homosexuelles Begehren erscheint nicht als intelligibel. Daneben findet sich eine Differenzierung in Hinblick auf die diskriminierende Praxis: während männliche Homosexualität pathologisiert und problematisiert wird, wird weibliche Homosexualität durch Nichtberücksichtigung der Intelligibilität entzogen. Es finden sich also unterschiedliche Disziplinierungspraktiken, die in zweifacher Form dafür sorgen, dass die denk- und lebbaren Beziehungsformen eingeschränkt werden. Innerhalb der Intersektionalitätsforschung werden Zusammenhänge zwischen dem Konzept der Heteronormativität und der Kategorie Behinderung hergestellt: „Heteronormativität … produziert und organisiert nicht nur Männlichkeit, Weiblichkeit und Homosexualität, sondern zugleich auch Formen von Asexualität und Ageschlechtlichkeit - wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise: Während die Hetero-/ Homo-Dichotomie - als Heteronorm - die heterosexuelle Ordnung aufrecht erhält, besteht im Fall von Behinderung die Gefahr, völlig von dieser binären soziokulturellen Organisationsstruktur ausgeschlossen zu werden.“ (Raab 2007, 140f.) 5.3 Zwischenfazit In der Diskursanalyse wurde deutlich, dass auch die sozialberufliche (respektive pädagogische) Theorie und Praxis daran beteiligt ist, dass Normalitätsvorstellungen innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung aufrecht erhalten und damit Ausschließungsprozesse reproduziert werden, denen eigentlich entgegengewirkt werden soll. Ohne eine kritische Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Normen und ohne eine Veränderung der strukturellen Rahmenbedingungen werden Konzepte und Unterstützungsangebote für Menschen mit Beeinträchtigungen zum Thema Liebe, Sex und Partner/ innenschaft VHN 1 | 2018 20 JULIA ZINSMEISTER, ANNA-KATHARINA VOGEL Mehrdimensionale Diskriminierungen FACH B E ITR AG eine Form der Sonderinstitutionalisierung bleiben, welche die Kategorie Behinderung als anormal konstruiert (Ableismus) und damit zugleich die hegemonialen Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit stabilisiert. Wer versucht, sozialer Ungleichheit und Ausschließung alleine durch individualisierende Problembearbeitung zu begegnen, trägt eher zur Stabilisierung bestehender Verhältnisse als zu deren Überwindung bei. 6 Gleichstellungspolitische, rechtliche und fachliche Konsequenzen Wie kann den unterschiedlichen Lebenslagen und Bedarfen von Menschen in der Gesetzgebung, Verwaltung und sozialen Praxis besser Rechnung getragen und zugleich die Individualisierung und Naturalisierung von sozialer Ungleichheit vermieden werden? Dies gilt es auf allen gesellschaftlichen Ebenen systematisch zu beleuchten und dabei möglichst viele Diskriminierungsformen und ihre Wechselwirkungen in den Blick zu nehmen. Als gesellschaftliche Ebenen lassen sich mit Walgenbach grob soziale Strukturen, Institutionen, soziale Praktiken, symbolische Ordnungssysteme und Subjektformationen unterscheiden (Walgenbach 2016, 25), die ihrerseits, wie oben dargelegt, miteinander verwoben sind. Zu den sozialen Strukturen gehören Gesetze, politische Programme und Maßnahmen sowie die öffentliche Infrastruktur. Gleichheitsrechtlich relevant sind auch die privatwirtschaftlichen Produktionsverhältnisse, die gesellschaftliche Aufteilung der Verantwortung und Ressourcen für Fürsorge und Sorge (Care), die Bedingungen des Waren- und Dienstleistungssektors sowie die Strukturen und Angebote der freien Wohlfahrtspflege. In ihrer Analyse der Rechtsordnung und anderer sozialer Strukturen suchen die Rechtswissenschaften im engen Austausch mit den Sozialwissenschaften seit Jahren den Ausweg aus dem „Differenzdilemma“: Werden bei der Prüfung einer Diskriminierung wegen des Geschlechts oder des besonderen Bedürfnisses eines behinderten Kindes nicht gerade jene essentialisierenden Stereotype reproduziert, die mithilfe des Rechts überwunden werden sollen? Baer bezeichnet den Bezug auf Gruppen und Gruppenrechte („rechtlicher Gruppismus“) gar als zentrales Problem des Rechts gegen Diskriminierung. Es homogenisiere Menschen, die einiges, aber nie alles gemeinsam haben (Baer 2010, 26). 6.1 Zum Entwurf eines anti-kategorialen Antidiskriminierungsrechts In den feministischen Rechtswissenschaften werden aktuell vor allem anti-kategoriale Auswege aus dem gleichheitsrechtlichen „Dilemma der Differenz“ diskutiert (Baer 2010; Dern u. a. 2010; Lembke/ Liebscher 2014; Weinbach 2014). Der Diskriminierungsschutz soll nicht länger von bestimmten zugeschriebenen Persönlichkeitsmerkmalen oder der Zugehörigkeit zu einer konstruierten sozialen Gruppe abhängig gemacht werden, sondern die essentialisierende und homogenisierende Zuordnung zu einer Gruppe als Problem adressiert und die mit den Normalitätskonstruktionen einhergehenden Ausschlussdynamiken als rechtlicher Ansatzpunkt gewählt werden. In ihren „Überlegungen zu einem postkategorialen Antidiskriminierungsrecht“ schlagen Liebscher u. a. vor, Diskriminierung in den Gesetzesbegründungen als „Praxen von Stigmatisierung, Benachteiligung und Ausgrenzung von gesellschaftlicher Teilhabe, Teilnahme und Anerkennung, die auf gesellschaftlich erzeugten Gruppen beruhen“ zu definieren (Liebscher u. a. 2012, 218). In Bezug auf die Diskriminierungskategorie „Rasse“ ist dies VHN 1 | 2018 21 JULIA ZINSMEISTER, ANNA-KATHARINA VOGEL Mehrdimensionale Diskriminierungen FACH B E ITR AG ohne Weiteres möglich, weil dieser Begriff sowieso nur in antirassistischer Intention Verwendung finden kann und darf. Auch in Bezug auf das Geschlecht sind keine Lebenssachverhalte denkbar, die es gleichheitsrechtlich erfordern, gesetzlich auf das Geschlecht oder die Sexualität einer individuellen Person zu rekurrieren. Es dürfte genügen, Menschen ein Recht auf Geschlechtsfreiheit zuzugestehen, d. h. die Freiheit, selbst über ihre geschlechtliche und sexuelle Identität zu bestimmen (Büchler/ Cottier 2005). Behinderungen hingegen entstehen nach dem aktuell vorherrschenden Verständnis in der negativen Wechselwirkung aus der individuellen Beeinträchtigung einer Person und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren. Die Umwelt lässt sich daher nicht vollständig standarisiert und losgelöst vom Individuum barrierefrei (um-)gestalten, es bedarf weiterhin individueller Anpassungen an die Bedarfe einzelner Personen und ggf. auch persönlicher Assistenz und damit einer Bezugnahme auf deren individuelle Fähigkeiten bzw. Funktionseinschränkungen (Zinsmeister 2017 b). Mag die Suche nach geeigneten Wegen aus der Essentialisierungsfalle darum in Bezug auf die Kategorie „Behinderung“ noch am Anfang stehen, so gibt es doch auch hier konkrete Vorschläge zur Verbesserung des Rechtsschutzes vor (mehrdimensionaler) Diskriminierung. 6.2 Gesetzgebung In Deutschland haben mehrere Bundesländer begonnen, entsprechend der Vorgabe des Art. 4 Abs. 1 a) und b) UN-BRK ihre gesamte Landesgesetzgebung im Wege einer sog. abstrakten Normenkontrolle systematisch daraufhin zu überprüfen, ob die einzelnen Regelungen mit der UN-BRK vereinbar sind. Dabei soll auch den Intersektionen Rechnung getragen werden. Zu fragen ist dabei aber nicht länger, welche „besonderen Bedürfnisse“ behinderte Frauen oder Kinder haben, sondern welches Normalitätsverständnis zur Aussonderung ihrer Bedürfnisse und Erfahrungen führt: „Wer sind eigentlich ‚wir Normalen‘? “ (Waldschmidt 2010 a, 19) Um die hegemoniale Geschlechterordnung zu durchbrechen, muss die Förderung aller Menschen mit Beeinträchtigungen verstärkt auch in denjenigen Lebensbereichen gesichert und ausgebaut werden, die in unserem Kulturkreis weiblich konnotiert sind: Partnerschaft, Elternschaft und Fürsorge. Anders als die Bundesländer begnügt sich die deutsche Bundesregierung gegenwärtig noch mit der Überprüfung und Anpassung einzelner Gesetze. In ihrem Nationalen Aktionsplan 2.0 hat sie sich u. a. die Reform des Betreuungsrechts auf die Agenda geschrieben (BMAS 2016). Sie prüft in diesem Rahmen gegenwärtig, ob § 1905 BGB (s. Anmerkung 3) ersatzlos gestrichen und die Sterilisation von Menschen ohne deren persönliche Einwilligung damit ausnahmslos verboten werden soll. Es ist allerdings nicht zu erwarten, dass die Zahl der Sterilisationen an Frauen mit Behinderungen hierdurch nennenswert sinken wird, denn die meisten dieser Eingriffe - dies zeigt der Vergleich der Dunkelfeldforschung mit der Justizstatistik - werden in Deutschland ohne gerichtliches Verfahren durchgeführt. Viele Frauen mit Lernschwierigkeiten willigen in die Eingriffe ein, ohne ausreichend über die Tragweite des Eingriffs und mögliche Alternativen informiert worden zu sein. Viele wurden durch Fehlinformationen von Angehörigen, Ärzt/ innen und Betreuer/ innen dazu bewegt, einzuwilligen (vgl. Zinsmeister 2012). Sterilisationen, die an Menschen ohne deren wirksame Einwilligung oder gerichtliche Genehmigung vorgenommen werden, stellen eine schwere Körperverletzung dar, die in Deutschland mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren bestraft wird (§ 226 StGB). Auch die Verordnung der Dreimonats-Spritze stößt in vielen Fällen auf rechtliche Bedenken (Zinsmeister 2012). Faktisch sind die Betroffenen VHN 1 | 2018 22 JULIA ZINSMEISTER, ANNA-KATHARINA VOGEL Mehrdimensionale Diskriminierungen FACH B E ITR AG jedoch aufgrund des kollusiven Zusammenwirkens ihrer Unterstützer/ innen rechtlich schutzlos gestellt. Die Staaten haben zudem gemäß Art. 19 UN- BRK sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen nicht länger gegen ihren Wunsch und Willen auf das Leben in einem Heim oder einer sonstigen Besonderen Wohnform verwiesen werden können mit der Begründung, dass ihre sozialstaatliche Versorgung in einer eigenen Wohnung unverhältnismäßig teurer sei. In besonderen Wohnformen können sie weder ihre Mitbewohner noch die Assistenz frei wählen. Das geringe Maß an Privatsphäre und Autonomie im Alltag erschwert es den Bewohner/ innen auch, Sexualität alleine oder mit anderen zu leben. 6.3 Rechtsverwirklichung in der Praxis Um behinderten Menschen eine ausreichende Privatsphäre zu sichern und ihnen zu ermöglichen, mit einer Partner/ in oder sonstigen selbstgewählten Bezugsperson zusammenzuziehen und/ oder eine Familie zu gründen, bedarf es aber auch mehr barrierefreien Wohnraums und der Sicherung von staatlichen Hilfen zur Unterstützung behinderter Eltern bei der Versorgung und Erziehung ihrer Kinder (zur „Begleiteten Elternschaft“ und „Elternassistenz“: Deutscher Verein 2015). Wir haben aufgezeigt, dass es zudem in sozialen Einrichtungen und Diensten und der Justiz noch viele einstellungsbedingte Barrieren abzubauen gilt, die Menschen mit Beeinträchtigungen an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern (lit e Präambel UN-BRK). In Art. 8 UN-BRK haben sich die Vertragsstaaten verpflichtet, bewusstseinsbildende Maßnahmen zur gezielten Förderung der Achtung der Rechte, Würde, Fähigkeiten und des gesellschaftlichen Beitrags von Menschen mit Behinderung in der gesamten Gesellschaft zu ergreifen, um die Barrieren sukzessive abzubauen und um Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder des Alters von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen zu bekämpfen. Die kritische Analyse des professionellen Umgangs mit den sozialen Beziehungen und der Sexualität von Menschen mit Beeinträchtigungen bildet hierbei einen wichtigen Ansatzpunkt. Empfehlenswert wären hierzu nicht nur Weiterbildungsangebote und Mitarbeiter/ innenschulungen, sondern auch eine stärkere Berücksichtigung der sexuellen und reproduktiven Rechte in der Qualitätsentwicklung im Betreuten Wohnen. Empfehlenswert wäre es zudem, die medizinischen Leitlinien zur Empfängnisverhütung um Hinweise zum rechtswahrenden Umgang mit behinderten Patient/ innen zu erweitern. Auch die in Art. 13 UN-BRK verankerte Pflicht zur Schulung der Polizei- und Justizvertreter/ innen kann dazu beitragen, Mythen zu Sexualität und Behinderung im Strafverfahren zu überwinden. Zusammenfassend ist festzustellen, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten in der Sozialen Arbeit, in der Medizin und der Justiz eine spezielle Sexualität zugeschrieben und damit die Anormalität von Behinderung fortgeschrieben wird. In der fachtheoretischen Auseinandersetzung und der Ratgeberliteratur zum Thema Sexualität und geistige Behinderung wird die Bedeutung der Kategorie Geschlecht nur selten reflektiert. Der Denkraum wird heteronormativ verengt, sodass homosexuelles Begehren keine oder eine problematisierende Erwähnung findet. Dies führt zur sozialen Ausschließung von Menschen mit Lernschwierigkeiten, denen die Pädagogik bislang vor allem durch individuelle Fördermaßnahmen zu begegnen versucht. Es gilt jedoch auch, der strukturellen, mehrdimensionalen Diskriminierung Rechnung zu tragen und dem Recht von Menschen mit Lernschwierigkeiten auf Privatheit und sexuelle Selbstbestimmung auch in Betreuten VHN 1 | 2018 23 JULIA ZINSMEISTER, ANNA-KATHARINA VOGEL Mehrdimensionale Diskriminierungen FACH B E ITR AG Wohnformen Geltung zu verschaffen, aktive Maßnahmen zum Schutz ihrer reproduktiven Freiheit und Gesundheit zu treffen, sie verstärkt in ihrer Autonomie zu fördern und sicherzustellen, dass Grenzverletzungen und Gewalt vorgebeugt wird und gewaltbetroffene Menschen mit Behinderungen einen gleichberechtigten Zugang zu psychosozialer Hilfe und zur Justiz erhalten. Anmerkungen 1 Vgl. auch Präambel der UN-BRK Buchstaben p - s 2 In Anerkennung des Rechts auf Selbstdefinition folgen wir der Forderung von ‚Mensch zuerst e.V.‘ und bezeichnen Menschen, die als geistig behindert diagnostiziert wurden, als Menschen mit Lernschwierigkeiten. 3 § 1905 BGB ermöglicht unter engen Voraussetzungen die Sterilisation von einwilligungsunfähigen Menschen auf der Grundlage der ersetzenden Entscheidung rechtlicher Betreuer/ innen und mit Genehmigung des Gerichts. 4 Schröttle, M.: Sonderauswertung „Reproduktion“ 2012 (unveröffentlicht) 5 Heteronormativität wird als umfassende gesellschaftliche Norm und Ordnungsprinzip verstanden, die Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit naturalisiert (vgl. Wagenknecht 2007). 6 Unter der Kennzeichnung „individualisierendes Modell“ wird ein in der Untersuchung spezifisches Argumentationsmuster benannt, das sich an die kritische Perspektive der Disability Studies (vgl. Waldschmidt 2010 b, 42) anlehnt, jedoch nicht uneingeschränkt mit dieser gleichsetzen lässt. Literatur Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2010): Gemeinsamer Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und der in ihrem Zuständigkeitsbereich betroffenen Beauftragten der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages. Bundestags-Drucksache 17/ 4325, 9 Baer, S. (2010): Chancen und Risiken Positiver Maßnahmen: Grundprobleme des Antidiskriminierungsrechts und drei Orientierungen für die Zukunft. In: Heinrich Böll Stiftung (Hrsg.): Positive Maßnahmen. Von Antidiskriminierung zu Diversity. Dossier, 11 -20. Online: https: / / heimatkunde.boell.de/ sites/ default/ files/ dos sier_positive_massnahmen.pdf, 3. 8. 2017 Baer, S.; Bittner, M.; Göttsche, A. L. (2010): Mehrdimensionale Diskriminierung. Begriffe, Theorien und juristische Analyse, Teilexpertise. 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