eJournals Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 87/4

Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete
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0017-9655
Ernst Reinhardt Verlag, GmbH & Co. KG München
10.2378/vhn2018.art38d
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2018
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Rezension: Jantzen, Wolfgang (2018): Sozialisation und Behinderung. Studien zu Sozialwissenschaftlichen Grundfragen der Behindertenpädagogik

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2018
Ulrike Schildmann
Jantzen, Wolfgang (2018): Sozialisation und Behinderung. Studien zu Sozialwissenschaftlichen Grundfragen der Behindertenpädagogik Unveränderte, um zwei aktuelle Vorworte erweiterte Neuauflage der Ausgabe von 1974 Gießen: Psychosozial-Verlag. 232 S., € 29,90 Die (unveränderte) Neuauflage einer behindertenpädagogischen Monografie nach 44 Jahren lässt aufhorchen! Was war in den 1970er Jahren gerade an diesem Buch so besonders, dass es viele Jahre später, 2018, wieder aufgelegt wird, und was macht es heute noch lesenswert? [...]
5_087_2018_4_0008
VHN 4 | 2018 341 REZE NSION E N Jantzen, Wolfgang (2018): Sozialisation und Behinderung. Studien zu sozialwissenschaftlichen Grundfragen der Behindertenpädagogik Unveränderte, um zwei aktuelle Vorworte erweiterte Neuauflage der Ausgabe von 1974 Gießen: Psychosozial-Verlag. 232 S., € 29,90 Die (unveränderte) Neuauflage einer behindertenpädagogischen Monografie nach 44 Jahren lässt aufhorchen! Was war in den 1970er Jahren gerade an diesem Buch so besonders, dass es viele Jahre später, 2018, wieder aufgelegt wird, und was macht es heute noch lesenswert? Wolfgang Jantzen legte schon in den 70er Jahren, also einige Jahre vor der allseits beachteten ersten sozial orientierten Behinderungsdefinition der Weltgesundheitsorganisation (WHO 1980: International Classification of Impairment, Disability and Handicap/ ICIDH), eine sozialwissenschaftliche Definition von Behinderung vor, die alle damals vorherrschenden, medizinisch orientierten Konstruktionen von Behinderung infrage stellte. Damit verbunden war die wissenschaftliche Perspektive, die soziale Lage behinderter Menschen nicht länger, wie damals noch üblich, aus individuellen (bedauernswerten) Schicksalen hervorgegangen zu verstehen, sondern als gesellschaftliche Konstruktion im Rahmen kapitalistischer Produktionsverhältnisse, die Jantzen vor dem Hintergrund der Marxschen Theorie analysierte. Damit begründete er in Deutschland die „materialistische Behindertenpädagogik“. Auf dieser Basis wurde der Diskurs über Behinderung anschlussfähig an andere damals dominante Diskurse: a) an die politische Auseinandersetzung von Studentenbewegung und Frauenbewegung mit der Kapitalismuskritik von Karl Marx ebenso wie b) an die Begründung einer kritischen Pädagogik und sozialwissenschaftlich orientierten Allgemeinen Erziehungswissenschaft. Dieses Verdienst ist der „Kritischen Sonderpädagogik“ der 1970er Jahre zuzuschreiben, zu der Jantzen mit seinem Buch „Sozialisation und Behinderung“ wesentlich beitrug. Sein Buch enthielt (und enthält auch in der neuen Auflage) unterschiedliche Perspektiven auf Behinderung: eine, wie im Titel vermerkt, sozialisationstheoretische, eine sozialhistorische, eine soziologisch-klassentheoretische sowie eine sozialpsychologische, in der soziale Einstellungen gegenüber behinderten Menschen analysiert und kritisch reflektiert werden. An allen Fragestellungen arbeitete Jantzen intensiv weiter, jedoch legte er die Basis dazu in besagtem Buch über „Sozialisation und Behinderung“. Was aber macht dieses Buch heute noch lesenswert? Aus Sicht der Rezensentin ist es vor allem als zeitgeschichtliches Dokument anzusehen, welches am Beginn einer (bis heute gerechnet) ca. 50-jährigen Geschichte des politischen Kampfes um die gesellschaftliche Emanzipation behinderter Menschen und um deren gleichberechtigte Teilhabe und Teilnahme an allen gesellschaftlich relevanten Vorgängen stand und deren Debatten beeinflusste (vgl. dazu die Entwicklungen der Behindertenbewegung ebenso wie der integrativen/ inklusiven Pädagogik seit den 70er/ 80er Jahren). Die Lektüre dieses Buches ist dazu geeignet, politische Gefahren rings um das Thema „Behinderung“ wissenschaftlich zu reflektieren und das zeitgeschichtliche Bewusstsein für alle offensichtlichen und verdeckten Missverhältnisse zwischen Normalität und Behinderung zu schärfen. Dies zu betonen hält die Rezensentin vor allem deshalb für angebracht, weil die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit sonderpädagogischer Theoriebildung - einschließlich der Geschichte der eigenen Disziplin - an manchen Ausbildungsorten mit sonderpädagogischer Aufgabenstellung inzwischen vernachlässigt zu werden scheint. Zweifelsfrei auch lesenswert und wissenschaftlich weiterführend sind die beiden Vorworte der Neuauflage: von Peter Rödler (S. VII - XIII) und von Wolfgang Jantzen selbst (S. XV - XXII). Sie regen nochmals auf ihre je eigene Art dazu an, die zeitgeschichtlichen Hintergründe des gesellschaftlichen Umgangs mit Behinderung für unsere heutigen behinderten- und inklusionspädagogischen Diskurse zu reflektieren und positiv zu nutzen. Prof. Dr. Ulrike Schildmann D-10707 Berlin DOI 10.2378/ vhn2018.art38d