Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2018.art09d
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Rezension: Zoeke, Barbara (2017): Die Stunde der Spezialisten. Roman
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Christian Mürner
Zoeke, Barbara (2017): Die Stunde der Spezialisten. Roman Berlin: Die Andere Bibliothek. 294 S., € 42,–
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VHN 1 | 2018 87 REZE NSION E N Zoeke, Barbara (2017): Die Stunde der Spezialisten. Roman Berlin: Die Andere Bibliothek. 294 S., € 42,- 400.000 kranke und behinderte Menschen wurden ab 1934 gegen ihren Willen sterilisiert und 200.000 in Heil- und Pflegeeinrichtungen ermordet. Dieses Verbrechen im Spezialbereich der Psychiatrie unter der Herrschaft der Nationalsozialisten kam lange nicht zur Sprache. Erst später wurden einige wenige Biografien der misshandelten und ermordeten Personen recherchiert. Die meisten bleiben verschollen und unbekannt, namenlose Opfer. Kann Fiktion, z. B. ein Roman, hier eine Möglichkeit bieten, die desolate Situation konkret wahrnehmbar zu machen? In „Die Stunde der Spezialisten“ von Barbara Zoeke, Schriftstellerin und Psychologin in Berlin, wirkt alles wie historische Realität. Das Buch ist aber als Roman gekennzeichnet. Die „handelnden Personen“ werden im Anhang genannt, einige sind fiktive Figuren, andere authentisch. Was bedeutet das? Die literarische Darstellung erfasst durch die narrative Intensität den Sachverhalt und beglaubigt ihn durch die Lektüre. Ein dem Roman vorweggestelltes Motto lautet: „Der Erinnerung Namen geben“ (Saul Friedländer). Die tragische Hauptrolle des Romans spielt Max Koenig, Althistoriker in Leipzig. Bei ihm wird 1940 Chorea Huntington diagnostiziert. Oberschwester Rosemarie sagt ihm: „Sie hat der schwarze Gast erreicht, die unheilbare Krankheit, die mehr oder weniger still vom Körper Besitz nimmt. Hier hieß sie früher erblicher Veitstanz …“ (S. 25) Sein Vater, Notar in Berlin, bringt sich 1927 zusammen mit seiner Frau um. Der Sohn will nichts davon wissen, bis er selbst in die Heilstätte Wittenau kommt. Sein akademischer Lehrer, Gustaf Clampe, emigriert und warnt Koenig: „Max, warten Sie nicht zu lange; sie werden das Unvorstellbare tun.“ (S. 12) „Hitlers Spezialisten, sie sprechen von geistig Toten, von Ballastexistenzen.“ (S. 31) Diese stehen nun vor seinem Bett, verordnen eine „neue Behandlung“, Insulinschocks. Koenigs „Aussprache folgte nicht mehr den Vorgaben seines Hirns“ (S. 34). Er ist wehrlos. Er begreift, dass er sein Leben verliert. Auch sein „silberner Drehbleistift“ springt ihm immer wieder aus der Hand. Die Briefe an seine Frau schreibt ein Mitpatient, der Studienrat Carl Hohein, dem die Diagnose Schizophrenie gestellt wurde. Koenig rät seiner Frau, zusammen mit ihrer Tochter nach Rom zu den Schwiegereltern auszuwandern. Koenig wird in einem grauen Bus nach Bernburg an der Saale verlegt. VHN 1 | 2018 88 REZE NSION E N Koenigs Antipode heißt Dr. Friedel Lerbe. Er trägt unter dem weißen Arztkittel die schwarze SS- Uniform. Er organisiert „still und reibungslos“ als Chefarzt den „schmerzlosen, sanften Tod für die unheilbar Kranken“ in Bernburg. (S. 155/ S. 164) Dazu erarbeitet er eine „Liste von passenden Grunderkrankungen“ und „möglichen Todesursachen“ (S. 195). Seine Freundin Anja verlässt ihn, nachdem sie von den Aktivitäten erfährt. „Also ist es wahr, was man gelegentlich hört. Dass ihr sie alle umbringt. Dass ihr hohe Ideale mit höchster Gemeinheit verbindet.“ (S. 236) 1948 erhängt sich Dr. Friedel Lerbe im Gefängnis. Christian Döring, der Herausgeber der „Anderen Bibliothek“, bemerkt, dass man so etwas Auswegloses „eigentlich nicht veröffentlichen möchte“, allerdings hätte es dann den „Zivilisationsbruch von 1933 bis 1945“ nicht geben dürfen. Die Publikation von Barbara Zoekes Roman verdeutlicht die Vorteile der literarischen Imagination. Erzählt werden denkbare Lebensgeschichten anhand der lange verschwiegenen, nun veranschaulichten Fakten. Dr. phil. Christian Mürner D-22529 Hamburg DOI 10.2378/ vhn2018.art09d
