Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2018.art28d
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2018
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Rezension: Roelcke, Volker (2017): Vom Menschen in der Medizin. Für eine kulturwissenschaftlich kompetente Heilkunde
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Michael Bentfeld
Christian Mürner
Roelcke, Volker (2017): Vom Menschen in der Medizin. Für eine kulturwissenschaftlich kompetente Heilkunde Gießen: Psychosozial-Verlag. 199 S., € 22,90
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VHN 3 | 2018 263 REZE NSION E N Roelcke, Volker (2017): Vom Menschen in der Medizin. Für eine kulturwissenschaftlich kompetente Heilkunde Gießen: Psychosozial-Verlag. 199 S., € 22,90 In bedrückender Intensität beschreibt Volker Roelcke Dynamik und Deutungsmonopol von Vertretern der Biomedizin, die ihre gesellschaftliche Einfluss-Sphäre auszudehnen versuchen. Die seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wieder einsetzende Biologisierung der Medizin, mit dem Versprechen einer in Zukunft leidensfreien Gesellschaft, herstellbar mithilfe von Humangenetik und molekularer Medizin, ist nach VHN 3 | 2018 264 REZE NSION E N Roelcke ein Beispiel für die „illustrierende Funktion der Geschichte. Charakteristische Handlungsweisen und damit verbundene Rationalitäten medizinischer Forscher sowie Wertepräferenzen und -konflikte lassen sich immer wieder finden.“ (S. 113) Aktuell drängen sich Assoziationen an Rationalitäten und Wertepräferenzen der NS-Medizin auf („Nationalsozialismus ist angewandte Biologie“). „Diese Forschungsprogramme (der Mediziner in der Zeit des NS) hätten unter den Bedingungen eines funktionierenden demokratischen Rechtsstaates nicht realisiert werden können.“ (S. 131) Die daraus folgende Frage: Wie ist es um diese Bedingungen bestellt, wenn eine ausschließlich naturwissenschaftlich orientierte Medizin schon mit dem zitierten Versprechen sich erfolgreich etablieren kann? Eine kritische Antwort gibt Roelcke anhand von kultur- und medizingeschichtlichen Übersichtskapiteln zu den Themen Schmerz, Tod, Tiermodell, Forschung und Professionalität. Der Schmerz ist eine subjektive Erfahrung, er bezieht sich somit nicht so sehr auf die Krankheit als auf das Kranksein. Um den Schmerz zu erfassen, braucht es „narrative Kompetenz“ (S. 34). Dazu bringt Roelcke das Beispiel eines Eisenbahnschaffners (S. 33), der seine Schmerztherapie gewissermaßen wie das Kohle Nachschütten bei einer Dampflokomotive deutet. Der Tod gilt als „naturgegebenes Ereignis“ (S. 41), der „physische Tod“, das „Erlöschen der Körperfunktionen“ wird verknüpft mit einer „sozialen Beglaubigung dieses Ereignisses“ (S. 42). Roelcke notiert: „In einer konsequent kulturwissenschaftlichen Perspektive ist das Hirntodkonzept eine wissenschaftlich autorisierte Rechtfertigung für eine Verhaltensnorm (die ‚Spende‘ von Leben) in einem für unsere Gegenwartsgesellschaft charakteristischen Todesritual.“ (S. 52f.) Das Tiermodell gilt als „privilegierter Ort und Weg der Wissensproduktion zu menschlichen Krankheiten“ (S. 56). Die medizinische Forschung und entsprechende Experimente unterliegen von vorneherein ethischen Grenzen, sind zumindest auf die Zustimmung der Patienten angewiesen. Hier nimmt Roelke Bezug auf die buchpreiswürdige literarisch-autobiografische Darstellung David Wagners und seiner Erkrankung und Lebertransplantation. Die Professionalität und die „Autonomie und Verhaltensregulation der Ärzteschaft“ (S. 121) steht in vielfältigen Beziehungen zu staatlichen, gesundheitspolitischen Anordnungen und auch zu Patienten- und Angehörigengruppen. Menschen in der Medizin sind nicht nur Patienten, sondern auch Ärzte. Volker Roelke hat sich während seines gesamten beruflichen Lebens mit der Medizingeschichte, medizinischer Ethnologie, Ethik und Theorie auseinandergesetzt. Sein Buch ist ein Versuch, Ergebnisse seiner Forschungen über die akademische Sphäre hinaus gesellschaftlich wirksam werden zu lassen, weil er dies für dringlich und notwendig hält. Dr. med. Michael Bentfeld, D-22589 Hamburg Dr. phil. Christian Mürner, D-22529 Hamburg DOI 10.2378/ vhn2018.art28d
